Der Adel des okkulten Lebens
- Sunrise 1/1978
Okkultismus! Dieses Wort wird im Fernsehen und im Radio, in Zeitungen und Zeitschriften verwendet. Die Menschen sprechen davon, die kulturellen Bestrebungen benützen es. Für Hunderte von Büchern und moderne Filme dient es als Thema. Es ist ein Wort, das für viele Dinge gebraucht wird; nur wenige verstehen jedoch seinen wahren Sinn, woher es stammt - oder wie man das Leben führt, das damit empfohlen wird.
"Okkult" kommt vom Lateinischen occultus und bedeutet verborgen, eingeschlossen oder geheim. Ursprünglich bezog es sich auf die Wissenschaften und wurde von den frühen wissenschaftlichen Philosophen benutzt, um beschreiben zu können, was Wissenschaft ist. Francis Bacon ist dafür ein bemerkenswertes Beispiel. Heute spricht man in der Astronomie von einem Planeten, der für gewöhnlich sichtbar ist, aber zeitweilig durch den Mond verdeckt wird, er sei in Verdunkelung (Occultation). Es ist das gleiche wie bei einem Stern, der in den Sonnenstrahlen 'verschwindet', wenn er in die Nähe der Sonne kommt. Mit diesem Ausdruck bezeichnet man auch eine Linie, die in die Konstruktion einer Figur eingezeichnet wird, aber nicht zur fertigen Zeichnung gehört. Die beiden Beispiele gehören, obgleich sie sich nicht direkt auf das vorliegende Thema beziehen, dennoch dazu, weil sie eine graphische Darstellung oder eine Vorstellung von der Wurzel des Wortes geben: Es ist das, was sich jenseits des Bereichs der gewöhnlichen Wahrnehmung befindet.
Natürlich hängen noch andere bekannte Begriffe mit diesem Wort zusammen, die auf Magie, Wahrsagen oder andere Handlungen hinweisen und die man verwendet oder die man kennt, wenn es sich um unerklärliche, geheimnisvolle oder übernatürliche Dinge handelt. Leider begegnet man dieser Auslegung am häufigsten. Aus diesem Grunde werden viele ernsthafte Sucher vor dem Okkultismus zurückschrecken, weil sie annehmen, es sei etwas Oberflächliches, ja sogar etwas Betrügerisches. Manche fürchten dieses Wort sogar.
Es wäre doch wirklich ein schlechtes Urteil, wollte man einen sehr guten Wein nach seinem Bodensatz beurteilen; jedoch gerade das haben wir in bezug auf das Okkulte getan. Der Psychismus, der von der Aura und den Astralkörpern fasziniert wird und sich auf diese konzentriert; Mantras, bei denen der Ton benutzt wird, um zum gewünschten Ziel zu gelangen; Zeremonien und Riten, mit denen die unsichtbaren Kräfte der Natur manipuliert werden; und die Benutzung der sexuellen Energien, die, in andere Bahnen gelenkt, zur Beschleunigung des Wachstums dienen sollen - das alles sind Teile des Okkulten, aber sie sind der niedrigste Teil. So wie einige den Trester eines auserlesenen Weines verfälschen und dann diesen mit dem Etikett des ursprünglichen Weines verkaufen und dabei profitieren, genauso ist es auch mit dem Abschaum des Okkultismus. Er glänzt und funkelt und verleitet versteckt damit zu Selbstsucht und Habgier. In unserer modernen Welt, die mit dem Suchen nach dem Selbst überflutet wird, ist es kein Wunder, daß es so viele Menschen gibt, die durch den Glanz dieser Verführung eingefangen werden. Kann uns da die Jagd nach spiritueller Selbstsucht in Staunen versetzen?
Okkultismus ist aber in seinem umfassenderen Aspekt etwas viel Großartigeres! Er ist Lebenskunst und Verständnis, mit der Natur zu leben, nicht sie zu verfälschen. Er ist Erkennen der Seele, ihr einziges großes Gebot, so zu sein, wie es das Delphische Orakel ausdrückt: "Erkenne Dich selbst!" Nicht das egoistische Selbst, das seine Kleinheit verherrlichen will, soll erkannt werden, denn nur im Lichte des Unpersönlichen, nur in der Weisheit unseres Höheren Selbst können wir unsere Einheit mit den diesseitigen und jenseitigen Erscheinungen des Lebens entdecken. Das ist die Weisheit, wonach jene, die selbstlos und reinen Herzens sind, streben. Daran hat das Großartige im Okkultismus Anteil! Es ist wahr, das Okkulte befaßt sich mit verborgenen Dingen; aber was ist verborgen? In unserer zweifachen Natur ist es unser Höheres Selbst, das in Verdunkelung (Okkultation) ist; zeitweilig verdunkelt durch unser gröberes, mehr tierisches Selbst. Das, worauf wir selbst und auch das Universum gebaut sind, ist die unsichtbare Realität. Wie eine geheimnisvolle Linie, die in eine Figur eingezeichnet, aber unserem Auge nicht sichtbar ist, findet die Göttlichkeit ihr Heim im Herzen unseres Seins.
Auf dem wahren okkulten Weg werden weder gewisse Sätze im Verlaufe des Tages wiederholt, noch wird der Körper für kürzere oder längere Zeit in diese oder jene Stellung gebracht. Es gibt keine Beschwörungen, keine Zauberformeln. Wenn doch die Tatsache endlich bekannt würde, daß Okkultes auch nach außen hin ganz unspektakulär ist! Im Gegensatz zu vielen anderen Lebenssystemen mag der Okkultismus äußerlich ohne System erscheinen. Er ist insofern schwer zu erklären, weil das, was wirklich ist, nicht gesagt zu werden braucht. Der echte Okkultist legt Nachdruck darauf, die vor ihm liegende Pflicht zu erfüllen; nicht bemerkt zu werden ist eines der Ziele. Wie schwierig ist das für unsere egozentrischen Bestrebungen. Es gibt keine speziellen Lehrer, die darüber sprechen; keine Zusammenkünfte für Reinigungen, um das Ego zu befriedigen; kein frühes Aufstehen am Morgen und keine späten Abendmeditationen, um darüber bei Parties oder in einer Gruppe von Freunden sprechen zu können. Nicht beachtet zu werden und die vor uns liegende Pflicht zu erfüllen, sind die ersten Erfordernisse.
Und noch mehr, es werden keinerlei Versprechungen gemacht: für Wachstum, für Erleuchtung, ein Guru oder Lehrer zu werden. Wie schwierig ist das, besonders für Amerikaner, die ein Volk des Augenblicks sind, eine Gesellschaft, die alles unverzüglich, alles gleich will. Selbst für diejenigen, die zwanzig, dreißig, vierzig Jahre warten können - und wie wenige sind das -, ist es schwer zu verstehen, daß selbst für dann nichts versprochen wird. Weltlich gesehen kann es sein, daß der Okkultist anfängt, Blätter zusammenzurechen, und dabei stirbt, und nur wenige werden vielleicht wissen, daß er überhaupt existiert hat. Niemand behauptet, daß das leicht sein würde.
Wo sich nach außenhin nichts ereignet, öffnet sich im Inneren die Blüte. Hier in den Herzen und Gemütern der Menschen beginnt das Wachstum. Hier in den Regionen der Liebe und der geistigen Vorstellung beginnt die Disziplin. Wenn man meint, es sei schwierig, weil es kein sichtbares Zeichen gibt, welches die Welt erkennen kann, dann muß man nur warten. Im Inneren finden die härtesten Kämpfe statt. Doch so, wie die Motten vom Licht angezogen werden, so kann auch der ernsthafte Kandidat nicht widerstehen; tief im Inneren zwingt es ihn, und wenn er bereit ist, dann beginnt er mit dem ersten kleinen Schritt die längste Reise.
Wer sich für diesen Lebensweg entscheidet, wählt keine Religion. Es spielt keine Rolle, ob er Christ, Buddhist, Jude, Mohammedaner oder Anhänger von Zoroaster ist. Die okkulte Weisheit bereichert jeden Glauben, sie gibt dem Menschen praktisch nicht nur die Schlüssel zu seinem Glauben, sondern gleichzeitig auch zu anderen Glaubensrichtungen. Ob er bei seiner Religionsgemeinschaft bleibt oder sie verläßt, ist unwesentlich. Eines ist jedoch gewiß, durch seine größere Einsicht wird seine Vorstellung von Bruderschaft gestärkt worden sein. Mit der Zeit wird die Wahrheit für ihn die höchste Religion werden, denn nichts steht höher.
Der Okkultist erforscht die Natur und kommt dabei mit dem Rhythmus des großen Herzens des Universums in Berührung. Die Belange der in Not Befindlichen sind seine Anliegen. Er ist der Christ der Christen, der Buddhist der Buddhisten. Er lebt nach seinen höchsten Idealen und Vorstellungen und hält es nicht für nötig, der Göttlichkeit einen Namen zu geben. Wenn der Christ das Göttliche personifizieren will, dann soll er es tun! Wenn der Buddhist es nicht als persönliches Wesen sieht, sondern als ein Göttliches 'Überall', auch gut! Wenn es für den Hindu viele Götter sind, die die Natur erfüllen, so ist das ausgezeichnet! Der Name tut nichts zur Sache. Viele Menschen haben in ihrem Glauben und auf ihre eigene Weise die göttliche Kraft erfahren, die ist und vor der alle Menschen sich bescheiden.
Wenn der wahre Okkultist die ihn umgebende Harmonie versteht, indem er sorgfältig nachdenkt und die Natur studiert, wenn er sich seiner täglichen Verantwortlichkeiten, die ihm heilig sind, bewußt ist, dann sieht er sich als unbedeutender Teil eines großartigen Ganzen, das in alle Ewigkeit existiert. Er beobachtet die größeren und kleineren Zyklen, an denen alle lebenden Wesen teilhaben, und steht dadurch fest in den Zeiten der Belastung. Voller Vertrauen hält er aus; doch dieses Vertrauen kommt nicht von ihm selbst, sondern aus der Erkenntnis, daß er im Kern seines Wesens die Manifestation des inneren und äußeren Universums im kleinen ist. Mit diesem Wissen geht er durchs Leben und tut seine Pflicht, wobei er sich bemüht, seine höchsten Ideale zu verwirklichen. Unbeachtet möchte er so leben, daß er den wirklichen Adel des okkulten Lebens widerspiegelt.