Ein Weg der Wahrheit
- Sunrise 4/1976
Heute, wie zu allen Zeiten in der Geschichte, suchen ernsthafte Menschen nach den wahren Werten des menschlichen Daseins und versuchen, danach zu leben. Traditionsgemäß wurde von den meisten Menschen die Religion als der Hort dieser Werte betrachtet. Wer aber kann sagen, wieviele verschiedenartige Religionen es schon auf Erden gegeben hat? Allein die letzten Jahrtausende haben viele Hunderte von unterschiedlichen und anscheinend gegensätzlichen Glaubensrichtungen, Sekten und Splittergruppen hervorgebracht. Heute stellen nun einige Wissenschaftler fest, daß es sehr wohl möglich sein kann, daß der mit Vernunft begabte Mensch die Erde bereits seit mehreren Millionen Jahren bewohnt. Und was ist mit den Religionen, an die vielleicht Tausende oder Millionen Menschen viele Generationen hindurch geglaubt haben, die heute nur wenig bekannt oder sogar ganz aus dem Bewußtsein der Menschen verschwunden sind?
Die Situation wird noch komplizierter, wenn wir beobachten, welchen Lauf der Entwicklung die wirklich volkstümlich gewordenen Religionen in der Geschichte genommen haben. In den meisten Fällen erscheint ein großer Lehrer, offensichtlich ein sehr weiser und heiliger Mann, wie zum Beispiel Jesus oder Buddha, um eine bereits bestehende Religion zu reformieren. Er versucht, seinen Anhängern den inneren Sinn ihrer Lehren zu enthüllen. Solange der Lehrer lebt und durch seine Gegenwart alles überwachen kann, erhellt der belebende Einfluß seines Lebens und seiner Lehren diese Zeit, und viele werden von den dadurch erzeugten positiven Strömungen erfaßt. Doch, wie oft ist eine solche geistig lebendige Bewegung im Laufe der Jahre in Verfall geraten? Die Botschaft eines großen Lehrers wird von seinen Jüngern nur unvollständig verstanden. Dadurch ist zu befürchten, daß schon nach wenigen Generationen seine Worte verlorengehen oder entstellt werden. Einer oder mehrere seiner Anhänger beginnen daher, die "wahren" Worte des Meisters niederzuschreiben. Nach weiteren Generationen bestimmt dann allein eine besondere Priesterklasse über den Text dieser Bibel, sowohl was ihren Inhalt als auch ihre Auslegung betrifft. Zeremonien werden eingeführt und später vorgeschrieben. Die heiligen Bücher werden in ein geordnetes System abstrakter Begriffe, Dogmen genannt, umgewandelt, und was im Leben der Menschen einst eine lebendige und leuchtende Kraft war, wird schließlich zu einer starren, objektivierten äußeren Schale, die die Wahrheit eher verbirgt, als dazu dient, sie zu offenbaren.
Ist daher der Weg zur Wahrheit allein oder vorzugsweise nur denjenigen zugänglich, die zeitlich und rassisch dem betreffenden Weltlehrer nahestehen? Das ist kaum anzunehmen. Jeder einzelne hat immer seinen eigenen Weg vor sich, der für ihn der beste ist, denn jeder ist sein eigener Weg. Jeder kann die Wahrheit nur verstehen und danach leben, indem er diese Wahrheit wird. Nur wenn wir die Lektionen des täglichen Lebens vollständig meistern, wächst unser gewöhnliches menschliches Bewußtsein und wird eins mit dem inneren, spirituellen Zentralbewußtsein unseres essentiellen Wesens.
Wenn aber ein so großes und kaum erschlossenes Reservoir an Wahrheit in uns liegt, warum verlangen dann so viele Religionsgemeinschaften, daß wir unserer natürlichen, inneren Erkenntnis zugunsten der von ihnen sanktionierten Auslegungen mißtrauen, ganz gleich worum es sich dabei auch gerade handeln mag? Vielleicht liegt die Ursache darin, daß der sogenannte normale Mensch in Wirklichkeit ein äußerst komplexer Verbund von Lebewesen ist, der aus vielen eng miteinander verknüpften Individuen besteht, die sich alle im Grad ihrer evolutionären Entwicklung beachtlich unterscheiden. Das Höchste von allen, weil es das All ist, ist ---. Für seine Beschreibung reichen weder Worte aus noch Gedanken. Daher werden negierende Begriffe dafür gebraucht, wie "das Unendliche" oder "die Leere". Darunter befindet sich die spirituelle Individualität. Obgleich diese niedriger ist als die Unendlichkeit unserer innersten Natur, steht sie dennoch höher als die nur allzu menschliche Persönlichkeit, die ihrerseits die konstruierte Maske der menschlichen Seele darstellt.
Die menschliche Seele ist jener Aspekt von uns, der uns an diesem Punkt unserer evolutionären Entwicklung die Erkenntnis ermöglicht, daß wir nicht nur unser Körper oder unsere Leidenschaften oder gar dieses Phantom der Imagination, unsere Persönlichkeit sind. Es ist diese Seele, unsere normale gegenwärtige Bewußtseinsebene, durch die wir erfahren, daß größere und reinere Kräfte von Wesen, die über unserer jetzigen Entwicklung stehen, durch uns fließen. Höher? Zweifellos. Aber essentiell von uns verschieden? Könnten denn zwei grundsätzlich ungleiche Dinge in irgendeiner Weise aufeinander einwirken? Am intensivsten nehmen wir jene wahr, die unserem Denken am nächsten stehen. Und dennoch bewohnen wir alle den gleichen winzigen Planeten, der die Sonne umkreist, die selbst nur ein kleiner Lichtpunkt in der Milchstraße ist. Könnten wir denn physisch so nah beisammen sein, ohne mit all diesen Wesen, die diesen Planeten ihre Heimat nennen, geistig noch viel enger verbunden zu sein?
Diese menschliche Seele ist der Kampfplatz unseres täglichen Lebens und der Pfad, dem wir zur Wahrheit folgen müssen. Wenn diese Seele, d. h. wenn wir selbst die faktisch zahllosen Legionen untergeordneter Wesen nicht bewußt weiterbilden, die in uns leben und sich bewegen und ihr Dasein haben - unsere Gedanken, unsere tierischen Leidenschaften, unsere vitalen Energien und alles andere -, indem wir uns mit dem höheren und (für uns) bis jetzt nur unvollkommen manifestierten Teil unserer wirklichen Natur verbinden, dann werden uns die großen Wahrheiten des Lebens immer entgehen.
Und warum sollte das so sein? Könnte es nicht auch möglich sein, daß die Straße zur wahren Erkenntnis eine Wendung nach innen macht und zur Ichsucht führt? Ich glaube, die Antwort auf dieses Dilemma liegt in einer weiteren Frage. Warum haben wir alle in den verborgenen und stillen Kammern unseres innersten Herzens eine so tiefe und unstillbare Sehnsucht nach dem Göttlichen, dem Unvergänglichen, dem Allesumfassenden, das noch größer ist als wir und alles, was wir kennen und fühlen?
Worauf deutet dieses fundamentale Sehnen also hin? Wo liegt sein Ursprung? Wiederum liegt die Antwort in dieser ungeahnten Größe unseres eigenen Wesens, denn unsere hierarchische Natur besteht nicht aus Teilen oder Ebenen, die mechanisch zusammengefügt sind, um einen Menschen zu bilden. Diese sogenannten "Teile" oder "Ebenen" sind vielmehr selbst Wesen, Wesenheiten, Bewußtseinszentren. Wir sprechen zum Beispiel von unserem "höheren Selbst", von unserem "Schutzengel" oder von unserer "spirituellen Individualität" - alle diese Bezeichnungen sind nur Namen, die wir einem Wesen, einer Wesenheit geben, die noch lebendiger und sich ihrer selbst noch weitaus mehr bewußt ist, als wir es jetzt sind. Dieses reinere und mächtigere Wesen ist jedoch nicht physisch an uns gebunden, sondern es ist in der Tat wir selbst, denn es ist ein ebenso wesentlicher Aspekt unserer allgemeinen hierarchischen Natur wie unsere menschliche Seele. Mit anderen Worten, wenn wir uns als Ganzes betrachten, dann sehen wir, daß wir tatsächlich eine große, vielfältige, miteinander verwobene und immer wachsende Gemeinschaft von Lebensströmen, von Bewußtseinszentren und Wesenheiten sind.
Daher stammt die Quelle unserer Sehnsucht nach Göttlichkeit, denn ein Aspekt der unvergänglichen Wahrheit im All ist mit der Grundessenz unseres eigenen Herzens verwandt. Unser Gewissen ist nichts anderes als der flüsternde Gedanke unserer spirituellen Individualität, jenes "Schutzengels", der weiß, wenn wir bei irgendeiner Gelegenheit nicht dem Besten in uns entsprechend gelebt haben, wie wir es hätten tun können, der sanft unsere Herzen berührt, um uns zu diesem Ideal hinzuführen. Wie könnte die spirituelle Individualität diese Dinge so gut verstehen, wenn sie nicht in vergangenen Weltzeitaltern in ihrem Streben nach dem Göttlichen ebenfalls ähnliche Kämpfe durchgemacht hätte, wobei wir selbst damals in gleichem Maße weniger entwickelt waren als jetzt? Sie war bei den Aufgaben, die wir gegenwärtig haben, erfolgreich und erwarb dadurch das Recht, nach noch größeren Wahrheiten zu streben. Daher fließen durch sie die reinen und vitalen Ströme der Unendlichkeit zu uns, so wie wir selbst die unvollkommenen Kanäle sind, durch die diese leuchtenden Kräfte zu den geringeren Wesen fließen, zu jenen Formen unserer hierarchischen Gemeinschaft, die gegenwärtig noch weniger entwickelt sind als wir.
Der natürliche Weg des gemeinsamen Lebens und Wachsens führt für alle diese Wesenheiten selbstverständlich ins Spirituelle, ins evolutionär Vollkommenere, um die zu inspirieren, die weniger entwickelt sind, d. h. sie für das Höhere zu inspirieren. Nur zu oft gestatten wir unserem kalten, berechnenden Verstand den Versuch, die höheren Aspekte unseres Seins zu unterjochen. Das ist aber ebenso unmöglich, wie es einem Fluß unmöglich ist, bergaufwärts zu fließen.
Wo kann man also einen beständigen Weg zu den spirituellen Werten finden? Ich glaube, wir müssen uns dem unendlichen Wesenskern in uns zuwenden. Wenn wir die Leiter unseres Wesens hinaufsteigen, stetig bemüht, den Eingebungen unseres höheren, inneren Wesens entsprechend zu leben, dann werden wir ganz von selbst diesem immer ähnlicher werden. Natürlich kann man diesen Rat leicht geben, aber er ist sehr schwer zu verstehen und praktisch zu befolgen. Die Weisen aller Zeiten haben dem Aspiranten ganz offen gesagt, daß er die selbstsüchtige, leidenschaftliche Stimme seiner niederen Natur zum Schweigen bringen und seinen Willen streng in Disziplin halten muß, um den Eingebungen seines Gewissens zu dienen. Angesichts scheinbarer Ungerechtigkeiten muß er Geduld entwickeln und in der Handlung das goldene Maß der Mäßigung suchen. Der erste und größte Schritt von allen besteht jedoch darin, sich in den Dienst der Menschheit zu stellen, denn je mehr wir anderen helfen und je weniger wir unsere Aufmerksamkeit auf uns selbst, auf unseren Fortschritt richten, desto mehr werden wir von der uns abwärtsziehenden, mehr materiell orientierten Natur befreit; umgekehrt betrachtet, je weniger wir versuchen, andere menschliche Seelen zu beherrschen, Einfluß auf sie zu nehmen oder Vorteile daraus zu erzielen, desto mehr werden wir eins mit dem erhabenen, spirituellen Mitleid unseres höheren Selbst werden. Wenn wir getreu diesem Weg des unpersönlichen Dienstes für andere folgen, dann wird unser eigenes inneres Licht nach und nach unsere täglichen Pflichten beleuchten, und der richtige Weg für jede Lebenslage wird immer klarer werden.
Aber auch dieser Weg ist nicht ohne Fußangeln, denn wir leben auf einer Kulturstufe, die so sehr von einer egozentrischen Ichsucht und der daraus entstehenden intellektuellen Ausrichtung geprägt ist, daß wir nur allzuoft diese unnützen Neigungen in unsere ernsthaftesten Absichten hineintragen. Haben wir uns zum Beispiel noch nie verletzt gefühlt, weil jemand, dem wir spontan helfen wollten, nicht die entsprechende Dankbarkeit gezeigt hat, die wir erwarteten? Doch diese Gefühle der Verärgerung sind nichts anderes als die Stimme unseres eigenen Egoismus, der in großem Maße Genugtuung für jede kleine Freundlichkeit verlangt, die er gibt. Nein, wer die Menschheit lieben will, darf keine schnellen Resultate oder Belohnungen für seine Mühen erwarten. Er muß vielmehr mit seinem Herzen dienen, indem er jede Pflicht, die vor ihm liegen mag, in reinster und selbstlosester Weise erledigt, ohne Rücksicht darauf, wie groß oder wie unwichtig diese Aufgabe sein mag. Das ist der naturgemäße Weg.
Daher ist es unser Herz, das wir schulen müssen und das in mitleidigem Bemühen für alle wachsen muß. Aber, um das wirklich tun zu können, müssen wir aufnahmefähig und nicht aggressiv sein. Wir müssen spüren, was unsere Mitmenschen tatsächlich von uns verlangen, anstatt ihre Fehler oder Unzulänglichkeiten festzustellen und dann zu versuchen, sie zu korrigieren. Wer sind wir, daß wir das Herz eines anderen beurteilen dürften, wenn wir schon die Funktionen seines Körpers so unvollkommen sehen? Wenn wir unserem Bruder ein echter Freund sein wollen und nicht sein scheinbarer Erlöser oder sein Psychoanalytiker, dann müssen wir ihm in wahrer Bescheidenheit dienen.
Auf diese Weise wird uns klar, welche große Verantwortung wir im Leben haben. Wir müssen diejenigen Ideale auswählen, die für jeden von uns als Einzelmensch so groß und edel sind, daß niemand sie ehrlich verneinen kann. Wenn wir im täglichen Leben versuchen, nach diesen Idealen zu handeln, wobei jedermann auf seine Weise seinen eigenen innewohnenden Gott entfaltet, dann wird jeder von uns zu dem Weg werden, den er sucht.