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Theosophische Perspektiven

In den vergangenen Jahren haben wir von Lesern aus den verschiedensten Teilen der Welt Fragen über Theosophie und deren grundlegende Begriffe erhalten, die bisher individuell behandelt wurden. Da jedoch die meisten der erörterten Themen allgemein interessieren dürften, wollen wir einige der Fragen künftig im Sunrise bringen. Fragen und auch Kommentare über alle Aspekte der Theosophie und ihren Einfluß auf die Erfahrungen des menschlichen Lebens sind immer willkommen.

 

 

 

Karma setzt ein umfassendes Studium über Harmonie und Ordnung voraus, auf einer Ebene, die die menschlichen Möglichkeiten übersteigt. Fälschlicherweise wird oft angenommen, daß dabei Kräfte im Spiele sind, die unabhängig von ihrem Verursacher wirken. Dieser ist aber kein anderer als der Mensch selbst, ob er nun einzeln oder kollektiv handelt. Ein starker Wunsch, die Wahrheit zu erkennen, die den Dingen zugrunde liegt, bringt immer Hilfe in Form von Anregungen, die dann im Schmelztiegel des eigenen Beurteilungsvermögens ausgewertet und überprüft werden müssen.

Der folgende Brief berührt eine Menge Fragen, die jedem vertraut sind, der nach der Ursache und den Erklärungen sucht, warum unser individuelles Leben so kompliziert und die gemeinschaftlichen Beziehungen in Familie, Gemeinde, Nation und Welt so schwierig sind.

 

Die Probleme dieser Zeit drängen mich, in den verschiedensten Schriften zu suchen. Ich hoffe, Sie können mir ein wenig dabei helfen, die Dinge zu klären.

Wenn wir, die wir jetzt leben, für eine bessere Zukunft arbeiten, wie kann dies durch das karmische Gesetz bewerkstelligt werden? Meiner Meinung nach müssen wir doch, wenn wir in einem früheren Leben jemanden geschädigt oder ermordet haben, eine gleichartige Erfahrung machen. Wird dadurch nicht wieder schlechtes Karma erzeugt? So kann doch unsere Welt nie vollkommen werden, sondern wird sich immer im Zustand dauernder Vergeltung befinden.

Ist es vielleicht möglich, in die Vergangenheit zurückzugehen bis zu dem Punkt, wo der Fehler zuerst gemacht wurde, um an der Wurzel des Problems anzufangen? Dann könnte das schlechte Karma in der Vergangenheit korrigiert und schließlich die vollkommene Welt der Zukunft herbeigeführt werden?

Ich könnte mir vorstellen, daß die Antwort in unserer Zeitvorstellung liegt. Wir können alles nur von unserem gegenwärtigen Bewußtseinszustand aus betrachten. Gibt es einen Daseinszustand, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verflechten?

 

Diese Fragen entstehen in uns selbst und jeder von außen kommende Kommentar - ganz gleich woher er kommt - muß mit der Frage einen vollständigen Kreis bilden, so daß jeder einzelne die Antwort von sich aus finden kann. Es gibt in The Secret Doctrine (Die Geheimlehre) eine Stelle, die sich vielleicht als hilfreich erweisen kann:

Denn das einzige Gesetz des Karma - ein ewiges und unveränderliches Gesetz - ist unbedingte Harmonie in der Welt des Stoffes, so wie sie es ist in der Welt des Geistes. Nicht Karma ist es daher, das belohnt oder bestraft, sondern wir belohnen oder bestrafen uns selbst, je nachdem wir entweder mit, mittels und gemäß der Natur wirken, indem wir den Gesetzen, von denen diese Harmonie abhängt, gehorchen oder - sie brechen.

Auch wären die Wege Karmas nicht unerforschlich, wenn die Menschen in Einigkeit und Harmonie wirken würden, anstatt in Uneinigkeit und Streit. Denn unsere Unkenntnis dieser Wege - welche ein Teil der Menschheit die Wege der Vorsehung nennt, dunkel und verworren, während ein anderer in ihnen die Wirkung des blinden Fatalismus sieht und ein dritter einfachen Zufall, ohne Götter und ohne Teufel zu ihrer Leitung - würde sicherlich verschwinden, wenn wir nur sie alle ihrer richtigen Ursache zuschreiben würden. Mit der richtigen Erkenntnis, oder zum mindesten mit einer vertrauensvollen Überzeugung, daß unsere Nachbarn ebensowenig darauf sinnen, uns zu schädigen, als wir daran denken, sie zu kränken, würden zwei Dritteile des Weltübels in leere Luft vergehen. Wäre kein Mensch dazu bereit, seinen Bruder zu verletzen, so hätte Karma-Nemesis weder Ursache, deshalb zu wirken, noch Waffen, um durch dieselben zu handeln. Die beständige Anwesenheit in unserem Gemüte von jeder Art Streit und Widerstand, und die Einteilung der Rassen, Völker, Stämme, Gesellschaften und Einzelwesen in Kain und Abel, Wölfe und Lämmer, sind die Hauptursachen der "Wege der Vorsehung." Wir schneiden diese zahlreichen Windungen in unsere Schicksale täglich mit unseren eigenen Händen, indes wir uns einbilden, daß wir eine Spur auf der königlichen Heerstraße der Ehrbarkeit und Pflicht verfolgen, und dann uns beklagen, daß diese Windungen so verworren und so dunkel sind. Wir stehen verwirrt vor dem Geheimnisse, das wir selbst geschaffen, und vor den Rätseln des Lebens, die wir nicht lösen wollen, und dann klagen wir die große Sphinx an, daß sie uns verschlingt. Aber fürwahr, es gibt keinen Zufall in unseren Leben, keinen mißratenen Tag und kein Mißgeschick, die nicht auf unsere eigenen Taten in diesem oder in einem anderen Leben zurückgeführt werden könnten...

Karma-Nemesis ist nicht mehr, als die (geistige) dynamische Wirkung von Ursachen, hervorgebracht durch unsere eigenen Handlungen, und von Kräften, die von ebendenselben zur Tätigkeit erweckt wurden. Es ist ein Gesetz der okkulten Dynamik, daß "eine gegebene Menge von Kraft, aufgewendet auf der geistigen oder astralen Ebene, viel größere Wirkungen hervorbringt, als dieselbe Menge, aufgewendet auf der körperlichen gegenständlichen Daseinsebene."

- englische Ausgabe, Band I, S. 643-44; deutsche Ausgabe, Band I, S. 704-706

Anders als bei den Gesetzen der Physik, folgt Karma dem Gesetz der geistigen Ebene, die sich nicht erklären läßt, aber in Zusammenhang mit den physikalischen Erscheinungsformen gebracht werden kann. Da Karma jeden Augenblick aktiv ist, in dem Bestreben, aus dem Konflikt wieder Ordnung und Harmonie herzustellen, nehmen wir zuerst die Wirkungen wahr, die uns dann veranlassen, über die Ursachen nachzudenken - und auch über die wundersamen Dinge, die sich überall abspielen, wie das pulsierende Herz und die Lebenskraft, die durch den einzelnen Menschen und den Kosmos, mit dem er verbunden ist, fließt.

Sie werden sicher bemerkt haben, daß der Zeitbegriff, der für karmische Aktionen und Reaktionen gültig ist, anders sein muß, als der für eine Küchenuhr. Vielleicht kann man Ereignisse als Maßstab zugrunde legen. Sobald wir durch unsere Gedanken und Handlungen etwas gestalten, reagiert Karma unverzüglich und vollendet den Kreislauf, und zwar genau dem Kraftaufwand und der Qualität des verursachenden Impulses entsprechend.

Ich hoffe, dieser Auszug aus der Geheimlehre wird auch Ihre Frage "Gibt es einen Daseinszustand, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verflechten?" beantworten.

Sie können darin auch eine Erklärung für den Ausspruch "Auge um Auge" finden, der so oft mißverstanden und manchmal mit Karma in Beziehung gebracht wird. Ich glaube, Karma befaßt sich mit Eigenschaften und nicht mit gegenständlichem Denken, und es erinnert uns ständig an die verheerenden Wirkungen, die durch Vergeltung erzeugt werden.

- A. G. H.

 

 

 

Die Vorstellung von Saat und Ernte, von Ursache und Wirkung, erscheint so einfach, sie kann aber sehr kompliziert sein. Die Wirkungen sind nicht nur rein mechanische Reaktionen auf vergangene Handlungen und Gedanken. Sie lassen sich auch nicht vorausberechnen, wie chemische Formeln, weil die Betroffenen die Entscheidungs- und Willensfreiheit haben, neue Wege einzuschlagen. Nehmen wir an, es wird eine Ursache geschaffen, die nun in diesem oder in einem späteren Leben eine Reihe von Wirkungen von bestimmter Qualität nach sich zieht. Diese Wirkungen können wir nicht vermeiden, aber es gehören so viele Faktoren zu der menschlichen Gleichung, daß meiner Ansicht nach das künftige Karma wahrscheinlich mehr den zukünftigen Umständen angepaßt sein wird und durch die einzelnen Personen in ihrer zukünftigen Beschaffenheit geändert wird.

In den Waagschalen von Ursache und Wirkung liegen eine Reihe schwerwiegender Faktoren, die verhindern, daß sich ein tödlicher Kreislauf bilden kann. Angenommen, es handelt sich um eine Beleidigung, jedoch der Beleidigte übt keine Vergeltung - ja mehr noch - er vergibt! Wenn das Karma dieses Vorfalls zu den beiden Menschen zurückkehrt, wird zumindest einer von ihnen nicht den schädlichen Gedanken oder Handlungen ausgesetzt sein. Somit ist eine Gelegenheit gegeben, die aus früheren Ursachen entstandenen Wirkungen umzuwandeln.

Wie ganz anders ist das als die blinden, gedankenlosen Reaktionen, die oft die menschlichen Beziehungen bestimmen und die ursprüngliche Ausgangssituation noch verschlimmern, bis sich die beiden Parteien (und viele Menschen ihrer Umgebung mit ihnen) schließlich in einem wirklichen Hexenkessel befinden. Gedankenlose Vergeltung, ob physisch oder emotionell, verlängert nur die ursprünglichen Impulse, und die beiden Widersacher verhalten sich beinahe wie zwei Chemikalien, deren wechselseitige Reaktionen voraussagbar sind. Glücklicherweise ist der Mensch äußerst vielfältig und selten wirklich verdorben.

Ein anderer Aspekt, der hier mit zu betrachten ist, sind die Veränderungen, die wir in unserem eigenen Wesen vollziehen. Wir treten jedem Augenblick mit den Werkzeugen entgegen, die wir selbst geschmiedet haben: das sind unser Charakter, unser Wille, unser Verstand, aber auch unsere Fehler und Kurzsichtigkeit. Wenn wir mit irgend jemandem in einen glücklichen oder unglücklichen Zwischenfall verwickelt werden (Karma aus unserer Vergangenheit), dann setzen wir künftiges Karma in Bewegung. Die Wirkung kann sofort, aber auch später in diesem Leben eintreten. Es ist sogar möglich, daß sie sich erst in einer künftigen Inkarnation zeigt. In der Zwischenzeit haben wir vielleicht auf Grund dieser oder jener Erfahrung mehr Verständnis entwickelt, ein größeres Mitgefühl; wir haben vielleicht gelernt, daß wir nicht zurückschlagen sollen. Daher werden wir, wenn irgendein altes Karma zurückkehrt, nicht mehr auf dem gleichen Niveau stehen wie früher. Wir werden dann imstande sein, die mit einer Situation in Zusammenhang stehenden Gefahren zu erkennen und eine Reaktion vermeiden, mit der wir andere verletzen, und die zu einer unangenehmen Beziehung weiterhin Veranlassung geben könnte.

Die Gedanken des Fragestellers über die Zeit in bezug auf Karma geben Anlaß zum Nachdenken. "Unser gegenwärtiger Bewußtseinszustand" ist unsere eigene Wirklichkeit. Die Vergangenheit ist vorbei, ausgenommen der Bereich, in dem die Saaten gesät waren; und die Zukunft existiert nur als eine Möglichkeit. Ob wir über die Vergangenheit nachsinnen oder von der Zukunft träumen, es ist stets "unser gegenwärtiger Bewußtseinszustand", in dem wir uns wirklich befinden. Wir sind in diesem Augenblick unser Karma und auch in allen folgenden wirklichen und möglichen 'gegenwärtigen' Augenblicken. Wir haben uns zu dem gemacht, was wir jetzt sind, und sind dabei herauszubilden, was wir im Laufe der Zeit sein werden. Wir sind gewissermaßen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem: Es ist der lebendige Schauplatz des Jetzt, auf dem alte Fäden in das Muster der Zukunft gewoben werden. Daher die Aufforderung "Vergeudet keine Zeit mit Reue" - wir können aus der Vergangenheit lernen, gewiß, und wir können uns allgemein auf die Zukunft vorbereiten. Unsere wirkliche Aufgabe aber ist es, den gegenwärtigen Augenblick so weise wie nur möglich zu nutzen. Das Übrige können wir getrost der nie irrenden Gerechtigkeit und dem Mitgefühl der Natur überlassen.

- J. P. V. M.

 

 

 

Wie kann man je dem 'Karussell' Karma entfliehen? Wenn ich jemandem ein Unrecht zufüge, worauf Karma mir später ein entsprechendes Ergebnis bringt, auf das ich wieder reagiere, setzt sich die Kette unendlich fort.

Mir scheint, der befreiende Weg liegt in der Befolgung der Ermahnung, wie sie in dieser oder jener Form in jeder der großen Religionen zu finden ist: Behandle jeden so, wie Du von anderen behandelt werden möchtest oder, wie es manchmal auch ausgedrückt wird: "Was Du nicht willst, daß man Dir tu', das füg' auch keinem andern zu." Das heißt, wir sollen auf Ungerechtigkeiten, die uns zugefügt werden, nicht in gleicher Weise reagieren, sondern Reaktionen entwickeln, die die Interessen der anderen genauso berücksichtigen wie die unseren.

So zu handeln ist der Beginn des Altruismus, ein Anfang, zum Wohle der Menschheit zu leben. Es ist, wie mir scheint, der einzige Weg, dem Karussell des Egoismus zu entkommen, denn nur so kann eine höhere und spirituellere gegenseitige Beeinflussung beginnen. Diese universale Formulierung, bekannt als die Goldene Regel, ist vielleicht der kraftvollste spirituelle Rat, der je der menschlichen Rasse erteilt wurde.

- B. A. M.