Ein Taubennest auf einer Zeder
- Sunrise 1/1975
Auf der alten Zeder über mir befindet sich fast am Ende eines abgesägten Astes ein Taubennest. Dieses ragt auf beiden Seiten beträchtlich über den Ast hinaus, auf dem es angebracht ist, und ich wundere mich, wie es den Eltern möglich ist, die sichere Größe für das Nest zu planen, oder es so zu befestigen, daß es den heftigen Winden standhält, die manchmal auf den Bergen wehen.
Während wir der Taubenmutter beim Füttern ihrer eben flügge gewordenen drei Jungen, die kleinen Wollknäueln gleichen, zuschauen, beeindruckt mich wieder diese wundervolle Vorstellung, wie Körner und Insekten in Knochen, Muskeln, Federn, Schnabel und Augen umgewandelt werden. Jeder Teil des kleinen Körpers wird genau so, wie er werden soll und jeder Teil wächst im richtigen Verhältnis zu allem übrigen. Kein Fuß wird größer als der andere, und keine Feder entwickelt sich, wo eine Kralle sein sollte. Wenn man auch die bemerkenswerte chemische Metamorphose der Substanz akzeptiert und die Rolle, die die Gene beim Aufbau spielen, gelten läßt, so sind diese doch nur Agenten bei der Ausführung des Gesamtplanes. Wer oder was entwarf diesen Plan? Wie können bei einem Säugetier die Muttermilch und später die vielen verschiedenen Nährstoffe schließlich einen Körper bilden, der ständig wächst und in allem proportional größer wird? Und wie hört später das gleiche Material wieder auf, den Körper zu vergrößern, nachdem es ihn zuerst stärker und dann schwächer werden ließ, bis er schließlich verbraucht ist?
Die Organismen und ihre Konstruktionen sind von Experten gründlich studiert worden. Sie kennen die chemischen Vorgänge und können beschreiben, was beim Wachstum und Altern vor sich geht, aber bis jetzt hat man keine Ahnung von den Ursachen, die diese Erscheinungen erzeugen. Daß aber ein genauer Plan zugrundeliegt, ein unsichtbares Vorbild für eine Taube oder ein Pferd, ist ganz offensichtlich eine Tatsache. Nie können einem Pferd Federn oder einer Taube Hufe wachsen.
Während wir zuschauten, hielt sich der Taubenvater in der Nähe auf, bereit zum Kampf, falls diese großen Wesen da unten für das Nest eine Gefahr sein sollten (fälschlicherweise wird allgemein angenommen, Tauben seien keine mutigen Kämpfer). Nach einer Weile schien er beruhigt zu sein, und er gesellte sich zu seiner Familie. Warum dieses Warten? Was beruhigte ihn? Sicherlich konnte er unsere Sympathie-Bemerkungen nicht verstehen. Doch, wenn ich ihn jetzt sehe, wie er unbesorgt seinem Geschäft nachgeht, so zweifle ich nicht daran, daß er irgendwie weiß, daß diese riesigen, erdgebundenen Wesen im Schatten der duftenden Zeder ihm freundlich gesinnt sind. Irgend ein innerer Sinn vermittelte ihm mit der Zeit das Gefühl der Sicherheit, weshalb er in seiner Aufmerksamkeit nachlassen konnte.
Es ist bekannt, daß alle sichtbaren und unsichtbaren Substanzen beständig in Fluß sind. Wir nähren uns buchstäblich voneinander. Das Geben und Empfangen kann widerwillig oder gerne geschehen, aber es ist das ganze Leben hindurch unabwendbar. Es beschränkt sich auch nicht nur auf die Nahrung, viel einflußreicher sind die unsichtbaren Lebensströme, die von Körper zu Körper und von Herz zu Herz fließen. Wir nehmen von allen Naturreichen in uns auf und tragen ebenso zu deren Ernährung bei. Der Duft der Zeder tritt genauso in die Lunge ein wie der Smog der Großstädte; die Werbesendungen im Fernsehen wirken ebenso auf unser Bewußtsein ein wie eine Beethoven-Symphonie. Es gibt keine Ausnahmen. Selbst der Eremit in seiner Höhle ist nicht immun gegen den Gedanken des Komödianten in der Stadt, wenn ihnen irgend etwas Gemeinsames zugrundeliegt.
Alles wächst und verändert sich in seiner Zusammensetzung, während die Teile, aus denen sich alles zusammensetzt, in ihrer eigenen Sphäre ebenfalls wachsen. Und dennoch bleibt jede einzelne Wesenheit im wesentlichen sie selbst. Bis sich der Mensch im hohen Alter zu seiner letzten Ruhe begibt, verbleibt bei ihm von Kindheit an der Sinn für die eigene Persönlichkeit, auch wenn die Eigenschaften des Verstandes und des Körpers, seine emotionelle Reife, seine Einsicht und sein Erkenntnisvermögen beständig umgewandelt wurden und er sowohl an den Sünden und Torheiten als auch an der Würde und Größe seiner Zeitgenossen und der vergangener Generationen teilnahm. Denn etwas bildet die Grundlage, das beständig intakt bleibt, nicht vergeht und Abstand hält. Unaufhörlich lockt ein Schimmer größeren Lebens, das Immerwerdende. Im gesamten Kosmos - das Eine hat sich in allen seinen Teilen offenbart - erwartet uns eine erhabenere Bestimmung, wenn wir bewußt auf die innere Stimme hören und wohl unterscheiden, daß sie aus der Vollkommenheit unseres tiefsten und zukünftigen Selbstes stammt. Nicht nur von dem Ego als solchem, das uns vom Ganzen trennt, sondern von der Essenz allen Lebens, die durch jeden von uns unvollkommen repräsentiert wird.
Die Vögel auf der Zeder sind an ihr Taubendasein gebunden, bis sie innerlich darüber hinausgewachsen sind, genau wie der Mensch eine Zusammensetzung aus dem Irdischen, dem Höchsten und dem Dazwischenliegenden bleibt und beständig wählen muß, wo er seinen "Schatz" aufbewahren soll, bis er im Verlauf von Zeitaltern des Wachstums nach und nach gottgleich wird. Das Wachsen des Bewußtseins und des Erkenntnisvermögens ist die natürliche Folge sich erweiternder Sympathien. "Mit allem eins werden" ist keine bloße sentimentale Redensart; es ist das Endergebnis der selbstlosen Hingabe an das Ziel des Universums. Das ist der entgegengesetzte Pol dessen, was die Alten die "Ketzerei des Sonderseins" nannten - die einzige Ketzerei, die sie anerkannten. Je mehr wir unsere Willensanstrengungen mit einem wachsenden Mitleid für alle Lebewesen verbinden, desto näher kommen wir dem göttlichen Zentrum in allem Lebenden, einschließlich uns selbst. Das ist die Folge unpersönlicher Liebe, die Vollkommenheit erreicht hat, ein Vergessen des Getrenntseins der Wesen in den materiellen Sphären, eine Vereinigung mit dem Göttlichen, das alles belebt, was je existiert.