Es ist eine große Welt ... da drinnen
- Sunrise 4/1976
Da wir in diesem Körper geboren wurden, sind wir in einigen Hauptpunkten sein Gefangener. Unsere innere Natur und ihre Fähigkeiten scheinen an die Organe geknüpft zu sein, durch die sie sich ausdrücken. Während sich unser Geist in das blaue Gewölbe des Raumes aufschwingen kann, sind wir so sehr an unser materielles Vehikel gekettet, daß wir Mühe haben, zu erkennen, ob unsere Vorstellungen wirklichen Wert haben oder nicht. Und die Seele in uns sehnt sich nach Realität. Wir sehen durch unsere Augen und erblicken andere "draußen", die durch ihre Augen sehen. Doch jeder von uns bleibt in seinem eigenen kleinen Raum eingeschlossen, in dem die Wände mit Fresken bemalt sind, deren Gebilde und Farbe die Begriffe und Überzeugungen von Zuneigung und Abneigung darstellen. Selten öffnet sich ein Tor und läßt Sonnenlicht aus der uns umgebenden, größeren und wirklicheren Welt herein, von der wir tatsächlich wesentliche Teile sind.
Der Mensch ist ein geheimnisvolles Wesen, und wir kennen gerade das am wenigsten, von dem angenommen wird, daß wir am besten damit vertraut sind - uns selbst. Das kommt wahrscheinlich daher, weil wir außen nach Antworten suchen, die nur im Innern liegen. Wie viel wir über jene anderen, außerhalb liegenden Inseln wissen, hängt weitgehend davon ab, wie viel wir von unserer eigenen inneren Natur kennen, die die Linse ist, durch die wir alles sehen. Wir strengen uns zu wenig an, wenn wir versuchen zu entdecken, wer oder was dieser Bewußtseinsknoten ist, der in diesem Körper wohnt, ihn benützt und oft mißbraucht. Auch der Körper enthält viele Rätsel. Wozu dient dieses lebendige, sich selbst wieder instand setzende Vehikel, unsere sichtbare Erscheinungsform? Was läßt unser Herz Tag und Nacht schlagen, füllt unsere Lungen mit Luft, verdaut unsere Nahrung und leitet das tout ensemble so, daß wir seine vielfache Tätigkeit gar nicht beachten?
Die Wissenschaftler bezeichnen viele dieser unauffälligen Funktionen als 'automatisch'. Das ist ein eigenartiges, für unsere Zeit symbolisches Wort. Eine Blume blüht automatisch - Zellen teilen und vermehren sich nach irgendeinem genetischen Muster. Eine Milchstraße tritt ins Dasein, weil in Bewegung befindliche Materie sowie Gesetze wie Anziehung und Abstoßung, thermodynamische Kräfte usw. sich im Raum befinden. Ähnlich wird der Mechanismus, den wir Mensch nennen, geboren, der dann, von der Umgebung und durch Ernährung oder deren Mangel geformt, zwangsläufig zu immer komplizierteren Gebilden heranwächst aufgrund bestimmter Genmöglichkeiten, die das bilden, was man Organisationen nennt.
Unter dem Wort Organisation versteht man in der modernen Biologie eine komplexe Zusammensetzung aus Teilen (einschließlich anderer Organisationen), die gemeinsam als Ganzes tätig sind. Weil diese Teile vereint funktionieren und weil sie eine 'Ganzheit' bilden, besitzt diese Ganzheit eine Fähigkeit, die die Gesamtsumme der Fähigkeiten aller einzelnen Teile bei weitem übersteigt. Dieser Begriff - Organisationen innerhalb von Organisationen - ist, wenigstens in seinen äußeren Aspekten, der alten Idee von den Hierarchien ähnlich. Das weltliche Beispiel für eine Hierarchie ist eine riesige Körperschaft, in der zahlreiche untergeordnete Gesellschaften (die auch Hierarchien sind) vertreten sein können. Diese wiederum sind zusammengesetzt aus vielen Tochtergesellschaften mit ihren Abteilungen, Angestellten, Arbeitern usw. Sie alle schließen sich zusammen, um den größeren Konzern zu bilden, doch alle haben ihre eigenen besonderen Aufgaben.
Wenn wir die innere Beschaffenheit des Menschen betrachten - seine emotional-mental-bewußte Natur -, dann stoßen wir auf ein Gebiet, das zu schwer zu verstehen ist, um es in allen seinen Verästelungen erfassen zu können. Das kommt daher, weil wir versuchen, sie nur als Endprodukt eines physisch-chemischen Prozesses zu erklären, der mit einer einzelnen Zelle begann und sich ohne Führer auf seinem Weg emportastete. Die meisten Wissenschaftler äußern sich unbestimmt und sagen, daß die menschliche Natur nichts weiter sei, als nur eine komplizierte neurophysikalische Maschine, aber gerade das ist sie. Bewußtsein? Gewiß. Gemüt? Sicherlich. Doch diese Eigenschaften werden nur als mögliche Ableger ständig komplizierter werdender stofflicher Strukturen dargestellt. Sind sie das wirklich?
Im Verlauf der Geschichte wurde unsere vielseitige Konstitution auf mannigfache Art beschrieben. Manche dieser Beschreibungen mögen jenen von uns, die in der modernen wissenschaftlichen Weise erzogen wurden, oder für diejenigen, die eine religiöse Anschauung vertreten, die glaubt, daß der Mensch "geschaffen" wurde und nicht das Resultat eines Entwicklungsprozesses ist, recht "abwegig" erscheinen. Doch schließlich kann man für die gleichen Tatsachen zahlreiche Auslegungen finden. Diese können von der abstrakten Philosophie bis zum einengenden Materialismus reichen. Um ihren Wert feststellen zu können, müssen wir die allgemein angenommene falsche Auffassung aufgeben, die materielle oder physische Welt - und nicht die sogenannte spirituelle Welt - sei die wirkliche. Die allgemeine Meinung in der Antike und im Mittelalter war gerade umgekehrt: daß die sichtbare Natur zum großen Teil eine Illusion ist und daß die einzigen Realitäten, die wirklich bleiben, die zahllosen spirituellen Kräfte sind, die die sichtbare Natur benutzen, um sich zum Ausdruck zu bringen. Für die Philosophien Indiens ist zum Beispiel der Kosmos dual und besteht aus Geist und Materie. Gewöhnlich fügen sie jedoch hinzu, daß sogar die Atome und Moleküle der universalen Materie selbst wieder "geringere Leben" sind, die eine unendliche Entwicklung vor sich haben.
Wenn wir uns für einen Moment vorstellen, daß es spirituelle Wesen und Gesetze gibt, dann wäre es doch töricht, anzunehmen, daß diese in irgendeiner Weise den Gesetzen und Tatsachen der sichtbaren Welt entgegen arbeiten. Offensichtlich bekämpfen sie sich nicht gegenseitig, denn dann würde Chaos herrschen. Geist und Materie sind vielmehr als Teile eines ineinander verwobenen kosmischen Prozesses zu betrachten. Das alles umfassende Universum kann in rein physischen oder in spirituellen Begriffen beschrieben werden, aber es ist unmöglich, es getrennt erklären zu wollen. Aber bemühen sich nicht einerseits die Wissenschaft und andererseits viele Religionen auch darum?
Wenn wir uns nur mit materiellen Begriffen befassen, abgesehen von uns selbst, dann müssen wir aber auch den weniger entwickelten Atomen und Zellen gottgleiche Möglichkeiten zuschreiben, um Bewußtsein, Gefühl, Urteilskraft und vieles andere mehr zu erklären, von denen angenommen wird, daß sie vollständig blind und ohne irgendeine Führung aus diesen elementarsten Partikeln hervorgingen. Ebenso nehmen wir von den Galaxien und den Sonnensystemen an, daß sie sich ohne Lenkung entwickelten. Damit sagen wir effektiv, daß der Mensch die höchste Intelligenz im Universum ist; daß er sogar die Fähigkeit entwickelt hat, die Vorgänge zu studieren, die ihn erzeugt haben; und daraus haben wir geschlossen, daß er irgendwie Bewußtsein entwickelt hat, aber der majestätische, ihn umgebende und ihn einschließende Kosmos nicht.
Gewisse Religionen, wie das Christentum, vertreten die entgegengesetzte Anschauung. Sie erklären, daß das materielle Universum das Werk eines Schöpfers ist, der die Erde mit all ihren Reichen als Zufluchtstätte für den Menschen schuf und seine Schöpfung verzierte, indem er den Himmel mit funkelnden Sternen schmückte. Aber oft wird von jenen, die die Bibel studieren, übersehen, daß in der Beschreibung, die Paulus vom Menschen gab, dieser aus Körper, Seele und Geist besteht. Man verwechselte gern 'Seele' und 'Geist' oder vertauschte diese Worte miteinander, während doch klar ersichtlich ist, daß das Wort Seele oder Psyche ganz verschieden ist von dem Ausdruck Geist oder pneuma. Im 1. Brief an die Tessalonicher 5:23 spricht Paulus davon, daß ein Mensch durch und durch geheiligt werde "Geist und Seele und Körper (soma)"; und im Brief an die Hebräer 4:12 sagt er, daß das Wort Gottes wie ein zweischneidiges Schwert ist und "dringet durch, bis daß es scheidet Seele und Geist."
Diese Dreiteilung von Paulus ist sehr nützlich, wenn man die Zusammensetzung des Menschen studiert. Wir sehen sogleich, daß unser gewöhnliches Bewußtsein im Seelenteil zentriert ist und zwischen dem höheren und dem niederen Teil hin- und herschwankt. Einmal gibt es irgendeinem groben oder selbstischen Impuls nach und ein andermal schwingt es sich zu den Höhen des Mitleids und des Selbstvergessens empor. Der Körper scheint vergänglich und der Geist von größerer Dauer zu sein; die Seele gehört zu beiden. Dieses zweifache Wirken der Seele ist klarer ersichtlich, wenn wir die Begriffe Körper, Seele und Geist mit der Idee der Reinkarnation verbinden. Beim Tod kehren offensichtlich die Teile, die den Körper zusammensetzen, zur Natur zurück - d. h. die physischen und subtileren Bestandteile, die Lebenskräfte usw. In ähnlicher Weise sollen auch die irdischen Elemente der Seele erdgebunden bleiben. Der Prozeß des Todes wird in vielen Schriften als Anstrengung beschrieben, die der höhere Teil der Seele macht, um sich von dem niedereren Teil zu lösen. Dieser Vorgang wurde von Vergil, Dante und vielen anderen als eine Art Fegefeuer oder als eine Reinigung dargestellt, wobei die Intensität und Dauer davon abhängen, in welche Richtung die Energien des eben beendeten Lebens gelenkt wurden, wie stark die Seele mit den gröberen Aspekten ihrer eigenen Natur 'verkettet' war.
Dann erfolgt das, was der zweite Tod genannt wird, nach welchem der Geist alle feineren Aspekte der Seele, die unerfüllten Bestrebungen, das selbstlose Verlangen und die erhabenen schöpferischen Gedanken in sich aufnimmt oder in sich trägt - wenn auch wie im Schlaf oder im Traum -, die während eines Bewußtseinszustandes, den die meisten religiösen Philosophien als Himmel bezeichnen, in das Gefüge der Seele verwoben werden. Wenn dann die Reinkarnation stattfindet und der 'neue' Mensch seine niederen Attribute aus dem vorangegangenen Leben wieder an sich zieht, denen er nicht entrinnen kann, weil sie seine Kinder sind, so tritt er diesen doch mit der vermehrten Stärke gegenüber, die durch seine früheren Anstrengungen und Aspirationen ein Teil seines Charakters geworden ist.
Der Geist, oder das Pneuma, ist wahrscheinlich der undefinierbarste und am wenigsten bekannte Teil des dreiteiligen Menschen. Das Wort pneuma ist griechisch und bedeutet Atem. Es besagt auch, daß es das Göttliche ist, welches sein Leben in die Seele und in den Körper einhaucht. Das englische Wort spirit kommt von dem lateinischen spiritus, das auch Atem oder atmen bedeutet. Bei vielen Völkern nahm man an, daß Geburt für die Seele der Tod für den Geist sei und daß, wenn der Mensch stirbt, der Geist in seine eigene kosmische Welt hineingeboren wird. Er nimmt dann die feinere Essenz der Seele mit sich, wenn er seinen Weg durch den Kosmos zurücklegt. Aus diesem Grunde sagten die Römer manchmal, wenn jemand gestorben war, "er schläft unter den Sternen."
Andere philosophische Schulen teilten die zusammengesetzte Natur des Menschen in fünf, sieben, zehn und elf Teile ein. Durch jede dieser Einteilungen kann das Funktionieren des menschlichen Wesens im Wachzustand, während des Schlafens oder nach dem Tode von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet werden. Ein Beispiel hierfür kann die fünffache Einteilung geben: Die Verfechter dieses Systems, zu denen auch die alten Vedantisten in Indien gehörten, lehrten, daß der Mensch in Wirklichkeit aus fünf Hüllen oder Selbsten zusammengesetzt ist. Diese waren das göttliche, das spirituelle, das menschliche, das tierische und das vital-astrale Selbst. Der göttliche Teil wurde oft sozusagen als 'nach beiden Seiten offen' betrachtet, d. h. unsere Verbindung mit der Universalessenz, aus der wir hervorgegangen sind, übersteigt die gedankliche Begrenzung; aber die Verbindung ist da, selbst wenn sie mit Worten nicht hinreichend beschrieben werden kann. Der physische Körper am unteren Ende wurde zuweilen nicht als Hülle oder als Prinzip angesehen, sondern als der Bodensatz des vital-astralen Selbstes, denn diese Philosophen nahmen an, daß der Ursprung der menschlichen fünf Sinne astralen und nicht physischen Charakter hat. Deshalb nannten sie den astralen oder feinstofflichen Körper des Menschen oft den Modell-Körper, denn er entsteht vor dem physischen Körper, der Zelle um Zelle um ihn bildet.
Dem fünffachen System entsprechend sind die als 'automatisch' bezeichneten Funktionen unseres Körpers keineswegs das, was wir als einen seelenlosen, mechanisch-chemischen Roboter oder eine Art blinden und unausbleiblichen Reflex bezeichnen. Die vital-astrale Seele ist an diesem Punkt ihrer Evolution vielmehr mit dem Wohlergehen des körperlichen Organismus, mit der Verdauung, Atmung, dem Herzschlag usw. beschäftigt und ist tatsächlich ihrem Wesen nach dieser Organismus. Der menschliche Teil von uns befindet sich an einem Kreuzweg. Einerseits ist er eng verbunden mit der tierischen Natur, die er im Zaume halten muß, und andererseits ist er mit dem spirituellen Selbst verbunden, dessen hilfreiche Strahlen stärken, führen und erleuchten, wenn sie unser Alltagsbewußtsein durchdringen können. Es ist die Bestimmung des menschlichen Selbstes, sich mit diesem spirituellen Prinzip zu verschmelzen, in anderen Worten, buddhagleich zu werden.
Ganz gleich, wie die Natur des Menschen auch beschrieben und eingeteilt wurde, die einfache Tatsache, daß der menschliche Teil dual ist, ist schon seit eh und je für die religiöse Philosophie ein vertrauter Begriff. Die Erfahrungen des Lebens bestätigen es unaufhörlich. Wir brauchen nur zu beobachten, wie unser Bewußtsein an einem einzigen Tag unseres geschäftigen Lebens von einer Richtung in die andere gestoßen wird. Das alte Sprichwort sagt: Wir können uns nicht in ruhigere Wasser treiben lassen, wir müssen dahin rudern. Der Sinn dieser Feststellung ist, daß wir uns nicht von heftigen Begierden überfallen lassen dürfen, wie ein Mob eine Stadt überfällt und plündert. Wir dürfen nicht zulassen, daß selbstische oder vagabundierende Gedanken unser Gemüt in ein Chaos verwandeln. Bemeisterung des Niederen durch das Höhere war seit frühesten Zeiten die grundlegende Voraussetzung für wahre spirituelle Schulung.
Es ist nicht schwer, einzusehen, wie notwendig es ist, die niedere Natur zu beherrschen, aber es ist nicht immer leicht, zu begreifen, wie die höhere Natur uns dazu drängt. Ich glaube, der Schlüssel dafür ist darin zu finden, daß wir die niedere Natur nicht vernichten, das Verlangen nicht töten oder den Körper hungern lassen sollen, so daß wir nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Statt dessen werden wir aufgefordert, die in uns befindlichen Energien zu verfeinern und zu lenken, denn sie sind wertvolle Hilfen beim spirituellen Wachstum. Selbst das Atom ist ein potentieller Gott. Jedes Prinzip oder jedes Selbst besitzt ein göttliches Potential. Der Wunsch kann sich von den niedersten tierischsten Impulsen bis zu den höchsten Bestrebungen erstrecken; und unsere Gemüter können sich zu den Sternen emporschwingen oder in den Abgrund sinken. Die höhere Natur hat auf dem Wege der Entfaltung zu dem, was sie jetzt ist, alle unsere menschlichen Kämpfe durchgemacht. Und von uns wird angenommen, daß wir auf dem tierischen Weg gewandert sind, bis wir mit Erfolg menschliches Selbstbewußtsein entwickelten. Auf alle Fälle erfüllt das Höhere seine Aufgabe, indem es das Niedere anspornt, seinen Bereich zu überschreiten.
Die äußere Welt ist groß. Sie hat Milliarden menschlicher Seelen, die in den Prozeß verwoben sind, Selbsterkenntnis und Selbstüberwindung zu erringen, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Doch sicher ist es viel besser, etwas über die Grundregeln und die Möglichkeiten der Spieler zu wissen. Gerade hier können wir lernen, wie wertvoll es ist, wenn wir uns mit einem Einblick in die menschliche Natur befassen, wie dies uns von den Weisesten unserer Rasse gelehrt wird und wie sie sich uns in den verschiedenen religiösen und philosophischen Systemen im Osten und Westen offenbart haben. Denn, wenn wir sie nicht als Vorbilder für unser bewußtes Leben hätten, könnte es sein, daß wir einfach nur so dahintreiben. Würden wir aber versuchen, unser Schiff zu lenken, so hätten wir keine Karten, die uns zeigen, worauf wir innerlich zusteuern. Trotzdem gibt es einen ganz überzeugenden Beweis, daß etwas Höheres in uns existiert. Dieser Beweis liegt in der Tatsache, daß wir geführt werden, selbst wenn wir es ignorieren, denn dieses Höhere in uns ist der Magnet, der uns anspornt, nach aufwärts zu streben.