Führerschaft des Dienens
- Sunrise 4/1976
Da die Erde gezwungen ist, ihren Kreislauf um die Sonne in elliptischen Bahnen zu ziehen, zeichnen sich jährlich vier Punkte an diesem großen kosmischen Zeitmesser ab: die Sonnenwenden im Winter und im Sommer und die Tagundnachtgleichen im Frühling und im Herbst. Fast unter allen Völkern sind diese Punkte, oder vielmehr diese Perioden, als heilige Jahreszeiten betrachtet worden. Im Westen sind hauptsächlich zweien davon religiöse Bedeutung zugemessen worden - im Winter Weihnachten und (symbolisch) Chanukka (achttägiges jüdisches Tempelweihfest) und im Frühling das Osterfest. Allgemein gesehen sind diese Feiern Erinnerungen an höchst wichtige spirituelle Ereignisse. Aber zu diesen Zeiten finden auch Veränderungen in den physischen Rhythmen der Natur statt, besonders was die spirituellen Kräfte anbelangt, durch die den Menschen individuell und kollektiv die Gelegenheit geboten wird, die Samen für evolutionäre Erfahrung zu säen und deren Früchte zu ernten. In der modernen Theosophie werden die vier Jahreszeiten mit den vier Stufen im Leben eines Menschen verglichen. Die Wintersonnenwende, im Christentum durch die Geburt Jesu sinnbildlich dargestellt, bedeutet Geburt. Die darauffolgende Frühlings-Tagundnachtgleiche stellt sinnbildlich den Höhepunkt der Jugendlichkeit und eine Periode der Auferstehung oder der spirituellen Wiedergeburt der höheren Fähigkeiten im Menschen dar. Dann kommt die Sommersonnenwende, eine Zeit der Reife und des vollen Erblühens der Fähigkeiten, die den erhabenen Schluß des heiligen Zyklus vorbereiten: die Herbst-Tagundnachtgleiche - ein Ernten der gesamten Lebensarbeit.
Da wir uns augenblicklich zwischen der Sommersonnenwende und der Herbst-Tagundnachtgleiche befinden, ist es nur natürlich, sich Gedanken zu machen über die Wichtigkeit und die innere Bedeutung dieser oft vergessenen, aber dennoch wichtigen Verbindungen des Menschen mit der physischen und der spirituellen Natur. Wenn man liest, was über diese Dinge geschrieben wird, und wenn man die vielen darin angestellten Betrachtungen überblickt, so tritt vor allem ein Thema in den Vordergrund, das zumindest in einer Hinsicht für die gesamte Periode charakteristisch ist. Es ist der Begriff der Führerschaft.
Wenn es auch leicht ist, die Parallele zwischen Reife und Führerschaft zu sehen, so fragen wir uns dennoch, wie die Führerschaft wohl beschaffen ist, die dieser Periode ihre spirituelle Eigenschaft verleiht. Was ist es, das einen wahren Führer auszeichnet; besitzt er Macht, ist er das Haupt einer Gesellschaftsklasse, einer Körperschaft, einer Kirche oder eines Landes? Nicht notwendigerweise. Ein Führer braucht keine hervorragende weltliche Stellung einzunehmen oder Autorität zu besitzen. Wir können zum Beispiel unser eigener Führer sein und unserer Lebensführung eine positive Richtung geben. Vom Standpunkt der Evolution aus betrachtet, kann sich Führerschaft auch, und zwar nicht nur im egoistischen Sinne, auf eine harmonische Vorwärtsentwicklung mit der Vorhut der Menschheit beziehen, so daß unser Leben die besten Fähigkeiten widerspiegelt, wie sie in ihrer Reinheit in den Charakteren der Führer der Rasse zu finden sind. Doch das sagt uns wenig über die wesentliche Eigenschaft der Führerschaft. Was also macht einen spirituellen Reformator, einen König, einen Präsidenten - ja sogar Sie und mich - zu einem wirklichen Führer?
Vor einiger Zeit stellte ich einem guten Freund, dessen Lebensumstände ihn in engen Kontakt mit führenden Persönlichkeiten der verschiedensten Art gebracht haben und der durch seine Arbeit einiges über diese Eigenschaft weiß, eine diesbezügliche Frage. Er sagte, wahre Führerschaft wird letzten Endes aus Dienen geboren. Das hat nichts mit Knechtschaft zu tun. Wenn man wirklich fähig sein will, andere zu führen, wenn man weise und erfolgreich in seiner Führung sein will, dann muß man zuerst wissen, wie man anderen dienen kann. Und dann fuhr er fort, daß er bei all seinen Erfahrungen nicht einen Menschen kennengelernt hat - der nach seiner Meinung ein wahrer Führer war -, der nicht durch die Prüfungen einer gründlichen und harten Lehrzeit des Dienens gegangen ist. Und die Besten von ihnen hatten jenen gedient oder dienen jenen, die selbst Dienende sind.
Dieser Gedanke hat vielleicht mehr als irgendein anderer mir nicht nur geholfen, mein eigenes Verständnis für Führerschaft zu klären, sondern er steht auch unveränderlich, wie ein Leuchtfeuer, das uns in jeder schwierigen Lage den Weg zeigt. Ich glaube auch, daß diese Verstellung vom Dienen sich direkt auf den eigentlichen Charakter der heiligen Jahreszeiten des Sommers und des Herbstes bezieht und ihn hervorragend beleuchtet - daß die jetzt der Vervollkommnung entgegengehenden Eigenschaften des Dienens und der Hingabe an die Menschheit uns die höchsten Beispiele echter Führerschaft vermitteln.
Das mit den Ereignissen der Sommersonnenwende verbundene spirituelle Drama wurde die Große Entsagung genannt. Es ist eine Zeit, in der eine hoch entwickelte Seele - in Wirklichkeit kann es jeder von uns sein - einer der größten Versuchungen in der menschlichen Erfahrung gegenübersteht: der Versuchung des persönlichen Fortschritts. Individuellen Fortschritt opfern heißt, sein Leben wirklich so zu führen, daß man zuerst an die Wohlfahrt anderer denkt und für sie wirkt, ehe man an sich denkt (wenn man überhaupt an sich denkt), es ist eine strenge spirituelle Forderung. Manche glauben tatsächlich, daß es die schwierigste aller Prüfungen ist. Doch die Geschichte zeigt uns erleuchtete und lichtspendende Einzelmenschen - Christus, Buddha und viele andere -; deren allumfassende und mitleidvolle Besorgnis für alles, was lebt, scheint ausnahmslos mit einem Martyrium in ihrem eigenen persönlichen Leben in Zusammenhang zu stehen. Wenn wir aber bedenken, welchen Eindruck ihre jeweiligen Botschaften gemacht haben und welche Lebensdauer sie hatten, so zählen sie zu den größten Führern der Menschheit. Sie alle sind lebendige Symbole altruistischer Dienstleistung gewesen - eine Eigenschaft, die man nicht über Nacht durch einen Inspirationsblitz aus der Höhe erlangt, sondern indem sie ständig auf dem großen Feld des täglichen Lebens ausgeübt wird.
Wenn man an die Herbst-Tagundnachtgleiche denkt, die manchmal das Große Scheiden oder die Große Ernte genannt wird, so scheint die Periode des Sommers eine wichtige Vorbereitung dafür zu sein. Über diesen letzten Zyklus der Heiligen Jahreszeiten wurden nicht viele Einzelheiten bekanntgegeben; es wurde nur gesagt, daß es eine sehr heilige Zeit ist, in der jene, die alle notwendigen Lektionen in der menschlichen Schule gelernt haben, nun Gelegenheit haben, dem menschlichen Blickfeld zu entschwinden und in höhere Grade überzutreten. Hier sind alle wesentlichen Elemente der vorhergehenden Jahreszeiten verschmolzen und kulminieren in der für einen Menschen höchstmöglichen Erfahrung. Wenn der einzelne erfolgreich ist, so steht er, der nun vollkommen entwickelt ist, vor einer Wahl von großer Tragweite. Er kann vollkommen in Nirvana eintauchen und sich unaussprechlicher Glückseligkeit erfreuen, wobei er alle direkten Verbindungen mit der Welt der Menschen abbricht; oder er kann andererseits das erhabene Opfer bringen, auf diese Früchte verzichten und sich zurückwenden, um weiterhin jenen zu helfen, die auf dem Pfad der Evolution nachfolgen. Somit ist die höchste Form des Dienens, die wir uns vorstellen können, gleichzeitig das größte Beispiel für Führerschaft.
Hier sehen wir eine wunderbare Steigerung des Dienens - vom Auftakt bis zur Führerschaft in seiner reinsten Verkörperung. Allerdings ist das ihre vollkommenste Form, das Resultat eines zeitalterlangen Bemühens, in denen Führerschaft und Dienen immer grundlegende, wenn auch ständig geläuterte Elemente in dem Schmelztiegel der höhergeistigen Bestrebungen bildeten.
Wenn diese höchste Erfahrung auch noch so weit entfernt scheinen mag, so ist es doch sicher, daß auch wir hier und jetzt so manches Nützliche daraus entnehmen können. Wenn unser Bestreben, bessere Männer und Frauen zu werden, ernst gemeint ist, dann ist es möglich, daß wir, wie die Saiten einer Laute, in gleichgestimmter Resonanz mit dem Grundton schwingen, der in dieser Herbstjahreszeit angeschlagen wurde. Und dabei könnten auch wir etwas von dem spirituellen Drama erfahren, das mit der großen Ernte verbunden ist. Es ist nicht leicht, in Worten die in einer Entscheidung liegenden spirituellen Eigenschaft zum Ausdruck zu bringen, die verdienten Früchte einer persönlichen Anstrengung zu Gunsten der Gelegenheit zurückzustellen, für eine höhere, edlere Sache ohne Belohnung zu arbeiten. Doch die leuchtenden Beispiele der wahrhaft großen Führer aller Zeiten sind für uns ein Ansporn.
Wir leben heute in einer schwierigen Zeit. Der Begriff der Führerschaft wird nicht nur vom nationalen Standpunkt aus einer sorgfältigen und sogar strengen Prüfung unterzogen, sondern auf jedem Gebiet der menschlichen Erfahrung. Daß unser gegenwärtiges Dilemma nur die Wirkung jahrhundertelangen falschen Denkens und jahrhundertelanger falscher Anschauung ist, darauf wurde schon hingewiesen. Vor beinahe hundert Jahren hat sich ein vorausschauender Kommentator dahingehend über die westliche Zivilisation geäußert, daß sich infolge der Betonung und Glorifizierung der Persönlichkeit, die in dem Konkurrenztrieb zum Ausdruck kommt, seinen Mitmenschen zuvorzukommen, schließlich nur ein Ergebnis einstellen würde: ein Rückfall in die schlimmsten Formen der Anarchie. Wie prophetisch das klingt, wenn wir einige der mehr tragischen Aspekte unserer gegenwärtigen Lage betrachten. Doch unsere Situation ist nicht einmalig, denn schon andere Zivilisationen litten an ähnlichen Gebrechen. Wir können aber auch Mut fassen, denn es gibt ein Heilmittel, das schon immer das gleiche war: Alle Menschen sollten sich nicht nur in Gedanken, sondern auch in der Praxis als Brüder betrachten. Und, sollte es unsere Pflicht sein, führen zu müssen - eine Pflicht, die immer aktuell ist, ob wir uns nun selbst führen oder andere -, dann sollte unsere Führerschaft mitleidsvoller Altruismus sein, geboren in der Retorte selbstlosen Dienens für alle Wesen.