Genetische Geheimnisse und Widersprüche
- Sunrise 3/1977
Ein Zuhörer, der dem melodischen Gesang lauschte, der durch die Abendluft klang, fragte einen Wissenschaftler nach der Entstehung des Klanges. Der Wissenschaftler hatte schnell eine Antwort bereit und lieferte eine lange Erklärung, in der Worte wie Schwingungsbewegung, Tonhöhe, Intensität, Frequenz, wellenförmige Resonanz, Oszillation, Dezibel und Bewegungs- und Strahlungsimpedanz vorkamen. Im ganzen Schwall dieser hochtrabenden Beschreibungen sagte der Wissenschaftler jedoch nichts, was auf einen möglichen Zusammenhang der Musik mit der Sopranistin hinwies, die singend am offenen Fenster stand.
Manchmal fällt mir dieses Erlebnis ein, wenn ich höre, welche Lösungen die Wissenschaftler für bestimmte grundlegende Probleme anbieten. Als Beispiel sei die Vererbungslehre herangezogen. Diese stellt eine der Grundlagen des menschlichen Lebens, ja, allen Lebens dar. Das Verständnis dafür beeinflußt viele Motivationen und unsere wirkliche Vorstellung über die menschliche Persönlichkeit sehr stark. Die Genetik ist ebenfalls ein Zweig, dessen Forschungsergebnisse in verschiedener Weise ebenso gesichert und so solide fundiert sind, wie überhaupt alles in der Wissenschaft. Nichtsdestoweniger gibt es krasse Interpretationslücken, die genauso offensichtlich sind, wie die unseres imaginären Wissenschaftlers bei seiner Analyse der lieblichen nächtlichen Töne.
Ich möchte betonen, daß ich die Arbeiten der Genetiker sehr schätze, die mit unermüdlichem Geschick bis zu den Wurzeln der physischen Vererbung vorgedrungen sind. Die Kenntnis der sechsundvierzig Chromosomen, die in jeder Zelle des menschlichen Körpers, außer in den Keimzellen, enthalten sind, und die Kenntnis der Existenz unglaublich kleiner Gene in den Chromosomen, deren geschätzte Größe bis zu einem Viertelmillionstel Millimeter hinabreicht, stellt einen Sieg moderner Forschung dar. Und das Wunder wurde noch vergrößert durch die Entdeckung der Desoxyribonucleinsäure oder DNS, eines Riesenmoleküls, das in den Kernchromosomen praktisch aller lebenden Zellen gefunden wurde; das nicht nur die Bildung der Proteine überall im Körper regelt, sondern auch die genetischen Informationen, die Instruktionen übertragen soll, die den Nachkommen befähigen, die biologischen Grundlagen der Eltern zu verdoppeln.
Es sollte jedoch erwähnt werden, daß nicht alle Wissenschaftler mit der Anschauung über die DNS übereinstimmen. In einem Bericht der 155. Nationalen Zusammenkunft der American Chemical Society (Amerikanischen Chemischen Gesellschaft), die im April 1968 in San Francisco stattfand und über die David Perlman im San Francisco Chronicle berichtete, wurde von Dr. Barry Commoner, dem Präsidenten der botanischen Abteilung an der Washington Universität in St. Louis, eine abweichende Ansicht vorgetragen.
Dr. Commoner behauptete, wie er es oft tut, daß das "Doppelhelix"-Modell der DNS, wie es ursprünglich von Nobelpreisträger James D. Watson und Francis Crick entdeckt wurde, für die spezifischen genetischen Charakteristiken des lebenden Organismus nicht verantwortlich sei.
Wie Dr. Commoner es sieht, ist der Schlüssel zur Vererbung keinesfalls eine Anhäufung chemischer Stoffe: "Die ererbten Besonderheiten des Lebens stammen aus der Komplexität des Lebens selbst."
Aber ob das über die DNS Gesagte nun zutrifft oder nicht, es kamen neue Untersuchungen hinzu, die in keiner Weise die Mendelschen Ergebnisse in bezug auf dominante und rezessive Eigenschaften ersetzten, uns aber die Grundlage für eine weitreichende und vielversprechende neue Vererbungswissenschaft bieten.
Die Genetiker sind, wie alle Wissenschaftler, jedoch Menschen ihrer Zeit; auch sie können sich dem unbewußten Einfluß der vorherrschenden Vorstellungen nicht entziehen, und diese Betrachtungsweise beruht auf einem eingewurzelten Materialismus, der es für gegeben ansieht, daß die letzten Ursachen in den Zuständen und Bewegungen der Materie zu suchen seien und daß alle Dinge von genau festgelegten mathematischen und mechanischen Gesetzen regiert würden. Dieser Glaube - ich gebrauche dieses Wort ganz bewußt - hat sich im Falle der Physik als falsch erwiesen; in der Biologie dominiert er jedoch weiterhin, nachdem er von Descartes und verschiedenen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts genährt wurde und auch von Darwin mit seiner Theorie der natürlichen Auslese, die den Ursprung der Arten durch das Wirken mechanischer und automatischer Kräfte erklärt. Die deterministische und materialistische Haltung, die zwar die Verdienste der genetischen Entdeckungen nicht schmälert, ist somit bestimmend für die Interpretation, die dadurch eine Richtung nahm, die in mancher Hinsicht die Ergebnisse wieder entwertete.
Wir dürfen nicht vergessen, daß sich die gesamten Schlußfolgerungen notwendigerweise auf physikalische Beobachtungen stützen. Als Mendel seine Studien mit der Züchtung langer und kurzer Erbsen betrieb, befaßte er sich mit physischen Eigenschaften, und als später Biologen durch das Mikroskop die Chromosomen sahen und ihre Theorien über Gene, über DNS und über all die anderen Vererbungsmechanismen entwickelten, prüften sie lediglich physische Details und bildeten ihre Urteile auf Grund physischer Einzelheiten. Dies bedeutet, daß sie unbewußt zu der Schlußfolgerung kamen, daß nur physische Einzelheiten eine Rolle spielen. Sollte es so etwas wie eine geistige oder nichtmaterielle Kraft geben, so entzog sich diese der Berührung ihrer Skalpelle und dem Blick durch ihre Mikroskope und spielte daher in ihren Theorien keine Rolle. Etwas Überlegung hätte ihnen jedoch gesagt, daß - es sei denn, Materie, Bewußtsein und Geist sind dasselbe - die Bekanntschaft des Forschers mit den physischen Faktoren wie Chromosomen und Gene ihm nur über die physischen Aspekte der Vererbung Auskunft gibt. Als die Wissenschaftler voraussetzten, daß ihre Studien die Türen zu allen Phasen der Vererbung öffnen würden, einschließlich Vererbung psychischer Eigenschaften, verfielen sie ohne Beweis dem Glauben, das Physische und das Geistige seien im Grunde dasselbe.
Lassen Sie mich ein Beispiel anführen, das für Tausende bezeichnend ist. Bei der Behandlung der Embryos von Obstfliegen mit DNS wurden bestimmte Zellreste von "Spender-Insekten" auf den Körpern der Versuchsobjekte entwickelt. Ferner wurden Frösche aus Eiern gezüchtet, in denen man den natürlichen Kern durch die Darmzellen anderer Frösche ersetzt hatte. Es wird nicht bezweifelt, daß diese Experimente wissenschaftlich interessant waren und wertvolles Licht auf die Vorgänge der physischen Vererbung warfen. Was können aber die Zellen von Obstfliegen oder die Zellkerne von Fröschen über den Ursprung des künstlerischen Genies eines Rembrandt oder über die geistigen Qualitäten eines Gandhi aussagen?
Die Antwort ist klar. Wir befassen uns mit zwei weit auseinanderliegenden Seiten der Wirklichkeit, und wir haben kein Recht anzunehmen, daß die gleichen Gesetze für beide zutreffen. Wenn die gleichen Gesetze tatsächlich gelten, können wir das erst behaupten, wenn es wissenschaftlich bewiesen wurde. Aber gerade hier ist der Punkt, wo moderne Genetiker unvermittelt anhalten. Erbsen und Frösche und Obstfliegen liefern ihnen ihre Information; und da es im physischen Leben von Pflanze und Insekt, von Amphibie und Mensch Übereinstimmung gibt, ist es durchaus vernünftig anzunehmen, daß die physische Vererbung anderer Lebewesen Anhaltspunkte für unsere eigene enthält - das heißt, in bezug auf unser Fleisch und Blut. Die Kluft zwischen unserem Laboratoriumsmuster und Michelangelo und Shakespeare bleibt jedoch unüberbrückbar.
Diese Folgerung wird nicht nur durch die Feststellungen von Barry Commoner unterstützt, sondern auch durch die des Evolutionsbiologen George Gaylord Simpson:
... nach meiner Meinung hat nichts, was bis jetzt über die DNS bekannt wurde, entscheidend dazu beigetragen, das Wesen des Menschen oder eines anderen Organismus zu verstehen.
Lassen Sie mich wiederholen, das alles soll die modernen physischen Vererbungslehren nicht in Zweifel ziehen. Der Fehler, den die Forscher machen, liegt nicht in ihren Hypothesen über die Natur des menschlichen Körpers, der, wie oben angedeutet wurde, biologisch auf einer Stufe mit den Körpern der Obstfliege und Erbsenpflanzen stehen mag; der Irrtum, die grobe Unlogik, liegt in der Annahme, der menschliche Geist stehe auf der gleichen Stufe.
Wir wollen zwei Probleme ansehen, die gelöst werden müssen, bevor Vererbungstheorien folgerichtig auf die physische und geistige Vererbung angewendet werden können. Das erste Problem bezieht sich auf die Tatsache, daß sich die Menschen charakterlich weitaus mehr unterscheiden als körperlich: wenn die Vererbung für die Übertragung aller psychischen Eigenschaften genauso zuständig wäre wie für die physischen, so müßte ihr im ersten Falle eine weit größere Bedeutung zukommen als im letzteren, weil die geistigen Charakterzüge subtiler und komplizierter sind als die physischen - die Genialität eines Edison ist weitaus komplexer als die Struktur seiner Haare oder die Form seines Kinns. Daher können die Gesetze, die für das Physische zuständig sind, nicht gleichermaßen für das Psychische gelten.
Eine noch größere Herausforderung bildet das zweite Problem, das Problem des Selbst, die Einheit des Bewußtseins - die Tatsache, daß das Ganze in diesem Falle größer ist als die Summe seiner Teile, daß jeder von uns eine streng definierte Individualität ist und nicht nur eine bloße Anhäufung von Zufallseigenschaften, wie es der Fall wäre, wenn eine Eigenschaft zufällig aus den Genen eines Großvaters stammen und eine andere aufs Geratewohl von einer Urgroßmutter kommen würde und eine dritte die unbeabsichtigte Gabe oder Krankheit eines noch weiter entfernten Vorfahren wäre. Es mag zwar die Vorstellung stimmen, daß eine Persönlichkeit sich aus verschiedenen Qualitäten, wie Gefühlswärme, Reizbarkeit, träges oder rasches Denken, Neigung zu Eifersucht, Haß oder Mitleid, Sensitivität für Musik oder Literatur und so weiter, zusammensetzt. Oberflächlich betrachtet erscheint die Annahme logisch, daß jede dieser Qualitäten durch das Gen eines bestimmten Vorfahren vermittelt wurde. Unglücklicherweise wird bei unseren Theorien jedoch die wichtigste Tatsache übersehen: daß jeder Mensch mehr ist als ein psychischer Schmelztiegel - mehr als Liebe, Haß, Mut, Ehrgeiz, Hunger, Sehnsucht, Leidenschaft, Streben, Freude, Trauer und all die anderen Neigungen, Gefühle und Gedanken, die in seinem Wesen zusammenströmen. Manchmal kann er sie alle besitzen, aber er ist nichts von alledem und mehr als alles zusammengenommen. Er ist vor allem ein Bewußtsein, ein persönliches Bewußtsein; soweit seine Erinnerung zurückreicht, war es für ihn eine dominierende Realität, daß er unzerstörbar "er selbst ist" (eine Besonderheit), und nichts, was jemals geschieht, kann ihn daran hindern, von seiner privaten Warte aus auf ein Universum zu schauen, dessen zentrale Wahrheit es ist, daß er er selbst ist.
Mit anderen Worten, die menschliche Persönlichkeit, die gewisse Äußerlichkeiten annehmen oder ablegen kann, kann die einzigartige Einheit des inneren Wesens, das denkt, fühlt, empfindet, sich erinnert und von der persönlichen Identität überzeugt ist, nicht ändern. Wie kann mit den gegenwärtigen Vererbungslehren diese Identität erklärt werden? Wie kann sie in Teilen vererbt worden sein, ein Teil von dem einen Vorfahren, ein anderer von einem zweiten, noch ein weiterer von einem dritten und so weiter in einer Art unbegrenzten Flickwerks? Wenn wir eine solche Möglichkeit voraussetzen würden, wäre es doch fast so, als würde man Brahms' Erste Symphonie einer Gruppe von Musikern zuschreiben, von denen jeder seine Noten ohne Übereinstimmung mit anderen beigesteuert hätte.
Die Wahrheit ist, daß die gegenwärtigen Vererbungstheorien bei dem Versuch, das menschliche Bewußtsein zu erklären, in Widerspruch und Verwirrung steckenbleiben. Den einzigen klaren Ausweg, der mit diesen Anschauungen übereinstimmt, hätten die Behaviouristen (amerikanische Forscher für Sozial-Psychologie), die die Realität des Bewußtseins verneinen. Aber das ist ein Sprung vom Absurden in eine noch extremere Absurdität, indem man die Erfahrung des Menschen verneint, die doch ganz offensichtlich vorhanden ist.
Was müssen wir daher folgern? Daß die Tatsachen, wie wir sie kennen, jede bisher entwickelte genetische Theorie übersteigen; daß die menschliche Persönlichkeit und ihr Ursprung, wie seit eh und je, durch keine andere Theorie erklärt werden kann als durch das Erbe von unserem eigenen geistigen Selbst durch den Vorgang der Wiedergeburt oder Reinkarnation. Ich für meinen Teil finde es ermutigend, darüber nachzudenken, daß unsere seelischen und geistigen Funktionen einen viel größeren, viel bedeutenderen Teil unseres gesamten Wesens ausmachen, als die gegenwärtigen Theorien annehmen, und daß das, was uns als Vererbung bekannt ist, die Überzeugung nicht ausschließt, daß die Psyche des Menschen eine tiefgründige und dauerhafte Wesenheit ist, deren Wurzeln tief in der rätselhaften Vergangenheit liegen und die in Zukunft in die Ferne künftiger Äonen und noch unentdeckter Milchstraßen weist.