Das gemeinsame Ziel
- Sunrise 1/1979 Sonderheft: Mensch im Kosmos: Kosmos im Menschen
Wenn wir die Fähigkeit hätten, uns immer mehr nach innen, zu den Tiefen unseres Wesens zurückzuziehen, bis wir nur noch ein Lichtfunken wären, und uns im nächsten Augenblick entlang unseres eigenen Radius nach außen auszudehnen, über den Erdkreis hinaus zur Sonne und zu den Sternen und noch weiter zum eigentlichen Herzen des Seins - würden wir dann nicht mit Gewißheit erkennen, daß alles eine Einheit ist; daß wir Menschen, trotz der beklagenswerten Verworrenheit unseres Lebens und trotz der Bürden, die unsere Herzen bedrücken, weder einsame Vertriebene aus einem verlorenen Paradies noch Fremde in einem feindlichen Universum sind? Äußere Unterschiede bestehen zwar, aber zwischen Milbe und Mensch, zwischen dem Sandkorn und dem Universum gibt es im innersten Wesen keinen Unterschied. Alle sind göttliche Saat.
Die 1. Sunrise-Ausgabe dieses Jahres (Sunrise Special Issue, November 1977) befaßt sich mit dem Thema Mensch: "Der Mensch im Kosmos - der Kosmos im Menschen". Unsere Autoren waren an keine starre Themenplanung gebunden. Sie konnten einen beliebigen Aspekt des menschlichen Bewußtseins oder Charakters der vergangenen oder zukünftigen Evolution für ihre Untersuchung auswählen. Das Ergebnis ist eine Mischung von Themen, die aus dem theosophischen Schatz der Vergangenheit und Gegenwart entnommen wurde, denn dort sind in oft klaren Darstellungen auffallende Wahrheiten erzählt und nacherzählt zu finden. Zur Unterstreichung unseres Themas zeigt das Titelbild die Erde, nicht wie wir sie sehen, sondern wie sie vom Weltall aus von Menschen in einer Raumkapsel wahrgenommen wird, aus Regionen, die hoch genug sind, unseren Planeten aus der Perspektive als eine wunderschöne blau-weiß schimmernde Kugel sichtbar werden zu lassen, die in mitternächtlicher Schwärze schwebt und sich majestätisch in Harmonie mit der größeren Bahn der Sonne bewegt, unter deren Einfluß alle planetarischen Kinder leben, sich entwickeln und ihre zyklische Entfaltung durchmachen.
"In ihm leben, weben und sind wir; ... denn wir sind seines Geschlechts": Eine Vorstellung, die den Athenern zur Zeit von Paulus so vertraut war, wie jenen, die heute eifrig die "Ganzheit" des Menschen - Geist, Seele und Körper - und die Natur erforschen. Sicherlich sind wir in unserer innersten Essenz Kinder des Göttlichen. Aber wie sollen wir den Weg zum inneren - oder äußeren - Licht wiederentdecken? Es genügt nicht, Gott auf seinen Himmel zu beschränken und zu hoffen, daß seine Herrlichkeit die Menschen irgendwie erfüllen wird. Die Menschen müssen wissen, wie man sich mit dem Vater, dem Urheber von allem, mit ihrem Gott im Inneren vereinigt. Dieser Drang nach mystischer Vereinigung bildet den Kern des beständigen Strebens der Sucher aller Länder. Tatsächlich bewegte dieses Ideal die Denker, Künstler und Kabbalisten der Renaissance so sehr, daß kaum ein Buch in jener Zeit geschrieben wurde, das nicht sorgfältig ausgearbeitete Darstellungen der 'Treppe' zu Gott enthielt, über die die göttliche Ausstrahlung nicht nur zur Erde herabsteigen und den Menschen durchdringen konnte, sondern über die auch seine Seele zu ihrer gottähnlichen Gemeinschaft aufzusteigen vermochte.
Wir können uns mit Recht auf zweierlei Art eine Vorstellung von uns machen: Als einen wesentlichen Teil des großen Wesens, mit dem wir ein kosmisches Schicksal teilen - "der Mensch im Kosmos" -, und ebenso als ein Mikro-Universum, eine Kopie des Kosmos in Miniatur, in der selbst unser physischer Körper seine zodiakalen, solaren und planetarischen Gegenstücke hat - "der Kosmos im Menschen". Vielleicht gewann Emerson aus letzterem seine Eingebung, als er die bewegenden Zeilen schrieb:
Die Welt ballt sich in einem Tautropfen zusammen. Das Mikroskop kann kein winziges Lebewesen entdecken, das weniger vollkommen wäre, nur weil es klein ist ... Die wahre Lehre von der Allgegenwärtigkeit ist, daß Gott mit allen seinen Teilen in jedem Moos und in jeder Spinnwebe wiedererscheint. Die Kraft des Universums bringt es fertig, sich selbst in jeden Punkt zu projizieren.
- Essay on "Compensation"
Können wir daraus nicht schließen, daß das Makro-Wesen, in dem wir uns entfalten, Teile seiner Essenz in jedem Bewußtseinspunkt innerhalb seines Systems verkörpert und in mineralischen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebensformen Gestalt annimmt? Eine überwältigende Vorstellung, und doch - wenn wir darüber nachdenken, mögen wir fragen, warum es so sein könnte? Aus welchem Grunde sollte Gott in Moos, Spinnwebe, Stein und Schmetterling wiedererscheinen? Die Natur hat ihre Absichten, und Gesetz regiert in ihrem ganzen Reich. Vielleicht gibt es ein doppeltes Ziel: Das Sammeln notwendiger Erfahrungen und Selbstausdruck, Selbstentfaltung des innewohnenden Potentials. Wie vollkommen stimmen Zweck und Wirkung überein: Während der kosmische Geist oder Gott durch seine Einhüllung in irdische Körper die erforderliche Erfahrung erwirbt, erwacht gleichzeitig und Schritt für Schritt das Selbstbewußtsein eines jeden Licht-Punktes innerhalb seines Bereiches - dem Universum.
Bezogen auf unsere menschliche Ebene ist jeder von uns in einzigartiger Weise er selbst, und der innerste Kern eines jeden ist mit dem Siegel seines essentiellen Charakters geprägt, ganz gleich, ob wir uns als Samen des Logos betrachten oder uns vorstellen, nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen zu sein, oder meinen, uns als die karmische Frucht unseres Willens bewußt zu entwickeln.
Es wurde gesagt, die Initiatoren des universalen Dramas, aus welchem wir vor vielen Zyklen hervorgingen, würden nicht nur die Quintessenz ihrer während langer Zeitalter gesammelten Erfahrungen bewahren, sondern noch heute ein vollständiges Erinnerungsvermögen an das gesamte frühere Wissen über die Welten, Sphären und Wesenheiten besitzen, für die sie sorgen. Können wir da nicht annehmen, daß in der innersten Tiefe unseres eigenen Wesens eine unsichtbare, jedoch dauerhafte Essenz vorhanden sein muß, die alle Erkenntnisse unserer individuellen bisherigen Erfahrungen im Keim aufbewahrt? Logik und Intuition überzeugen uns gleichermaßen, daß dieser Gedanke stimmt und mehr noch, daß er zu unserem heutigen Leben in Beziehung steht. Die Natur selbst bestätigt, daß es keine einzige Frucht, kein einziges Kraut oder Gras gibt, welches nicht seinesgleichen erzeugt, so wie es die Genesis sagt, "in denen ihr Samen ist je nach ihrer Art." Der riesige Mammutbaum und die winzige Wüstenblume haben jede für sich ihr einzigartiges geometrisches Muster, ihre Möglichkeiten endlosen Wachstums, aber nur der ihnen innewohnenden Qualität entsprechend. Und warum? Weil diese angeborene Essenz durch unzählige Tode und Geburten unversehrt bleibt.
Eine solche Auffassung gibt dem menschlichen Dasein Sinn und Bedeutung. Dennoch weiß jeder, daß wir als Zivilisation und als Privatpersonen sowohl in weltlichen Angelegenheiten als auch in unserem inneren Leben Führung bitter benötigen. Woran liegt es, daß wir uns unserer göttlichen Wurzel so wenig bewußt sind? Wir haben die heilige Brücke zwischen dem kosmischen Wesen, dem in uns lebenden inneren Gott und unserem gewöhnlichen Selbst vergessen. Machte uns der erwachende Verstand, der die Unwissenheit beendete, vorübergehend blind für unsere Verbindung mit der göttlichen Welt? Wurden uns keine Schlüssel hinterlassen, die uns in unserer Zeit dienen könnten?
Seltsamerweise besteht die Tatsache, daß es überall um uns herum Schlüssel in einer Fülle gibt, die selten größer war als heute. Aber wir müssen sie suchen, und wenn wir sie gefunden haben, dann müssen wir bereit sein, die seit Zeitaltern erprobten Regeln für ihren Gebrauch zu beachten. Die Natur fordert für jedes preisgegebene Geheimnis Gleichwertiges an Selbstüberwindung; doch Geduld und unablässige Hingabe an das Vorhaben bringen ihren Lohn. Jede Bemühung, jede Nachlässigkeit, wird von uns selbst aufgeschrieben, keine wird übersehen - alles wird augenblicklich dem gesamten persönlichen Karma hinzugefügt, um in Weisheit umgeformt zu werden, wenn wir nur unserer "unsterblichen Sehnsucht" bis zu ihrer Quelle folgen.
Aus dieser Perspektive gesehen, brauchen wir uns niemals für unbedeutend zu halten und niemals zu glauben, daß eine heroische Anstrengung kaum von Wert sei; denn jedem Menschen ist die kosmische Aufgabe übertragen, seine vollen karmischen Möglichkeiten zu entfalten und damit anderen auf ihrem Wege zu helfen, sich selbst so zu erkennen, wie sie wirklich sind, als Partner in einem Unternehmen von großer Bedeutung. Doch lassen Sie uns alles nicht zu schwer nehmen, indem wir Humor und Anmut in das tägliche Leben einfließen lassen. Noch nach 2400 Jahren ist das Gebet des Sokrates, das er spontan vor seinem Freund Phaedrus sprach, beispielgebend:
Oh lieber Pan und all ihr andren Götter hier,
verleiht mir Schönheit in der innren Seele,
und der äußre und der innre Mensch mögen eins sein.
Oh könnte ich den Weisen für wohlhabend halten,
und könnte ich nur die Menge Goldes haben,
wie sie ein gezügelter Mensch und ein Weiser
tragen und ertragen kann. - Noch mehr?
Ich glaube, das Gebet ist genug für mich.