Bruder Sonne, Vater Sonne - 2. Teil
- Sunrise 2/1976
O du, der du dich aus der niederen Wolke erhebst,
Um oben im All zu leuchten,
Ich grüße dich! Ich bete dich an!
- Indianer
Es scheint vollkommen richtig zu sein, wenn die Menschheit die Sonne anbetet, denn je mehr wir über dieses flammende Gestirn erfahren, das getreu über unseren Tageshimmel wandert, desto besser begreifen wir die zentrale Rolle, welche die Sonne im Leben unseres ganzen Systems spielt. Die Geschöpfe der Erde sind unbestreitbar ganz von den Energien abhängig, die sie so verschwenderisch spendet. Die Sonne zu verehren ist daher ein spontaner und natürlicher Impuls.
Ob wir nun die Sonne als unseren Vater oder als unseren Bruder bezeichnen, in beiden Fällen geben wir einem aus dem Inneren unserer Natur kommenden Drang Ausdruck. Es wurde uns bewußt, daß wir mit diesem gewaltigen Wesen verbunden sind, das von den alten Völkern verschiedentlich Surya, Sol, Brahma, Helios, Ra, Phöbus-Apollo etc. genannt wurde. Wenn wir der Sonne unsere Huldigung darbringen, so ist das keine Unterwürfigkeit; wir erkennen vielmehr, daß auch wir Funken des zentralen Feuers sind, daß auch in uns eine spirituelle Sonne scheint, die ihr strahlendes Licht auf alle Handlungen ausgießt, die edel, gütig und einsichtsvoll sind.
Früher wurde allgemein angenommen, daß, weil wir Kinder der Erde und der Sonne sind, ein Teil von uns auch vom Mond stammen müsse. Wenn die Zyklen und Phasen des Mondes die Lebewesen auf Erden schon so stark beeinflussen, wieviel mehr trifft dies auf die Sonne zu, deren Einflüsse in spiritueller Beziehung noch viel mächtiger sein können. Auch die Hierophanten und Philosophen Indiens und Babyloniens - überhaupt in der ganzen Alten Welt - nahmen an, daß jeder von uns nicht nur etwas von der Sonne, der Erde und dem Mond in sich hat, sondern auch von den Planeten und Sternen, von unserem gewaltigen Universum und von allem, was noch jenseits davon liegt. Sie lehrten, wenn das nicht so wäre, könnten wir sie weder sehen noch verstehen, denn die alte Maxime lautet: "Der Mensch kann außerhalb seiner selbst nur das sehen, was er in sich hat." Die alten Perser verstanden diese Vorstellung, wie diese alte zoroastrische Hymne zeigt:
Ich rufe die erhabenen Heerscharen der Sterne an,
Ich liebe nur das Licht,
Meine Seele strebt mit aller Macht himmelwärts.
Die Sonne wurde zu allen Zeiten und auf viele Arten angebetet, je nachdem auf welchen Aspekt es ankam. Manchmal war es die innere Sonne im Menschen, sein höheres Selbst, das beschrieben oder angerufen wurde. Ein andermal, wenn ein Strahl oder ein Einfluß von der mystischen, kosmischen Sonne vorübergehend oder für die Dauer eines Lebens sich in irgendeinem edlen menschlichen Instrument verkörpert hatte, wollte man mit besonderen Symbolen und Bezeichnungen sich an dieses spirituelle Ereignis erinnern. Es lohnt sich, solche Themen im Zusammenhang mit dem Glauben der Völker in den verschiedenen Teilen der Welt sorgfältig zu überdenken, denn wenn wir das tun, können wir vielleicht besser verstehen, welche Bedeutung gewisse Riten und Zeremonien haben, die wir heute nur als Feiern betrachten, welche aber früher für jeden emporstrebenden Menschen durchaus eine direkte persönliche Bedeutung gehabt haben können.
Zuweilen wird vergessen, daß die frühen Christen Jesus mit der Sonne in Zusammenhang brachten. Unter den Kirchenvätern spricht Cyprian von Christus als Sol Verus, der "wahren Sonne", und Ambrosius nennt ihn Sol Novus Noster, "unsere neue Sonne". Aus den alten römischen Kalendern geht hervor, daß die Römer jedes Jahr am 25. Dezember die Neugeburt von Sol Invictus, den Tag der "unbesiegten Sonne", feierten. Vom persischen Sonnengott Mithras wurde berichtet, daß er zur Zeit der Wintersonnenwende in einer Höhle oder Grotte von einer Jungfrau geboren worden war. Ähnliche Geschichten erzählt man in Syrien und Phrygien von Adonis und Atys, in Indien von Krishna und in Ägypten von Horus, der von Isis geboren wurde. Über Horus sagt Dr. de Purucker in seiner Esoteric Tradition folgendes:
Plutarch berichtet uns in seinem kurzen Traktat oder Essay Über Isis und Osiris, daß an der Vorderseite des Isistempels zu Sais in Ägypten folgende Inschrift eingraviert war: "Ich bin Isis: alles was war und ist und sein wird: und kein Sterblicher hat je meinen Schleier gelüftet." Proklos, der neuplatonische Philosoph, fügte dieser kurzen Mitteilung des Plutarch noch die weitere Erklärung hinzu, daß die folgenden, äußerst bedeutsamen Worte den Schluß dieser Inschrift bildeten: "Und die Frucht, die ich hervorbrachte, wurde die Sonne." Die unbefleckte jungfräuliche Mutter des Raumes, die Geist-Seele des Raumes, brachte den Logos hervor ... die göttliche Sonne. Hierin ist der Ursprung für die christliche Idee ... die kosmische jungfräuliche Mutter und das Gotteskind zu finden.
- Seite 1104 (englische Ausgabe).
Einige frühchristliche Hymnen waren, wie die folgende, an die Sonne gerichtet:
O du WAHRE Sonne,
Leuchtend im beständigen Licht,
Erfülle uns!
Glanz des Heiligen Geistes
Durchdringe unser Gemüt!
Wie ähnlich ist das dem viel älteren Gayatri aus dem Rigveda, wo es wörtlich übersetzt heißt: "Jener vortreffliche Glanz der göttlichen Sonne, über die wir meditieren, möge unsere Gemüter erheben!"
Wenn wir den gewaltigen Raum überschauen, der uns vom Sonnengestirn trennt, dann könnten wir uns wohl fragen, welche Beziehung dieser Himmelskörper aus funkelnden Energien zu der im Rigveda angerufenen Sonne haben könnte? Wie sollte die physische Sonne unsere Gemüter erheben und beleben? Die Antwort ist, daß sie es nicht kann; aber die Hymne bezieht sich ganz offensichtlich auf die göttliche Sonne, von der jedes Menschenwesen sozusagen ein Strahl ist. Wir rufen den Strahl des Sonnenherzens an, der im Kern unseres Wesens wohnt, und werden dadurch "wie die Sonne". Der Prozeß, bei dem ein solches Ereignis stattfindet, war in den alten Mysterienschulen als Initiation bekannt. Damit ist nicht das formale gradweise Vorrücken gemeint, wie es heute in manchen Orden praktiziert wird, noch das von gewissen pseudo-okkulten Gruppen versprochene zweifelhafte schnelle Erreichen von Nirvana, sondern das zur Geburt bringen des inneren Gottes, das durch eine Reihe spiritueller Ereignisse erfolgt, die das Resultat jahrelangen, in der Tat Lebenszeiten dauernden Selbstbemühens sind.
Nach den Überlieferungen vermittelten die drei ersten Grade der Mysterien die Lehren, wobei eine intellektuelle und moralische Schulung inbegriffen war. Mit dem vierten Grad, so heißt es, begann der Kandidat dann praktisch zu erfahren, worüber er bisher nur studiert hatte. Er sandte sein Bewußtsein in die unbekannten Gebiete der Natur und 'sah' dort unmittelbar die verschiedenen Reiche und deren Bewohner. So wird berichtet: Er durchquerte die unendlichen Bereiche des Kosmos und kam sogar zu den "Toren der Sonne" und darüber hinaus. Von dort kehrte er "mit der Sonne umkleidet" als ein "Sohn der Sonne", von einem Strahlenkranz oder Heiligenschein umgeben, zurück, so wie es in der christlichen, buddhistischen und in anderer Kunst zum Ausdruck kommt. Die Krönung der Könige mit einem goldenen Reif ist ein schwacher Abglanz aus der Zeit, in der die Herrscher der Völker noch in die geheime Weisheit eingeweiht waren. Im Osten werden die Buddhas und Bodhisattvas oft mit einem strahlenförmigen Diadem oder einer Krone (ushnisha) dargestellt. Die gleichen Gedanken werden im Ägyptischen Totenbuch angedeutet:
Verehrung sei dir, o Ra, bei deinem gewaltigen Aufstieg!
Du steigst empor! Du leuchtest! Die Himmel öffnen sich!
Du bist der König der Götter, du bist der Allumfassende,
Von dir kommen wir, in dir sind wir gottähnlich.
(Kursiv vom Autor)
Die Universalität, die bei diesen alten Überlieferungen auffällt, kann nur bedeuten, daß es sich hierbei um religiöse Wahrheiten handelt. Man kann kaum zu einem anderen Schluß kommen, wenn man diese völlige Übereinstimmung von Sitte und Glauben in so weit verstreuten Gebieten erklären will. Doch, um noch genauer zu sein: In ganz verschiedenen Teilen der Welt und in Gebieten, die gar keine Beziehungen zueinander haben, existieren die gleichen Überlieferungen über weise und heilige Menschen, die ihr menschliches Bewußtsein so erhoben und gereinigt haben, daß es für kürzere oder längere Zeit ein Instrument für ihre eigene innere Göttlichkeit wurde. Die Dauer hing vom "Grad" der Erfahrung ab. Und dieses göttliche oder höhere Selbst wurde verschiedentlich als Einfluß bezeichnet, der aus dem Logos kommt, aus dem kosmischen Buddha oder Christus, oder der ein Strahl von der spirituellen Sonne ist. Ein Mensch, der aus dieser Erfahrung hervorging, "zeigte" den Glanz des Göttlichen (die genaue Bedeutung des christianisierten griechischen Wortes Epiphanie). Bei den Hindus wurde der wahre Eingeweihte ein Dwija, der zweimal Geborene, genannt, einmal im Fleisch und einmal im Geist geboren. Hat nicht auch Jesus erklärt, "es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen" (Johannes 3:3). (Matthäus 3:11 spricht von Taufen, eine mit Wasser und eine mit dem Geist.)
Nun könnte man natürlich sagen, daß alle diese archaischen Bräuche nur Ausschmückungen der Religion sind, begründet auf sehnsüchtiges Denken und abergläubische Vorstellungen, die im Verlauf der Jahrhunderte verherrlicht wurden. Doch wenn man bedenkt, daß in fast allen Teilen der Welt die gleichen symbolischen Darstellungen erfunden werden konnten, kann man das noch als Zufall hinstellen? Wenn aber für alle Erscheinungen - ganz gleich, ob wir das Gesetz der Schwerkraft, die Genetik oder irgendeinen anderen Gegenstand studieren - die Universalität der Prüfstein ist, so muß dieser Prüfstein auch auf die weltweite Überlieferung angewandt werden, daß der Mensch den menschlichen Christus oder Buddha aus dem Innern der "jungfräulichen" oder spirituellen Seele zur Geburt bringt, woraus wir schließen können, daß auch hier nur tatsächliche Ereignisse beschrieben werden, denn sonst würden wir Hunderte ganz verschiedene Geschichten haben. Der Weg zu spirituellem Wissen war ganz offensichtlich in jeder Rasse und zu jeder Zeit im wesentlichen der gleiche, was schließlich logisch ist, da der Pilger, der diesem Weg folgt, damals und heute der sich sehnende, strebende Mensch ist.
Die vielen edelmütigen Menschen, die in der Geschichte immer wieder zu finden sind, die zur Gott-Sonne in sich selbst wurden, sind die erhabensten Vorbilder, die die Rasse hervorbrachte. Sie sind diejenigen, die den Weg zeigen, diejenigen, die vorangingen und aus Mitleid wieder umkehrten, um jenen den Pfad zu erleuchten, die nachfolgen. Sie sind ein überzeugender Beweis für die göttlichen Eigenschaften, die dem Menschen innewohnen. Ein solcher Beweis wird von den Historikern und den Evolutions-Philosophen oft übersehen. Die Tatsache, daß die menschliche Rasse so wundervolle Blüten hervorbrachte, kann nicht verleugnet und die Universalität ihrer Botschaft nicht einfach übergangen werden. Diese hochentwickelten Seelen scheinen tatsächlich fähig zu sein, die kausalen Zusammenhänge der Natur zu sehen, und deshalb ist es gar nicht so merkwürdig, daß ihre Beschreibungen des Kosmos und des Menschen im wesentlichen die gleichen sind. Es wäre erstaunlicher, wenn es nicht so wäre.
Nach einer alten Überlieferung (die in Teilen Indiens und des fernen Ostens heute noch lebendig ist) leben jenseits der "schneebedeckten Bergkette" viele dieser großen Seelen, die, in einer Bruderschaft vereinigt, noch mit uns verbunden sind. Von Zeit zu Zeit kommen Mitglieder dieser erhabenen Bruderschaft zu den Menschen, um den Geist der Wahrheit lebendig zu erhalten, um wieder einmal die goldenen Saiten der Weisheit anzuschlagen. Es wird behauptet, daß sie die Gründer der verschiedenen Weltreligionen und spirituellen Philosophien sind. Die Legende besagt, daß diese Bruderschaft wiederum Stufe um Stufe mit höheren Klassen von halbgöttlichen und göttlichen Wesen verbunden ist; sie bilden die sogenannte Hierarchie des Mitleids, die tatsächlich der spirituell-intellektuelle Aspekt von Mutter Erde und Vater Sonne ist.
In diesen Artikeln haben wir versucht, ein Bild von dem pantheistischen Universum der Alten zu geben, die erkannten, daß kosmisches Leben und kosmische Intelligenz in allen Dingen vorhanden sind. Wir haben auch versucht, etwas von der Realität hinter dem anthropomorphischen (menschlich gestalteten) Glauben aufzuzeigen, der damals da war - und auch heute noch vorhanden ist! Gewiß, die vielen Götter und Göttinnen, die man in allen Ländern verehrte, wurden meist nur menschlich dargestellt, mit menschlichen Schwächen und Leidenschaften. Es ist auch wahr, daß viele Menschen nicht über diese exoterische Auffassung hinauskommen. Doch denkende und intuitive Menschen haben zu allen Zeiten hinter diesen symbolischen Geschichten nach den verborgenen Wahrheiten gesucht und sind mit einem wahrhaft gewaltigen Panorama, was den Ursprung, den Aufbau und das Wirken des Kosmos anbetrifft, belohnt worden - einem Überblick, der die wissenschaftlichen Tatsachen belebt, ohne ihnen in irgendeiner Weise zu widersprechen, und in harmonischer Weise das Vorhandensein göttlicher Wesen mit einem durch Gesetz regierten Universum verbindet.
Wie eng verwoben sind diese zwei Begriffe - die symbolische äußere Sonne, deren "Aufgang" mit dem sich entwickelnden inneren Gott des Menschen in Beziehung gebracht werden kann. Dann haben wir die Herrlichkeit und Erhabenheit jenes gewaltigen Wesens, welches die Sonne in ihren inneren Teilen ist und deren Kinder wir sind, etwa so, wie die Atome unseres Körpers zum spirituell-mentalen Dynamo in Beziehung stehen, der der Mensch seiner wahren Natur nach ist. Wenn diese Sonne sich erhebt, dann erkennen wir klar, daß der Mensch wirklich ein Sonnenwesen ist.
Bei einigen zivilisierten Völkern wurde der Mensch generationenlang als ein Kind der Götter angesehen, die ihrerseits die höheren Aspekte des Kosmos bildeten. Deshalb schrieb der Mensch allen Naturerscheinungen eine tiefe Bedeutung zu: den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen, die die Wendepunkte des Jahres kennzeichnen; den Phasen, Eklipsen und Durchgängen von Sonne, Mond und Planeten, die wichtige, spirituelle Vorhaben, je nach den betreffenden "Einflüssen", nicht zuließen oder dazu ermutigten. Aber über allem wurde die Sonne als unser Vater und wir als seine spirituellen Strahlen betrachtet. Sie wurde auch als älterer Bruder allen Lebens angesehen, weil jede sich gegenwärtig in einer niedrigeren Form zum Ausdruck bringende Monade eines Tages eine Sonne sein wird. Deshalb können wir auch wirklich sagen, daß alle Wesen Söhne und Brüder der Sonne sind. Ist es daher verwunderlich, daß die Reinheit und Herrlichkeit des Sonnenaufgangs zu allen Zeiten die Aufmerksamkeit des Menschen erregte, erinnert er uns doch täglich an unsere göttlichen Möglichkeiten.