Der Mensch hat viele Selbste
- Sunrise 3/1977
Die menschliche Natur ist unergründlich. Wir suchen in unserem Inneren und versuchen zu verstehen, wer wir sind, was unser wahres Selbst ist und wo es zu finden ist. Bald entdecken wir, daß wir nicht nur eine Einheit sind, sondern eine Vielheit. Es kann vorkommen, daß uns plötzlich eine unbekannte Macht überfällt, in uns einströmt, Besitz von uns ergreift und für eine gewisse Zeit jegliche Einsicht unmöglich macht. Auf diese Weise werden wir von Leidenschaften, vom Verstand oder vom selbstsüchtigen Ich beherrscht. Dabei benehmen wir uns ganz so, als sei diese Seite unserer Persönlichkeit der wirkliche Mensch. Das hält so lange an, bis ein Strahl von einer anderen Seite unserer Natur ein durchdringendes Licht in den Raum unseres alltäglichen Bewußtseins wirft. Dann ist der Bann gebrochen, und wir sehen deutlich den trügerischen Glanz, unsere irregeleiteten Überlegungen, die unbesonnenen Handlungen.
In verschiedenen Epochen hat der Mensch sich selbst auf vielerlei Art betrachtet. Fast alle Betrachtungsweisen waren nützlich und basierten auf Erfahrungen und Beobachtungen. Die einfachste Beobachtung von allen ist vielleicht, daß jeder eine Dualität ist, mit einem höheren und einem niederen Selbst. Das ist vielleicht etwas zu vereinfacht, doch die gegenwärtige wissenschaftliche Ansicht ist - zumindest in mancher Beziehung - noch mehr begrenzt, denn sie läßt nur einen Aspekt gelten, und alle anderen Seiten unseres inneren Lebens werden als physiologische und psychologische Nebenprodukte betrachtet.
Die christliche Lehre geht etwas weiter und teilt den Menschen in drei Bestandteile ein: Körper, Seele und Geist, wobei Seele und Geist oft verwechselt werden. Wenn man diese Anschauung richtig versteht, dann sieht man sofort, daß der Mensch einen göttlichen und spirituellen Kern hat, einen mittleren oder menschlichen Teil und einen Körper, durch den diese inneren Kräfte und Energien wirken. Die Seele oder der menschliche Teil bestand für viele alte Völker aus zwei Teilen, weil die Seele Elemente besitzt, die einerseits mit dem Geist und andererseits mit der gröberen Seite der menschlichen Natur verbunden sind. Am Tage scheint das Bewußtsein des Menschen zwischen diesen beiden hin und her zu schwanken. In einem Augenblick ist es von intuitiven Vorstellungen und großmütigen Entschlüssen erfüllt, und im anderen Moment öffnet es sich Gedanken und Gefühlen, die rein ichbezogen oder materiell sind.
Und dennoch gibt es unzählige Fälle, wo die menschliche Natur spontan beiseite geschoben wird, man könnte auch sagen, für die Impulse des Höheren Selbst durchlässig wird. Diese Impulse können sich über eine ganze Skala erstrecken. Es kann sich um plötzliche Einfälle handeln, es kann aber auch eine lebenslange Überschattung des Genius sein. Die reinsten Verkörperungen dieser Art sind wohl jene hervorragenden Gestalten in der Geschichte, bei denen die Seele so rein war, daß die Weisheit und das Mitleid des spirituellen Teils fast ohne Hindernis hindurchströmen konnten. Solcherart waren die Buddhas und Christusgestalten.
Diese verhältnismäßig einfache Einteilung kann sogar als Grundlage für eine völlig neue Wissenschaft der Psychologie dienen. Diese Wissenschaft würde sehr dazu beitragen, viele Erscheinungen zu erklären, die bisher von den Fachleuten irreführend oder unbefriedigend gedeutet wurden. Für eine genauere Analyse wäre allerdings eine eingehendere Erklärung der inneren und äußeren Struktur des Menschen nötig. Eine solche Beschreibung kann man in mehreren alten Philosophien und Religionen finden, zum Beispiel in der jüdischen Kabbalah oder in verschiedenen Systemen Indiens, Chinas, Ägyptens und anderen. Viele Menschen, die im materiellen Denken gefangen sind, beurteilen die metaphysischen Vorstellungen der gelehrten Denker früherer Zeiten als Phantasie oder Aberglaube, oder sie schieben sie zumindest als nicht den Tatsachen entsprechend beiseite. Man muß jedoch nur um sich schauen, um zu sehen, wie dringend diese Anschauungen in einer Welt gebraucht werden, in der die Materie zum Ursprung aller Wesen und aller Dinge gemacht worden ist - eine Annahme, die höchst fragwürdig erscheint.
Die Meinung unter den alten Philosophen war genau gegenteilig. Sie lehrten: Da Geist und Materie eine immerwährende Dualität sind, so ist es der Geist, der durch die Materie wirkt und sich in abermyriaden Formen ausdrückt, ausgehend von den Atomen bis zum Menschen und weiter zu den Sonnen und Milchstraßensystemen. Alle diese Formen waren für sie vergänglich, verglichen mit dem göttlich-intelligenten Impuls, der sie hervorbrachte. Da die Gottheit nicht unmittelbar auf die Materie einwirken kann, umgibt sie sich mit einem Schleier und bringt eine spirituelle Ausstrahlung hervor, die sich in immer niedrigere Gewänder einhüllt. So geht es weiter und weiter, bis der Prozeß der Verkörperung abgeschlossen ist und alle Wesenheiten auf den verschiedenen materiellen Ebenen sich entfaltet haben. Ist dann der Kreislauf der materiellen Erfahrung durchlaufen, folgt das, was man Tod nennt. Es ist ein Einrollen oder ein Zurückziehen aller Gruppen von Lebewesen und eine allmähliche Auflösung ihrer körperlichen und der anderen Ausdrucksformen. Die Zyklen, welche die intensiv pulsierende Verkörperung der Atome einschließen, unterscheiden sich zeitlich sehr von den ungeheuer langen Perioden, die das Leben eines Universums umfaßt. Der gleiche Vorgang kann allgemein angenommen werden, wenn man die Verkörperung eines Atoms, eines Kosmos oder die menschliche Reinkarnation beschreibt. Weil dem so ist, hat man oftmals den Aufbau des menschlichen Wesens so dargestellt, daß er mit einer göttlichen Einheit oder Monade beginnt. Diese göttliche Monade überschattet eine spirituelle Wesenheit, die ihrerseits wieder einen Einfluß höherer Art auf ein menschliches oder mentales Selbst ausübt. Darunter dachte man sich die menschlich-tierische Seele, die gefühlsbetonte Persönlichkeit; und darunter wiederum das, was man manchmal als vital-astrale Seele bezeichnet. Alles zusammen drückt sich durch den Körper aus. Diese Beschreibung ist nur der gröbste Umriß einer Vorstellung, die sehr ausführlich in der antiken Religion und Philosophie besprochen wird, und zwar sowohl im Osten wie im Westen als auch in den zeitgenössischen theosophischen Schriften.
Dieses Gedankengut wurde von den Alten nicht als müßige Spekulation angesehen; für sie war es so real, wie die Dinge dieser Welt für uns greifbar sind. Sie erklärten alle Erscheinungen von diesem Standpunkt aus. Für sie gab es nichts Lebloses und nichts Automatisches. Sie verehrten das wundersame Wesen, dessen Herz die Sonne ist. Sie huldigten unserer lebendigen Erde und allen ihren Geschöpfen. Sie versuchten, das höhere, edlere Selbst anzurufen, das in jeder Persönlichkeit wohnt, und versuchten, die niedrigeren 'Selbste' zu erziehen und zu beherrschen, die ein wertvolles Instrument sind, wenn sie in der rechten Weise geschult werden. Doch wenn man ihnen erlaubt, ungehindert ihre Wege zu gehen, können sie Tyrannen sein, die zu jeder Bestialität und zu jedem Verbrechen fähig sind; nicht weil diese niederen Selbste ihrem Wesen nach wirklich schlecht sind, sondern weil im menschlichen Leben die menschliche Monade die herrschende Kraft ist (oder sein sollte); und wenn Einflüsse einer niederen Art regieren dürfen, dann sind Gewalt, Chaos und Unvernunft die Folge.
Wie gesagt, die alten Philosophen früherer Epochen glaubten, daß nichts 'automatisch' im modernen Sinne des Wortes sei. Automatismus setzt lebloses, mechanisches Tun voraus, und ihre Grundüberzeugung war, daß alle Geschöpfe und Dinge der Natur beseelt sind. Diese Vorstellung hatte man auch in bezug auf jede menschliche Tätigkeit, physikalisch, psychologisch, geistig und spirituell. Die physiologischen Vorgänge, wie zum Beispiel der Schlag des Herzens, die Verdauung, die Atmung, werden für gewöhnlich als Teile des körperlichen Mechanismus angesehen. Nimmt man aber an, daß alle Erscheinungen auf Tätigkeiten von Lebewesen zurückzuführen sind, einzeln oder gemeinsam, dann kann man nur folgern, daß körperliche Funktionen von der tatsächlichen Anwesenheit unserer eigenen niederen Selbste herrühren müssen, deren Entwicklungsebene in den Tätigkeiten der verschiedenen Organe unseres Körpers liegen muß. Der englische Dichter und klassische Gelehrte A. E. Housman bestätigt diesen alten Standpunkt intuitiv, wenn er fragt:
Ich lege mich nieder und schlummre
Und nehme jeden Morgen mein Leben wieder auf.
Wem gehört das nächtliche Atmen,
Das den Menschen am Leben hält?
Es ist nicht schwierig, sich die bedeutenden Erkenntnisse vorzustellen, die durch jahrhundertelanges Beobachten und Nachdenken gewonnen werden konnten und auch wirklich gewonnen wurden. Wenn die ungeheueren Hilfsmittel der modernen Technik diesen zeitlosen Schlüsseln angepaßt werden könnten, nicht so sehr, um diese Erkenntnisse zu bestätigen, sondern mehr, um die Wahrheit, die sie wohl enthalten, herauszufinden, dann könnten aufsehenerregende Erfolge zustande kommen. Die psychosomatischen Zusammenhänge (Wechselbeziehungen von Körper und Geist) liegen auf der Hand, aber was noch wichtiger ist: der Wechsel von einer materialistischen zu einer spirituell begründeten Weltanschauung würde in ungeahnter Weise unser Verständnis für die Krankheit, ihre Ursache und ihre Heilung erweitern und zur Lösung der uralten Frage beitragen: Was ist Gesundheit, und wie kann sie erhalten werden? Möglicherweise könnte von den hervorragenden Heilmitteln, die die Wissenschaft entwickelt hat, ein vernünftigerer Gebrauch gemacht werden, wenn das Zusammenwirken der verschiedenen Selbste und Zentren im Menschen beschrieben und ihre Wechselwirkung genauer verstanden würde.
Ein weiterer Aspekt dieses Themas würde eröffnet, wenn man die Idee der Reinkarnation mit in das Bild brächte. Von Krankheiten wird angenommen, daß sie manchmal vererbbar sind und manchmal nicht. Vom Standpunkt der sich entwickelnden Seele müssen jedoch alle Leiden, überhaupt alle Ereignisse und Zustände, ob gut oder böse, im wahren Sinne des Wortes vererbt sein, d. h. vom Individuum selbst verursacht, wenn nicht in diesem, so in irgendeinem früheren Leben. Die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten, die Schwäche und Stärke unseres Charakters, unsere Talente, unsere guten und die schlechten Seiten, all dies hat seinen Ursprung in den Taten und Gedanken unserer früheren Leben. Es kann nicht anders sein, denn wir können heute nur das sein, zu dem wir uns selbst in unseren früheren Existenzen gemacht haben. Sonst müßten wir, um unsere gegenwärtige Stellung erklären zu können, Zuflucht zu Kunstgriffen, wie Göttliches Eingreifen oder Launen des Zufalls, nehmen.
Die positiven Seiten dieser Vorstellung sind erhebend oder könnten es zumindest sein. Wenn sich die Menschheit als Ganzes bewußt wäre, daß jedes menschliche Wesen ein werdender Gott ist, ein Wesen, das von einem Leben zum anderen auf dem Pfad des ständigen Wachstums und der schrittweisen Vollendung sät und erntet - dann müßte sich der ganze Verlauf der Zivilisation notwendigerweise ändern. Die Ethik, die jetzt eine nebelhafte, von Menschen verfaßte Gesetzesvorschrift ist, würde als Ausdruck kosmischer Gesetze erkannt werden, die auf menschlicher Ebene wirken. Sie würde ebensowenig geleugnet werden wie die Stärke der Schwungkraft und die Nässe des Regens. Die Rückwirkung vom inneren auf das äußere Leben könnte unmittelbar und im einzelnen gedeutet werden. Die Leidenden hätten Aussicht auf geänderte Umstände in zukünftigen Leben, und diejenigen, die sich an Überfluß und Gesundheit 'erfreuen', würden allmählich erkennen, daß ihre Pflichten gegenüber den anderen, als Teilen der großen Pilgerschar von Seelen, eine Gegebenheit ist, die alle falschen Unterscheidungen von Rasse und Religion aufhebt.