Eine Abhandlung über Freundlichkeit
- Sunrise 3/1976
Vor einiger Zeit war der Dalai Lama, eines der beiden geistigen Oberhäupter Tibets, in England und wurde im Fernsehen durch die BBC interviewt. Während dieses Interviews hörten wir seine Ansichten über Meditation. Er gab den Rat, über Freundlichkeit und Mitleid zu meditieren.
Eines meiner Lieblingsgedichte heißt: "Was die Welt braucht" und ist von Ella Wheeler Wilcox. Ein Vers lautet etwa so:
So viele Götter, so viele Glaubensbekenntnisse,
So viele Wege, die sich hierhin und dorthin winden,
Alles, was die traurige Menschheit braucht,
Ist die Kunst, freundlich zu sein.
Man beachte, Freundlichkeit nennt sie eine "Kunst". Wir alle kennen bestimmt jene freimütigen Menschen, die gern ihre Meinung sagen, die sich damit brüsten, daß sie das Kind beim rechten Namen nennen und selbst dem Teufel die Wahrheit ins Gesicht schreien, und deren Motto lautet: "Heraus damit, auch wenn es Ärger bringt!" Ich habe eine unverheiratete Tante, die selten etwas lobt, die aber furchtbar wütend wird, wenn sie irgend etwas für verkehrt hält. Doch, so seltsam es auch scheinen mag, sie ist meine Lieblingstante.
Wir sollten jederzeit die Wahrheit sagen (auch wenn es noch so schwer fällt) - oder schweigen. Aber gedankenlos etwas auszusprechen kann manchmal Unglück verursachen.
Ich glaube, Freundlichkeit ist genauso eine Kunst wie Musik, Literatur, Malen oder irgend etwas anderes auf dem Gebiet der Künste. Sie kann erlernt werden, und das Leben ist ein großer Lehrer, aber es ist ein harter Weg.
Offensichtlich müssen wir die Menschen erst einmal verstehen, bevor wir freundlich zu ihnen sein können. Die Franzosen haben ein Sprichwort: Tous comprendre c'est tous pardonner - Alles verstehen heißt alles verzeihen; doch noch wichtiger ist, daß wir uns selbst verstehen. Haben wir zum Beispiel ein Naturell, das wir nicht beherrschen können, so werden wir nicht immer freundlich sein. Man findet selten jemanden, der nicht launisch ist, besonders, wenn wir keinen oder zuviel Sinn für Humor haben. Scherze unter Freunden, die wissen, daß es nicht böse gemeint ist, sind wunderbar. Vielleicht wird eines Tages die ganze Welt keinen Anstoß mehr an Scherzen nehmen, aber heute könnte daraus ein internationaler Konflikt entstehen! So müssen wir vorläufig noch auf unsere Worte achten, ja sogar auf unsere Gedanken, denn Gedanken sind ebenso mächtig. Möglicherweise sagt ein Mensch überhaupt nichts und übt dennoch einen beunruhigenden Einfluß auf uns aus. Andererseits wird aber auch berichtet, daß Charles Dickens und Mark Twain einmal beinahe einen ganzen Tag angenehm zusammen verbrachten, fast ohne ein Wort zu sprechen. Die gleiche Anekdote wird über Carlyle und Tennyson erzählt. Auch wenn wir uns für ihre historische Echtheit nicht verbürgen können, ändert sich der Sinn dieser Geschichten dadurch nicht.
Es heißt, die Reinkarnation bringe uns sowohl zu verhaßten als auch zu geliebten Menschen zurück. Zwischen ungleichen Charakteren besteht oft eine große Anziehung. Vielleicht können wir von Gegnern mehr lernen als von Gleichgesinnten. Opposition gehört mit Bestimmtheit zu den Dingen, auf die wir stoßen, wenn wir versuchen, freundlich zu sein. Dazu gehört nicht nur die Opposition der anderen, sondern auch unsere eigene. Gerade unsere Anstrengung führt dazu, daß etwas in uns ein gewisses Selbstbelächeln hervorruft.
Es sind jedoch die feineren Seiten des Egoismus, die, manchmal als "Gutes tun" oder als brennender Eifer getarnt, unsere Mitmenschen zu dem bekehren wollen, was wir für wahr halten, und die uns unfreundlich sein lassen. Letzten Endes kommt es darauf an, daß wir mit uns selbst fertig werden. Wir können den Mitmenschen nicht ändern, auch wenn wir es noch so sehr wollen. Was er tut, ist seine eigene Angelegenheit, auch wenn er zweifellos durch unsere Handlungen zum Guten oder Schlechten beeinflußt wird (vorausgesetzt, wir tun es nicht absichtlich!).
Das Leben ist tatsächlich der große Lehrmeister. Dringt man hinter die äußere Verschlossenheit der Menschen, so wird man überall versteckten Kummer finden. Kummer gleicht vieles aus. Wahrscheinlich beginnen wir überhaupt erst in dem Augenblick zu leben, wenn es uns gleich ist, ob unser nächster Atemzug der letzte sein wird, denn dann können wir die Zügel unserer Pferde dem Wagenlenker übergeben, weil ihre Kapriolen uns nicht mehr interessieren. Die Wege, denen sie folgten, sind nur zu bekannt, sie führten niemals nach Hause.
Wieviel Freude bereitet es, unsere ichbezogenen Neigungen und Wünsche aufzugeben, und sei es auch nur für einen Augenblick. In dieser Zeit achten wir uns als Menschen, als einen Teil der Menschheit, und machen uns auch nicht ein Jota daraus, was die Welt über uns denkt. Für einen kurzen Augenblick empfinden wir, daß es uns möglich ist, in den Augen der Menschen als ein Nichts erscheinen zu können.
Das bedeutet wirklich viel. Wer so viel Stärke besitzt, dieses Ideal aufrechterhalten zu können, der muß ein Teil der Beschützer des Schutzwalls sein, der die Menschheit umgibt. Man sagt, ihre Zahl sei Legion. Sie sind so zahlreich wie die Bäume des Waldes. Einige wurden sogar als "Zedern des Libanon" bezeichnet. Wer kennt ihre Arbeit? Vielleicht kennen sie selbst immer nur das, was jeder Tag bringt, denn auch sie haben ihre Wagenlenker. Sie sind ein Teil der Lebenskette, die von den Göttern zu den Menschen reicht. Wir aber können mit unseren bescheidenen Möglichkeiten diese Lebenskette etwas weiter nach unten verlängern. Dazu gehört manchmal nur ein Lächeln.
Es überrascht nicht, daß der Dalai Lama über Freundlichkeit meditiert. Es gab in der Vergangenheit mehr als nur einen Buddha, und weitere werden kommen. Einer davon wird der Maitreya-Buddha sein, und die Wurzel, aus welcher der Name Maitreya abgeleitet ist, bedeutet "der Freundliche, der Mitleidsvolle".