Erfülle die geringste Pflicht gut
- Sunrise 2/1976
Für jeden Menschen kommen im Leben Zeiten, die mit Spannungen und manchmal mit inneren Kämpfen erfüllt sind. Diese erstrecken sich für gewöhnlich nicht weiter als auf einen schlechten Tag im Büro (und sind am Abend vorbei) oder auf die Notwendigkeit, mit einer ärgerlichen Situation oder einem Vorfall fertig werden zu müssen, denn selten vergeht ein Tag ohne irgendwelche Unruhe, ohne Enttäuschung oder eine Verletzung der Gefühle. Und manchmal wird unser Leben durch eine Verkettung von Umständen so mit wachsendem Druck angefüllt, daß jeder Augenblick voller Hektik ist. Allmählich läßt dann die Hochspannung nach, und das ganze Leben und Denken nimmt wieder seinen normalen oder geringfügig veränderten Lauf.
Wenn wir glauben, daß die Ursachen von Krisen an äußeren Umständen liegen, dann betrachten wir alles sehr oberflächlich. Es ist wahr, daß äußere Probleme sehr real sind und ständig beachtet werden müssen, andernfalls können sie derart anwachsen, daß sie uns überwältigen; aber in Wirklichkeit ist es unsere innere Haltung, die dazu führt, daß wir diese Probleme als bedrückend empfinden. Es gibt ein altes Sprichwort, das lautet: "Wenn jemand die Macht hat, mich zu ärgern, so habe ich sie ihm selbst gegeben." Das stimmt immer.
Wenn wir in eine gefühlsbetonte Reaktion auf unsere Umgebung verwickelt werden, umgeben wir uns mit einem Schleier und können diese Umgebung nicht klar sehen. Wir fangen an, unsere eigene Aufregung und Unruhe den äußeren Umständen zuzuschreiben und geben ihnen Bedeutungen, die gar nicht vorhanden sind. Es kann sein, daß wir beginnen, uns einzubilden, Menschen und sogar Dinge seien vorsätzlich feindlich gegen uns gesinnt. In solchen Zeiten schätzen wir den Wert eines wahren Freundes, der uns beisteht, uns unterstützt und uns hilft, die Gegebenheiten in ihrem richtigen Verhältnis zu betrachten und von den unwirklichen Bildern freizukommen, die oft nur in unserer Vorstellung existieren. Hier endet jedoch seine Verpflichtung, denn sonst könnte er versuchen, etwas für uns zu tun, das wir selbst tun müssen, auch wenn wir dabei Fehler machen.
Diese Ereignisse sind gelinde gesagt unangenehm, aber wenn wir nicht über die bloße Tatsache hinwegkommen, werden wir die Bedeutung, die dieser Erfahrung zugrunde liegt, nicht begreifen und in die alten Geleise des Denkens und der Lebensführung zurücksinken, denen wir vorher folgten und die eigentlich die mißliche Lage erzeugten. Das ist sicherlich die Lösung, denn, obwohl es anders aussehen mag, wir werden genau unserem inneren Bedürfnis und unserem Verlangen entsprechend zu größeren Anstrengungen angespornt. Mitten in der Prüfung treten oft positive Werte in Erscheinung, wird die Gelegenheit geboten, verborgene Hilfsquellen der Stärke und des Verstehens zu entdecken und zu entwickeln. Vielleicht wird uns dabei zum ersten Mal bewußt, daß es rund um uns andere gibt, die viel schwerere Bürden auf ihren Schultern tragen als wir.
Gelegenheit ist das Juwel, das in der Dunkelheit der inneren Krise verborgen liegt. Und die Gelegenheiten können sich auf eine einfache Geduldsübung erstrecken, andererseits aber auch die gesamte Natur zutiefst erschüttern. Nichts ist bedeutungslos, denn oft hängen wichtige Resultate von scheinbar geringfügigen Entscheidungen ab. Jeder verborgene Gedanke und jede Schwäche, der wir nachgeben, haben ihre Wirkung auf unseren Charakter und daher auch auf unser Schicksal. In positiver Hinsicht verändert aber auch jede Anstrengung zur Selbstbesiegung, jedes edle Streben oder jeder altruistische Impuls den inneren und schließlich auch den äußeren Menschen sehr. Eine schwierige Zeit kann daher verschiedenartig gedeutet und genutzt werden.
Das Leben ist der große Initiator und bringt uns genau jene Dinge, die wir auf unserer Reise von der Dunkelheit in das Licht brauchen. Oft erkennen wir diese Gegebenheiten nicht als solche, denn gewöhnlich sind wir zu sehr in die Erfahrungen verknüpft, die uns Vergnügen und Schmerz bringen, um zu verstehen, auf was sie uns hinweisen wollen. Das ist ganz eigenartig, denn, wenn wir uns zum Beispiel physisch unbehaglich fühlen, unternehmen wir sofort etwas, um herauszufinden, was die Ursache dazu war und wie sie behoben werden kann. Sind wir aber psychisch außer Fassung, dann beginnen wir, um uns zu schlagen und machen oftmals andere Leute oder 'Verhältnisse' für etwas verantwortlich, das jedoch in uns liegt und dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollten. Die äußere Lage kann tatsächlich schwierig sein und eine Änderung erfordern, aber die Verstimmung liegt in uns und sollte als das erkannt werden, was sie ist. Während uns die Evolution vorwärtsdrängt, scheint das Leben sich gerade auf jene Eigenschaften in uns zu konzentrieren, die entwickelt oder verbessert werden sollten.
Gewöhnlich liegt es an unseren Neigungen, daß wir uns verletzt fühlen. Manche sind ganz offensichtlich: Die Menschen, die nach der letzten Mode gekleidet sein müssen, ihren Morgenkaffee brauchen, fügsame Kinder haben müssen, geraten außer Fassung, wenn etwas anders ausgeht, als sie gedacht haben. Diejenigen, die darauf bestehen, daß alles nach ihrem Willen geschieht, oder die Rat, Lob oder Beachtung brauchen - sie alle werden Unannehmlichkeiten haben. Sofern wir mit den "Früchten des Handelns" rechnen, werden wir enttäuscht sein, wenn die Dinge einen anderen Lauf nehmen. Diese und tausend andere Dinge, an denen wir hängen, führen meistens zu einem psychologischen Auf und Ab im täglichen Leben. Mit diesen Höhen und Tiefen sind wir nur allzu vertraut, aber wieviele von uns befassen sich mit den zugrundeliegenden Ursachen?
Bindungen können sehr flüchtig sein und dennoch jede Phase unseres Lebens beeinflussen. Wir können an das, was wir glauben, daran, wie wir andere und uns selbst beurteilen, vollkommen automatisch und gedankenlos gebunden sein. Das ist tatsächlich eine Form von Egotismus, an dem wir alle in verschiedenen Graden leiden. Anscheinend lieben wir uns selbst so sehr, daß wir es übelnehmen, wenn irgendeine aufrührerische Person, Idee oder Macht in unsere nette kleine innere Welt eindringen. Wenn nun das Leben beginnt, auf unsere liebgewordenen Denkweisen und Gefühle oder auch auf unsere Motive, über die wir uns nicht klar sind, einen Druck auszuüben, dann kann unser Leiden eine sehr akute Form annehmen, denn gerade hier spielt sich unser Alltagsbewußtsein ab.
Deshalb ist es manchmal schwierig, jene zu verstehen, die sich um Hilfe an uns wenden, wenn sie innere Kämpfe durchmachen. Das Fieber scheint sich, wie bei einer Krankheit, austoben zu müssen, bis die Natur gereinigt und das Individuum für das, was um es herum geschieht, wieder aufnahmefähig ist. Wenn wir intensivem Druck ausgesetzt sind, ist nicht der Augenblick, weitschweifige Erklärungen abzugeben; aber es gibt einige bewährte Regeln, die uns helfen können. Eine dieser Regeln betrifft die rechte Ausführung der täglichen Pflichten. Dieser Rat klingt so banal und doch, wie sagte Katherine Tingley doch so schön: "Erfülle die kleinste Pflicht gut, und wenn der Tag vorüber ist, gibt es nichts zu bedauern, es wurde keine Zeit verschwendet. Freude wird dann die Folge sein." Die Erfüllung unserer alltäglichen Verpflichtungen im rechten Geist lenkt unser Denken von uns ab und wendet unsere Teilnahme anderen zu. Wir entdecken dann bald, daß unsere eigenen Probleme keineswegs unüberwindbar sind, sondern unserem erregten Gemüt nur so erscheinen. Wenn wir ehrlich und ohne Umschweife dem Pfad der augenblicklichen Pflicht folgen, sind wir, ohne es zu bemerken, nach und nach imstande, unsere eigene mißliche Lage leidenschaftslos zu betrachten.
Eine der Hauptursachen des menschlichen Leides liegt in der falschen Anwendung des Willens. Er ist wie jede Energie farblos, bis ihn Intelligenz oder Leidenschaft in die eine oder die andere Richtung lenken. Wenn nun mit ihm selbstsüchtige oder unweise Ziele erreicht werden sollen, so wird unfehlbar Leid folgen, denn die dabei gesäten Samen werden früher oder später aufgehen und Früchte tragen, die, gelinde gesagt, unangenehm sind. Oft wenden wir den Willen für uns persönlich an, um irgendein Ziel zu erreichen oder eine Lieblingsidee auszuführen, während ein sorgsames Eruieren der gesamten Lage uns zeigen würde, daß die Zeit dafür nicht reif ist oder daß die Idee selbst noch weiter überdacht werden muß. Entweder mißglückt dann das Vorhaben, oder es ergeben sich so viele Schwierigkeiten, daß es schließlich aufgegeben werden muß. Wenn die Ereignisse, Situationen und Pflichten in unserem Leben nicht allzusehr 'dirigiert' werden, dann entwickeln sie sich für die Betroffenen in einer ganz natürlichen Weise. Dieser sich entfaltende Ablauf der Dinge ist ein Ausdruck dessen, was der Wille Gottes genannt werden könnte. Das Geheimnis des wahren Glücks besteht darin, dem persönlichen Willen zu erlauben, dem Göttlichen Willen zu dienen, so daß wir, wenn wir von Augenblick zu Augenblick und von Tag zu Tag den Verlauf unseres Lebens bestimmen, mit der Natur arbeiten und nicht gegen sie. Auch Jesus soll gesagt haben: "Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe."
Wahres Glück hängt also nicht davon ab, Schmerz zu vermeiden und nur Freude zu erleben, sonst könnten wir es mit sehr viel Nachgiebigkeit gegen uns selbst erkaufen. Wir alle wissen, was sich ergeben würde, wenn wir unsere Kinder vor jeder Unannehmlichkeit beschützen und jeder ihrer Launen nachgeben würden; und dennoch, tun wir Erwachsenen in den meisten Fällen nicht gerade das in unserem Leben? Wie laufen wir dem Geld, dem Komfort, der Behaglichkeit nach und opfern manchmal unseren guten Ruf dafür, ohne dabei zu beachten, was wir uns selbst damit antun. Die Natur greift dann mit fester Hand zu und versetzt uns einen oder zwei Stöße, worüber wir uns dann empört beklagen.
Wahres Glück kann nur kommen, wenn wir gemäß dem Besten, was in uns ist, leben, die Späne fallen lassen, wohin sie wollen, soweit wir persönlich dabei in Betracht kommen. Was dabei verletzt wird, sind, wie wir finden werden, die Selbstsucht, der Egotismus und all' die niederen Eigenschaften in uns, die uns daran hindern, hochherzigere Menschen zu werden. Ich bin daher mißtrauisch gegen Lehren, deren Hauptziel Glück oder Gemütsruhe ist oder die sogar die Erlangung spiritueller Vereinigung versprechen. Diese Lehren scheinen die Dinge falsch anzugehen, sie enthalten etwas, das nach Selbstsucht aussieht. Mich dünkt, das einzige Glück, auf das wir zählen können, ist das Glück, das sich einstellt, wenn wir die Wohlfahrt anderer über unsere eigene Wohlfahrt stellen.
Freude liegt in der Reinheit eines jeden neuen Augenblickes. Er hat nie zuvor existiert, und wir können ihn unseren höchsten Bestrebungen entsprechend erhaben gestalten, ganz gleich, wie bewölkt von Irrtümern und Schwächen die Vergangenheit auch sein mag. Deshalb sollten wir uns einschärfen, nie Zeit zu verschwenden, indem wir etwas bedauern, sondern jeden Moment, so wie er zu uns kommt, gut zu nützen. Es hat keinen Zweck, uns über Verhältnisse aufzuregen, über die wir keine Macht haben. Wir sollten uns stattdessen mit den Dingen befassen, die wir beherrschen. Auf diese Weise können wir unseren schöpferischen Willen anwenden und uns auf höhere Ebenen des Seins und des Handelns erheben - nicht unseres eigenen Vorteils oder Glückes wegen, sondern weil das in uns wirksame Göttliche uns dazu drängt.