Das Weltliche heiligen
- Sunrise 3/1975
Wie ein ständiger Traum lebt im Gedächtnis der Rasse immer noch die Erinnerung an die verlorene Jugend der Menschheit, die auf den grünen Fluren Arkadiens, inmitten unerschöpflichen Überflusses, ein Leben in endloser Freude, ohne Arbeit oder Sorgen führte. In der Kindheit werden uns Märchen erzählt, die die Freuden eines solchen Traumlandes in glühenden Farben schildern, und zu unserer Überraschung finden wir später zuweilen in Mythen, Legenden und in Heiligen Schriften die gleichen Dinge wieder.
Wenn sich alte Schriften, ganz gleich welchen Ursprung sie haben und aus welcher Zeit sie stammen, mit den sogenannten goldenen Zeitaltern befassen, so ist es bemerkenswert, wie ähnlich sich die Schilderungen sind. In diesen Zeitaltern der Unschuld, in denen sich die menschliche Rasse noch in ihrer Kindheit befand, gab es weder Krankheit noch Tod, und auch Streit und Traurigkeit warfen noch keine Schatten. Auf der ganzen Erde war ewiger Frühling. Die Tiere lebten friedlich zusammen, und der Mensch herrschte unter ihnen als ihr Hirtenkönig. Er war noch frei von allem Materiellen, das später sein inneres Schauen verdunkelte, und so konnte er in allen lebenden Dingen die wahre Essenz erkennen und sich ohne Mühe mit der Blume, dem Baum und dem rasch dahinfließenden Bach unterhalten. Man erzählt, daß in jenen Tagen die Götter unter den Menschen wandelten und ihren aufnahmebereiten Gemütern Kenntnisse über die kosmischen Gesetze einprägten. Der Mensch befand sich mit allem so sehr in Einklang, daß keine Notwendigkeit für irgendeinen äußeren Ausdruck von Religion bestand, denn alles, was er tat, war zugleich Erfüllung seines Schicksals und heilige Handlung.
Doch die Götter taten mehr. Sie schlugen nicht nur diesen ersten spirituellen Grundton an, der noch äonenlang nachhallen sollte. Nach und nach lehrten sie auch die wichtigsten Voraussetzungen für eine Zivilisation: Ackerbau, Architektur, Wissenschaften und Künste. Auf dieser frühen Stufe mentalen Erwachens gab es sogar schon kulturelle Höhepunkte. Mit der Entwicklung des Geistes wurde jedoch auch die materielle Seite des Lebens stärker betont, und alle Überlieferungen berichten übereinstimmend, daß von da an die Menschheit langsam vergaß, daß sie ein Kind der kosmischen Sonne war, das mit seinen Mitgeschöpfen gemeinsam am physischen Lebensstrom der Mutter Erde teilhat. Die "Sünde des Getrenntseins" hatte ihren Einzug gehalten. Der angeborene innere Wunsch, mit den Gesetzen der Natur zusammenzuarbeiten, machte der Selbstsucht Platz. Die Laster der Habgier, der Eifersucht, des Hasses und der Unmoralität nahmen so überhand, daß die Götter auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung die Furie der Elemente entfesselten, um die Welt zu vernichten. Bestimmte Menschen durften überleben, weil sie standhaft tugendhaft geblieben waren. Sie besiedelten die neuen Länder, doch auch ihre Nachkommen entarteten wieder. Verschiedene mystische Erzählungen berichten, daß die Menschheit mehrmals durch Kataklysmen bestraft werden mußte.
Während des silbernen, bronzenen und eisernen Zeitalters verdichtete sich das menschliche Bewußtsein immer mehr. Das von den Göttern mitgeteilte Wissen wurde dem inneren Sinne nach nicht mehr verstanden, und die Schlüssel für dieses Verständnis gingen nach und nach dem größten Teil der Menschheit verloren. Bisher stellte die Lebensweise die einzige Form der Verehrung dar, doch nun wurden das Heilige und das Weltliche getrennte Aspekte. Zum ersten Male gab es eine Priesterkaste, zum erstenmal wurden Zeremonien und all die äußerlichen Dinge einer organisierten Religion notwendig. Doch jenen, die die Massen führten, waren die esoterischen Wahrheiten hinter den Riten immer noch bekannt. Zuweilen waren die weltliche und die priesterliche Autorität in ihrer Person vereinigt; sie waren oft hohe Initiierte der alten Weisheit. Da in allen menschlichen Angelegenheiten beständig Ebbe und Flut herrscht, so erreichte auch die Religion in manchen Zeiten unter diesen Priester-Königen eine große spirituelle Blüte. Zu anderen Zeiten wurden die Geistlichen nur wegen ihrer weltlichen Fähigkeiten in ihre Ämter gewählt, und die Lehren wurden meist nur in ihren exoterischen Aspekten verstanden. Wenn aber Zeiten kamen, in denen völlige moralische Finsternis herrschte, dann durfte dieses Wissen, soweit es noch vorhanden war, nicht offen bekanntgegeben werden, weil man fürchtete, daß die Menschheit es mißbrauchen und dabei sich selbst vernichten würde. Eine kleine vertrauenswürdige Gruppe bewahrte und behütete es und gab es von Generation zu Generation weiter. Doch sobald die Gesinnung der Menschen es erlaubte, loderte die Flamme aus der glimmenden Asche empor und verlieh mit ihrem Licht dem neuen Bewußtsein Ausdruck. In jeder Kultur oder Zivilisation war es tatsächlich das belebende Agens, was man selbst innerhalb der relativ kurzen Spanne unserer historischen Peripherie sehen kann. Eines der uns verständlichsten Beispiele, die uns bekannt sind, ist der Einfluß der Mysterien auf das öffentliche Leben im alten Griechenland.
Was die Religion anbetrifft, so ist unser Zeitalter voller Verwirrung. Überall werden Anstrengungen gemacht, alte Formen zu entfernen, und besonders im Westen erwarten die Menschen neue Unterweisungen. Seit vielen Jahrhunderten war die Suche nach der Wahrheit nie so umfangreich und intensiv. Es gibt kaum eine orientalische Philosophie, die nicht westliche Schüler findet, aber auch das Christentum hat kaum eine solche Welle von Erneuerungsbewegungen erlebt wie in den letzten Jahrzehnten. Es ist wie eine Ironie, aber zur gleichen Zeit, in der unsere Gesellschaft immer größere, technologische Vervollkommnung erlangt, besteht ein erhöhtes Interesse an den mystischen Überlieferungen der Indianer, einer Völkergruppe, die ihre Kultur in der verschiedenartigsten Weise zum Ausdruck bringt, aber, oberflächlich betrachtet, niemals eine 'große Zivilisation' aufgebaut hat, und ihre religiösen Überzeugungen fast nie zu Papier brachte. Die ganze 'zurück zur Natur'-Bewegung mit ihrer Rückkehr zu Anspruchslosigkeit und Einfachheit und die neue Betonung der Ökologie passen genau in dieses Bild: Der Indianer beachtete stets das harmonische Verhältnis in der Natur und nahm nur, was für seinen Unterhalt unbedingt notwendig war. Doch seine Vorstellung von einer psychologischen und spirituellen Symbiose ist ungeheuer eindrucksvoll, spricht sie doch für die Einheit allen Lebens, ein Begriff, der unserer Denkweise völlig fremd ist. Solange der Indianer seinen eigenen Weg gehen konnte, gab es für ihn niemals eine Trennung zwischen seinem eigenen Bewußtsein und der übrigen Natur, was für den westlichen Menschen so charakteristisch ist.
Es ist keinesfalls verwunderlich, daß diese Ideen Widerhall finden, denn die moderne Welt verlangt nicht ein neues System von Dogmen und Glaubensbekenntnissen; sie möchte vielmehr, daß das Heilige wieder von der gesamten Menschheit empfunden wird. Die Menschen verlangen nach etwas, das inneren Frieden bringt und dem Leben, das jetzt oft wertlos und wie ein uferloses Meer der Unwissenheit erscheint, Bedeutung verleiht. Wenn man die Anhänger der verschiedenen fremdartigen Sekten oder Jesusbewegungen fragen würde, warum sie gerade von ihrem speziellen Weg so angezogen wurden, so könnte die Antwort wohl lauten, weil sie hofften, aus erster Hand eine Offenbarung einer unbeschreiblichen Wahrheit oder vielleicht die Liebe Gottes zu erleben.
Es ist klar, daß wir uns auf der Suche nach einem neuen Lebensweg nicht an irgendeine der alten Formen zu wenden brauchen. Das wurde genügend von jenen bewiesen, die, ohne die inneren Werte einer schon vorhandenen Philosophie auch nur einigermaßen zu begreifen, nur die äußeren Formen annahmen oder einen Lebensstil nachahmten und dann noch verwirrter waren als zuvor. Wenn man die formalen Riten befolgt, so bedeutet das nicht unbedingt, daß man den zugrundeliegenden esoterischen Inhalt erkennt. Beim augenblicklichen Stand der Entwicklung können die Wahrheiten, die durch einen symbolischen Schleier angedeutet werden, von der Intuition auch ohne das Durcheinander der sichtbaren Zeremonien erfaßt werden. Die Zeiten sind vorüber, in denen fast die ganze Bevölkerung Athens jedes Jahr nach Eleusis strömte, um die Mysterien zu feiern. Es wäre auch nicht mit unserer Zeit in Einklang zu bringen, wenn wir selbst untätig Belehrung und Führung durch eine Priesterschaft erhielten, auch wenn sie in diesen Dingen fortgeschrittener wäre als wir. Jeder Mensch muß sein eigener Priesterkönig sein und seinen eigenen Kampf um Erleuchtung führen, wenn er spirituelle Reife erlangen will, um dann den Sieg auf dem Altar des Lebens niederzulegen.
Unsere Zeit erinnert in vieler Hinsicht sehr stark an die vorchristliche Ära, als die zivilisierte Welt an den Küsten des Mittelmeers von östlichen Kulten und religiösen Ideen überschwemmt wurde, nachdem die dort vorhandenen Religionen fast nur noch vergoldete Schalen waren, die einst einen lebendigen Kern enthielten. Mehrere Jahrhunderte hindurch existierten die verschiedenen Strömungen nebeneinander. Ideen wurden ausgetauscht, Lehren wurden angenommen und angepaßt, und aus ihrer Verschmelzung entsprang neuer Glaube. Wenn man das Ganze leidenschaftslos vom geschichtlichen Standpunkt aus betrachtet, so könnte es fast scheinen, als sei von den verschiedenen einflußreichen Richtungen das Christentum nur aufgrund einer Laune des Schicksals zur Weltreligion für die kommenden Jahrhunderte geworden. Daß in dieser ganzen Zeitperiode auf irgendein neues Ereignis gewartet wurde, ist deutlich zu verspüren, auch wenn es nirgends direkt zum Ausdruck kommt. Für die Juden bedeutete es die Ankunft des Messias.
Heute sehnt sich die Menschheit wieder einmal nach einer spirituellen Verjüngung. Für die meisten ist es unbewußt, doch manche erwarten sogar bestimmt innerhalb dieser Dekade eine neue Botschaft oder einen neuen Boten, wobei sie sich damit auf die Überlieferung stützen, die besagt, daß im letzten Viertel eines jeden Jahrhunderts ein neuer Impuls gegeben wird. Andere glauben, daß wir mit dem Übergang der Sonne vom Sternbild der Fische in das des Wassermann am Anfang eines neuen messianischen Zyklus angelangt sind und deshalb eine solche Verkörperung fällig ist. Wie unsere persönliche Meinung auch sein mag, es ist gut, die gegenwärtigen Bestrebungen zu überblicken und sie in ihrer richtigen Perspektive zu sehen. Wir können im Gedankenleben unserer Welt nie Zuschauer sein, denn der "Zeitgeist" wird von der Gesamtsumme aller Menschen, die zu einer bestimmten Zeit leben, gebildet. In den 1970er Jahren gehören auch 'Sie und ich' dazu.
Seit der Mensch die Fähigkeit besitzt, denken zu können, sind zahllose derartige Anstrengungen gemacht worden. Über einige besitzen wir schriftliche Aufzeichnungen. Beim Lesen dieser Heiligen Schriften verdrängt ein Gedanke alle anderen: Wieviel Weisheit ist bisher übermittelt worden, und wie erstaunlich wenig haben wir, individuell und kollektiv, damit angefangen? Die Lehren von Christus und Buddha hätten uns in Heilige verwandeln können, wenn wir willens gewesen wären, danach zu leben. Statt dessen wurden im Namen Christi große Kriege geführt und unaussprechliche Greuel verübt, während im Osten ganze Völker in spirituelle Lethargie verfielen, weil sie die Begriffe von Karma und Reinkarnation völlig exoterisch auffaßten. Es ist deshalb klar, daß keine neuen Wahrheitslehren, kein Erscheinen eines Boten an sich den Fortschritt der Menschheit auch nur um einen Zoll weiterbringen kann.
Ein weiterer Gedanke: Wenn wir eine solche Botschaft erhielten, inwieweit könnte sie sich von all den vorhergehenden grundlegend unterscheiden? Wenn wir nämlich die Fragmente aus früheren Zeiten studieren, so werden wir bald einen gemeinsamen Nenner entdecken, woraus ersichtlich ist, daß es nur endlos verschiedene Formen, aber niemals verschiedene Grundmotive gibt. Es gab Zeiten, wo es überhaupt keine äußere Form gab, und doch war diese Urform der Religion, ohne äußerliche Formen, ohne einschränkende Gesetzbücher und Dogmen, wo nur bloßes Vertrauen auf die Überlieferung bestand, jahrtausendelang eine lebendige Kraft. Aufgrund dieser Beurteilung kann das Gefäß, in das der Wein der Wahrheit gegossen wird, nicht das Wichtigste sein, wenn es auch dem Bedürfnis der Zeit und den Umständen angepaßt ist. Was aber die ewigen Grundwahrheiten selbst anbetrifft, so könnte man sich fragen, ob nicht schon genug gesagt worden ist, so daß es für die Menschheit bis ans Ende ihrer Tage auf Erden ausreicht.
Der Haupteinfluß einer Neuformulierung der uralten Weisheit geht von jenen aus, in denen der Impuls Widerhall findet, denn diese Menschen werden nach und nach eine lebendige Verkörperung der kosmischen Gesetze werden. Der größte Unterschied wird wahrscheinlich in diesem Jahrhundert darin liegen, wie die Empfänger diese Weisheit aufnehmen und nicht unbedingt in dem, was gelehrt wird.
Oft werden die Unzulänglichkeiten der menschlichen Rasse einfach überbetont, so daß wir völlig übersehen, welche Veränderungen der Mentalität im Vergleich mit dem, was wir vor hundert Jahren als Gipfel der Gefühllosigkeit betrachteten, stattgefunden haben. In allen Altersgruppen besteht unter den Menschen ein Geist der Hilfsbereitschaft. Die Nöte der anderen werden wahrgenommen, und in den Punkten, bei denen man nicht übereinstimmt, toleriert man einander. Es ist, als sei das kollektive Gewissen der Menschheit erwacht, als wären ihr die Augen geöffnet worden, denn Krieg zu führen wird nicht mehr als etwas Ruhmvolles, sondern als etwas Beschämendes angesehen. Armut und Elend sind nicht mehr der Wille Gottes, sondern werden als heilsam betrachtet, und man beginnt, nach Mitteln und Wegen zur Verbesserung zu suchen.
Immer mehr Menschen sehen zwischen sich und den anderen keinen Unterschied mehr. In Wahrheit sind sie auch der andere, denn beide kommen aus der gleichen göttlichen Quelle. Das alles wurde bereits von jeder Religion gelehrt, aber wenn es einmal als lebendige Wirklichkeit angenommen wird, daß Bruderschaft, Selbstlosigkeit und die Achtung vor dem Leben nicht mehr länger bloße intellektuelle Begriffe oder mystische Ideale sind, sondern wenn sie eine dynamische Kraft in unserer Gesellschaft werden, dann könnte das zwanzigste Jahrhundert sehr wohl als Wendepunkt in die Geschichte der Menschheit eingehen. Wenn immer mehr Männer und Frauen diese Botschaft in ihrem Herzen akzeptieren und willens sind, individuell und kollektiv ihrem Glauben entsprechend zu handeln, könnte das nicht die Verkörperung des spirituellen Impulses dieses messianischen Zeitpunktes sein?
Wenn die Besorgnis um andere zum leitenden Motiv wird, vielleicht wird dann das Heilige wieder zu einem Teil des täglichen Lebens, denn die Trennungslinie zwischen dem, was heilig und dem, was profan ist, besteht nur, weil wir beides nicht als die zwei Aspekte derselben Sache erkennen. Die Motivierung hinter jeder Handlung macht sie edel oder unedel.
Wenn wir uns an die verschiedenen Überlieferungen halten, so leben wir jetzt im eisernen Zeitalter, oder wie die Hindus es nennen, im Kali-Yuga, in dem das Materielle die Oberhand hat. Wir können aber auch alles in einem ganz anderen Licht betrachten: Während im goldenen Zeitalter das Spirituelle natürlich und ungehemmt fließen konnte, wird im eisernen Zeitalter die Menschheit aufgefordert, vorwärts zu schreiten, um mit der brennenden Fackel die Dunkelheit zu erhellen. Die Kämpfe waren niemals härter, doch zu keiner Zeit sind die Tore für die Weiterentwicklung weiter geöffnet.
Wenn auch das Paradies für den Menschen verloren ist, so ist es dennoch töricht, den Verlust dieser idyllischen aber unreifen Phase unseres Daseins zu bedauern. Es wäre das gleiche, als würden wir den Wunsch hegen, in die Sicherheit des Mutterschoßes zurückzukehren. Die Evolutionsreise ist lang und schwierig, und trotzdem müssen wir sie alle machen.