Weder groß noch klein
- Sunrise 3/1977
Es war zur Zeit der Herbstüberschwemmungen. Alle Bäche ergossen sich in den Strom, dessen schlammiger Wasserlauf anschwoll. Die Ufer traten so weit zurück, daß es unmöglich war, eine Kuh von einem Pferd zu unterscheiden.
Da lachte der Flußgeist aus Freude darüber, daß alle Schönheit der Erde bei ihm versammelt war. Er trieb mit dem Strom nach Osten, bis er das Meer erreichte. Als er dort wieder nach Osten schaute und keine Grenze für die Wellen sah, änderte sich seine Stimmung, und als er so über die weite Fläche starrte, seufzte er und sagte zum Geist des Meeres: "Ein allgemein bekanntes Sprichwort sagt, daß derjenige, der nur einen Teil der Wahrheit gehört hat, glaubt, daß niemand ihm gleicht. So einer bin ich.
Wenn ich früher hörte, wie die Menschen die Gelehrsamkeit des Konfuzius herabsetzten oder das Heldentum von Poh I. unterschätzten, glaubte ich es nicht. Aber jetzt, da ich deine Unerschöpflichkeit sehe - wehe mir, hätte ich nicht deinen Wohnsitz erreicht, so wäre ich für immer eine Zielscheibe des Spottes für jene geblieben, die mehr erleuchtet sind!"
Darauf antwortete der Geist des Meeres: "Du kannst einem Frosch im Brunnen - der Kreatur einer begrenzteren Sphäre - nichts vom Meer sagen. Du kannst zu einem Sommerinsekt - der Kreatur einer Jahreszeit - nicht vom Eis sprechen. Du kannst zu einem Pädagogen nicht von TAO sprechen; sein geistiger Horizont ist zu begrenzt. Aber nun, da du aus deiner engen Sphäre herausgekommen bist und das große Meer gesehen hast, kennst du deine eigene Unwichtigkeit, und ich kann zu dir über große Grundwahrheiten sprechen.
Unter dem Himmelsgewölbe gibt es kein Gewässer, das größer ist als das Meer. Alle Flüsse strömen unaufhörlich in das Meer, und dennoch fließt es nicht über. Ständig fließt Wasser ab, und dennoch ist es nie leer. Frühling und Sommer bringen keine Änderung. Überschwemmungen und Trockenheiten sind ebenfalls unbekannt. Und daher ist es den Flüssen und Bächen unendlich überlegen - obgleich ich nicht wagen würde, damit zu prahlen, denn meine Form erhalte ich vom Weltall, meine Lebenskraft von Yin und Yang. Im Weltall bin ich nur ein kleiner Stein oder ein kleiner Baum auf einem großen Berg. Und da ich mir meiner eigenen Bedeutungslosigkeit bewußt bin, was gibt es da für mich zu prahlen?
Sind die vier Meere im Vergleich zum Universum nicht wie Pfützen in einem Moor? Ist das Mittlere Reich für den es umgebenden Ozean nicht wie ein Unkrautsamen in einem Kornspeicher? Von all den Myriaden erschaffener Dinge ist der Mensch nur eines. Und von allen, die das Land bewohnen, von den Früchten der Erde leben und in Wagen und Schiffen herumfahren, ist ein einzelner Mensch nur einer. Ist er nicht - im Vergleich mit der ganzen Schöpfung - wie die Spitze eines Haares auf dem Fell eines Pferdes?
Die Aufeinanderfolge der fünf Herrscher, die Streitigkeiten der drei Könige, die Sorgen des Menschenfreundes, die Mühen des Verwalters sind nur das und nichts mehr. Poh I. lehnte den Thron um des Ruhmes willen ab. Konfuzius hielt Reden, um den Ruf der Gelehrsamkeit zu erlangen. Ähnelte ihre Selbstüberschätzung nicht auch sehr der deinen in bezug auf das Wasser?"
"Sehr wohl", antwortete der Geist des Flusses. "Soll ich dann das Weltall als groß und die Spitze eines Haares als klein ansehen?"
"Durchaus nicht", sagte der Geist des Meeres. "Dimensionen sind grenzenlos. Zeit ist endlos. Verhältnisse sind nicht unveränderlich. Bedingungen sind nicht endgültig. Deshalb schaut der weise Mensch in das Weltall und sieht weder das Kleine als zu klein, noch das Große als zu viel an, denn er weiß, daß es für Dimensionen keine Grenzen gibt. Er schaut zurück in die Vergangenheit und ist nicht bekümmert über das, was weit entfernt liegt, noch freut er sich über das, was nahe ist, denn er weiß, daß die Zeit kein Ende hat. Er erforscht die Fülle und den Verfall, und er freut sich weder über den Erfolg, noch beklagt er sich, wenn er scheitert; denn er weiß, daß die Verhältnisse nicht unveränderlich sind. Derjenige, der den Plan des Daseins klar versteht, freut sich nicht über das Leben, noch begehrt er auf beim Tode; denn er weiß, daß die Zustände nicht endgültig sind.
Was der Mensch weiß, ist nicht zu vergleichen mit dem, was er nicht weiß. Die Zeitspanne seiner Existenz ist nicht zu vergleichen mit der Zeitspanne seiner Nichtexistenz. Mit dem Kleinen sich bemühen, um das Große auszuschöpfen, führt ihn unvermeidlich in Verwirrung, und er erreicht sein Ziel nicht. Wie sollte daher jemand fähig sein zu sagen, daß die Spitze eines Haares das non plus ultra an Kleinheit ist oder das Universum das non plus ultra an Größe?"
"Die heutigen Dialektiker", antwortete der Flußgeist, "sagen alle, daß das unendlich Kleine keine Form hat und daß das unendlich [grenzenlose] Große jenseits allen Ermessens ist. Stimmt das?"
"Wenn wir Größe im Vergleich mit dem, was klein ist, betrachten", sagte der Geist des Meeres, "so gibt es dafür keine Grenze; und wenn wir Kleinheit betrachten im Vergleich zu dem, was groß ist, so überschreitet das unsere Sicht. Das unendlich Kleine ist eine Unterteilung des Kleinen; das Kolossale ist eine Ausdehnung des Großen. In diesem Sinne fallen beide in verschiedene Kategorien.
Sowohl kleine wie große Dinge müssen Form besitzen. Der Verstand kann sich weder ein Ding ohne Form vorstellen, noch eine Form mit unbegrenzten Dimensionen ersinnen. Die Größe von irgend etwas kann ein Gesprächsthema sein, oder die Kleinheit von irgend etwas kann im Geiste wahrgenommen werden. Aber das, was weder Gesprächsthema sein noch sich im Geiste vorgestellt werden kann, kann weder groß noch klein sein.
Daher wird der wirklich große Mensch, obgleich er andere nicht verletzt, den Ruhm für Mitleid und Nächstenliebe nicht für sich in Anspruch nehmen. Er sucht keinen Gewinn, aber er verachtet seine Anhänger nicht, die dies tun. Er kämpft nicht um Reichtum, aber er rechnet es sich nicht als Verdienst an, daß er sich nicht damit befaßt. Er verlangt von keinem Menschen Hilfe, rechnet aber sein Selbstvertrauen nicht als Verdienst an, noch verachtet er diejenigen, welche Bevorzugung durch Freunde suchen. Er benimmt sich anders als die allgemeine Masse, aber er nimmt nicht den Ruhm für sich in Anspruch, daß er etwas Außergewöhnliches ist. Auch verachtet er andere nicht als Heuchler, weil diese mit der allgemeinen Masse gehen. Weltliche Ränge und Wohlstand sind für ihn kein Grund zur Freude; weltliche Strafen und Schande kein Grund für Ehrlosigkeit. Er weiß, daß Positiv und Negativ nicht unterschieden, daß Groß und Klein nicht definiert werden können.
Ich hörte sagen, der Mensch des TAO genieße kein Ansehen; vollkommene Tugend erwirbt nichts; der wahrhaft große Mensch verleugnet sich selbst - das ist das Höchste der Selbstdisziplin."
Aus dem Chinesischen übersetzt von Herbert A. Giles.