Die Grenze der Unendlichkeit
- Sunrise 4/1975
Kürzlich wurde bekanntgegeben, daß das entfernteste Objekt, das bisher mit den Riesenteleskopen gesichtet werden konnte, entdeckt und mit dem Namen OH471 bezeichnet worden sei. Dadurch entstand eine Flut von Fragen. War das die Grenze des Universums? Gab es dahinter nichts? In welcher Richtung verlief diese Grenze? Das Ganze erinnert an die mittelalterliche Furcht, die in Europa herrschte, als man annahm, man könnte über den Rand der scheibenförmigen Erde fallen; und das, lange nachdem Seefahrer in anderen Teilen der Welt den Erdball bereits umschifft hatten. Es muß wohl nicht gesagt werden, daß die "Grenze" sich auf das sichtbare Universum bezieht, soweit wir dieses mit unseren heutigen Geräten erfassen können.
Begrenzungen werden vom Verstand errichtet, der vergeblich, aber beständig versucht, das Unendliche im Endlichen einzuschließen. Wir haben schon genug Schwierigkeiten, uns die Entfernung zwischen der Erde und dem Sonnenball vorzustellen, der für unser tägliches Leben eine so große Bedeutung hat. Wie viel größere Schwierigkeiten haben wir dann erst, uns die riesigen Mengen der Sterne im Bereich unserer Milchstraße vorzustellen. Das Vorstellungsvermögen muß aber einen noch größeren Schritt tun, um zu erfassen, daß unsere kleine Familie aus Sonne und Planeten, die in einem spiralförmigen Arm der Galaxie schwimmt, nur ein Atom im Vergleich mit einem solchen Molekül darstellt. Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß unsere Galaxie von ähnlicher Größe und ähnlichem Aufbau ist wie unser nächster Nachbar Andromeda, der selbst nur ein Lichtfleck in einer Entfernung von anderthalb Millionen Lichtjahren ist und dennoch zu unserem regionalen Milchstraßensystem gehört.
Je weiter wir uns vortasten, desto mehr vergrößern wir den Radius der sichtbaren Sphäre und umso mehr Objekte werden dort sichtbar oder hörbar oder auf andere Weise entdeckt - und doch unentdeckt bleiben: riesige Milchstraßensysteme, die noch beeindruckender sind als das unsere; Zusammenballungen solcher Galaxien, deren ungeheure Größe für uns unvorstellbar ist; gewaltige Sternhaufen, die von unserem Standpunkt aus gesehen ein Quadratgrad des Raumes einnehmen!
Im entgegengesetzten sichtbaren Extrem, in der Welt der Kernphysik, sind die hundert und mehr Typen von Atomen, aus denen sich die Elemente zusammensetzen und aus denen wiederum alle Formen gestaltet werden, völlig anders, und sie unterscheiden sich voneinander so grundsätzlich, daß wir sie sogar mit unseren groben Geräten unterscheiden können. Müssen sie sich individuell nicht ebenso unterscheiden wie die Schneeflocken oder wie dies bei den Sternen der Fall ist? Gibt es etwa in den Molekülen und Molekülhaufen keine unbegrenzte Mannigfaltigkeit von Komponenten, die ebenfalls dem gleichen Grundmuster der Vielgestaltigkeit in der Einheit folgt, die wir in den Himmelssphären sehen? Indem wir dem Gesetz der Analogie folgen, sehen wir, daß es nicht zwei völlig identische Wesenheiten geben kann, so daß in der unsicheren Arithmetik der Möglichkeiten jedes kleine Beta-Teilchen oder My-Meson einzigartig und dennoch so eng in das Ganze eingefügt sein muß, daß es ein unentbehrlicher Teil in seiner Zeit und an seinem Ort ist.
Aber wir haben die Oberfläche nur gestreift. Bis jetzt sind die Grenzen, die wir gesetzt haben, durch unsere Sinne festgelegt worden: Was wir sehen oder hören können, sind die Bewegungen geladener Teilchen, die sich uns als sichtbare oder hörbare Materie darstellen. Betrachten wir einmal das menschliche Antlitz. Wo finden wir diese Zeichen, wie Freude und Leid, Ruhe, Liebe und Schönheit? Es sind die gleichen stofflichen Bestandteile, die in den Sternen oder in den Atomkernen sind, die dieses Gesicht bilden; doch für die Qualität seines Charakters, den Glanz seiner Augen sind sie nicht zuständig. Wir müssen unsere Vision erweitern, wenn wir diese immateriellen Faktoren, diese unendlichen Parameter nichtfaßbarer Eigenschaften miteinschließen wollen, wenn wir damit anfangen wollen, uns auf den Weg zu machen, um diese Dinge zu verstehen. Als Menschen stehen wir noch auf der Stufe der Kindheit, obwohl wir paradoxerweise schon ein großes Stück Wegs gegangen sind, denn die erste Voraussetzung, etwas zu suchen, ist die Erkenntnis, daß es etwas gibt, wonach man suchen kann.
Wenn wir die Gedanken der edelsten Denker der Geschichte erfassen können, wenn wir eine Ahnung von der inneren Größe in unserem kleinen Selbst empfinden und Eingebungen haben, die großartiges Seelenwachstum versprechen, während wir physisch ein Teil des Erdballs sind, den wir durchwandern, sind wir dann nicht auch mit der Seele eines kosmischen Selbst in unfaßbarer Wirklichkeit verbunden, dessen körperliche Bestandteile wir verstreut am Himmel sehen, soweit wir diesen erforschen können, und noch darüber hinaus. Das bezieht sich nicht nur auf Teile davon, sondern gibt im kleinen eine Vorstellung von den göttlichen und übergöttlichen Intelligenzen, welche die Wesenheiten beleben und inspirieren und deren äußere Gewänder den Nachthimmel schmücken.
Sicher wird der Tag kommen, an dem wir innerlich soweit fortgeschritten sein werden, daß das ursächliche Wirken, das wir dunkel ahnen, und die Gesetze, die wir unwissentlich erfüllen oder übertreten, eine bewußte Rolle in unseren gegenseitigen Beziehungen spielen werden, so daß wir bewußt zur Harmonie des Ganzen beitragen werden und vor dem Unbekannten jenseits der Grenze unseres Wahrnehmungsvermögens nicht zurückschrecken.