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Lass Deine Seele kühn und gefasst...

"Und ich sage zu Mann oder Weib:

Lass Deine Seele kühn und gefasst vor Millionen von Weltalls stehn"

 

 

 

Ich glaube, der Triumph Walt Whitmans liegt wohl darin, daß er, trotz seines sturmbewegten, aber stets von Mitleid erfüllten Lebens, unerschütterlich und gefaßt der Welt gegenüberzustehen vermochte. Aus übervollem Herzen sang er, daß das Leben und nicht der Tod ewig ist; daß der Geist und nicht die Materie, daß Liebe und nicht Haß dem Menschen, der Pflanze, dem Stern, ja selbst der kleinen Ameise den Impuls für die Geburt bringen.

Doch wir befinden uns heute in einer Welt, die mit Leid schwer beladen und durch menschliche Selbstsucht verfinstert ist. Was ist real? Gibt es tatsächlich "eine Gottheit, in die wir einmal eingehen werden"? Schon so manche Zivilisation erlebte eine Zeit der Blüte und verschwand dann wieder vom Antlitz der Erde. Besteht irgendeine Gewißheit, daß wir heute die gegenwärtigen dunklen Schatten überwinden können?

Vielleicht waren es solche Gedanken, die eine Abonnentin veranlaßten, zu schreiben, daß sie Sunrise nicht länger lesen möchte, denn "die Herausgeber werden nicht müde, uns von unserer Göttlichkeit überzeugen zu wollen. Die Welt nähert sich aber so rasch der Zerstörung, daß wohl nicht mehr genügend Zeit ist, das schlechte Karman, das wir selbst verursacht haben, noch zu ändern."

Das ist eine interessante Feststellung, für die wir dankbar sind, denn sie veranlaßte uns, noch gründlicher über unsere eigene Motivierung nachzudenken, um sicher zu sein, daß wir unser Ziel getreulich weiterverfolgen: An der Suche nach dem Ariadnefaden mitzuhelfen, der uns alle aus den labyrinthischen Verstrickungen unserer irdischen Schwächen herauszuleiten vermag. Fast mit gleicher Post erhielten wir einen anderen Brief von dieser Seite des Atlantischen Ozeans, dessen Inhalt sich ganz anders anhörte: "Ich hoffe immer noch, daß ein größerer Lichtschimmer den Tumult dieser Welt erhellt, obwohl es oft schwerfällt, sein Gleichgewicht zu bewahren, wenn man so manche Ereignisse betrachtet. Aber wenn man bedenkt, wieviele dunkle Täler die Menschheit in vergangenen Zeiten hin und wieder durchlief und dann doch irgendwie im großen Gang der Zeit gesundete, dann kann man darauf vertrauen, daß der Gesamtkurs - trotz aller Rückschritte - vor- und aufwärts geht."

Wir sind davon fest überzeugt, denn die Morgenröte einer besseren Zeit steht ganz offensichtlich bevor, auch wenn es nicht so zu sein scheint. In den letzten Wochen hatte ich vielfach Gelegenheit, die Meinung von Menschen zu hören, deren ethnische und soziale Herkunft ganz unterschiedlich waren. Der dominierende Grundton des allgemeinen Interesses und des Einfühlungsvermögens dabei war ermutigend. Whitman würde einen "göttlichen Kontakt" mit der Zeit gefunden haben. "Und wer nur eine Stunde Wegs ohne Mitgefühl wandert, der geht zu seinem eigenen Begräbnis, gehüllt in sein Leichentuch..." Lesen Sie nach, wie unermüdlich und mit welch unendlichem Zartgefühl er während des amerikanischen Bürgerkrieges vor über hundert Jahren in den Notlazaretten für die Verwundeten sorgte. Er fragte nicht, was sie fühlen: "Ich selbst wurde zu den Verwundeten" - er ist der Jüngling aus Connecticut, der Soldat aus Ohio. Er spendet aus der Fülle seines Herzens, beschenkt sie mit sauberer Wäsche und Seife und schreibt Hunderte von Briefen für diese tapferen, jungen Menschen.

Bei diesem Dichter mit kosmischer Weitsicht war jede Äußerung ein Ausströmen aus der Einheit des Lebens, dem mitleidsvollen Herzen des Seins -; sind das nicht auch die Insignien der heutigen Zeit?

Wie stark zeigt sich der Wunsch, zu helfen, mit geistig oder körperlich Behinderten zu arbeiten und zu versuchen, die weitverbreitete Ausbeutung in unserer Welt, wenn nicht zu beseitigen, so doch zu mindern! Neben diesen Dingen kann man auch bemerken, daß Äußerlichkeiten, Heuchelei und intellektuelle Sophisterei abgelehnt werden und daß rastlos aber beharrlich nach den Ursachen unserer Schwierigkeiten gesucht wird. Liegt der menschlichen Existenz eine göttliche Substanz zugrunde oder nicht? Wenn ja, dann sollten alle intellektuellen und physischen, ja alle seelischen und geistigen Probleme von diesem Gesichtspunkt aus gesehen und erforscht werden.

Mit welchen philosophischen Interessen sich der einzelne befaßt, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Es ist ganz gleich, ob es sich um die Wanderungen der Seele nach dem Tode bei den alten Ägyptern, um die Überlegungen der Griechen über die Einheit, die sich in einer Vielzahl von Formen manifestiert hat, um den chinesischen Weg oder das Tao, oder um die Verehrung der Erde durch die Indianer, die für diese eine Gabe des Großen Geistes ist, handelt. Die Suche nach universalen Dingen ist so in den Vordergrund getreten, daß es nicht ungewöhnlich ist, wenn Diskussionen hierüber zwischen Menschen aus allen Altersgruppen stattfinden. Achtzehnjährige unterhalten sich angeregt mit Achtzigjährigen, wobei aus der Unterhaltung allein sich nicht schließen läßt, wer der Jugendliche und wer der betagte Lebenswanderer ist. Alle sind intensiv bemüht, den Weizen der Wahrheit aus der Spreu überkommener Ansichten zu gewinnen und zu erkennen, was die Völker aller Länder, einschließlich der sogenannten primitiven Völker, über Geburt und Tod und Wiedergeburt dachten und noch denken. Dazu kommt noch die Frage, ob der Zweck des evolutionären Dranges wirklich der ist, den sie vorbringen: daß die Lebensessenz - das wirklich Wahre, wie es die Neuplatoniker nennen - neue Ausdrucksmöglichkeiten finden und neue Siege des Geistes erringen kann.

Um zu unserer Abonnentin zurückzukehren, die nicht immerzu hören möchte, daß der Mensch in seinem Innersten ein Gott ist, so können wir die Tatsachen der Natur nun einmal nicht ändern, ganz gleich, was der eine oder andere darüber denken mag. Jedes Teilchen, jedes Pünktchen des Bewußtseins in der ungeheuren Weite des Weltalls ist lebendig, beseelt mit Göttlichkeit; eine wunderbare Einrichtung, denn selbst die dichtesten Formen der Materie sind aus unendlich kleinen Wesenheiten zusammengesetzt, von denen jede im innersten Kern ihres Selbstes ein Gottesfunke ist, der seine Atomseele anspornt, inspiriert und ihr Antrieb verleiht, sich immer wieder zu verkörpern, damit sie im Laufe der Zeitalter in immer weitere Erfahrungsbereiche hineinwachsen kann. Wenn Göttlichkeit das Atom bewegt, wieviel mehr beeinflußt sie dann erst das menschliche Herz und die unvorstellbare Zahl von Sternen, die nachts das dunkle Firmament beleuchten.

Als Zivilisation haben wir vielleicht eine lange und schwierige Zukunft vor uns, denn die Torheiten unserer niederen Eigenschaften haben unseren wahren Ursprung ständig verleugnet. Betrug, Habgier und selbstische Bestrebungen - wenn sie auch scheinbar gedeihen und blühen wie grüner Lorbeer - tragen das tödliche Gift der Selbstzerstörung in sich. Mit wucherndem Unkraut aber gedeihen gleichzeitig die Samen kosmischer Herrlichkeit, so daß es überall Menschen gibt, denen bewußt wird, daß ein unerschöpfliches Reservoir der Stärke und Weisheit in ihnen ist. Sobald die Seele diese Gewißheit erfaßt hat, finden wir die Kraft und auch den befreienden Humor, unser Leben etwas gleichmütiger zu führen.

Man sagt, das Erkennen des Irrtums sei der Anfang der Weisheit. Liegt daher nicht große Hoffnung darin begründet, daß wir über unser selbstsüchtiges Denken und seine gefährlichen Auswirkungen auf die gesamte Menschheit entsetzt sind? Es beweist gewiß genügend die hehre Größe der menschlichen Seele. Als Kind lernte ich eine Anrufung, die von Katherine Tingley stammt:

O meine Göttlichkeit! Du verbindest Dich mit dem Irdischen und baust Dir Tempel gewaltiger Kraft.

O meine Göttlichkeit! Du lebst im innersten Wesen aller Dinge und strahlest aus ein goldenes Licht, das scheinet für immer und erleuchtet selbst die dunkelsten Winkel der Erde.

O meine Göttlichkeit! Verbinde Dich mit mir, damit ich aus Vergänglichem unvergänglich, aus Unvollkommenem vollkommen werde und schreiten möge aus der Finsternis ins Licht.

Wird damit nicht in Kürze das wundervolle Drama des sich entwickelnden Pilgers umrissen? - eine Göttlichkeit, die sich mit Irdischem verbindet und sich selbst ein Vehikel nach dem andern baut, in welchem sie ihre Kräfte zum Ausdruck bringt und Erfahrungen sammelt; eine Göttlichkeit, die, als Wurzel jeder Lebensform, ihre Strahlen in die Tiefe entsendet, um selbst das geringste der Atome zu beleben; eine Göttlichkeit, die uns als Menschheit belebt, damit wir uns eines Tages von den Schlacken unserer Unvollkommenheit befreien und als Vorbilder des göttlichen Planes auftreten können, so daß wir aus der Nacht der Ichbezogenheit gemeinsam mit anderen dem Licht entgegengehen können. Das Innerste im Leben aller Dinge ist ganz gewiß göttliche Herrlichkeit.

Wer wir auch sind und worin unsere Pflichten auch bestehen mögen, wir können überzeugt sein, daß, auf weite Sicht betrachtet, unsere Bemühungen eine Denk- und Verhaltensweise schaffen werden, die - wenn sie auch nicht unmittelbare Ergebnisse zeitigt - dazu führt, daß die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen unerschütterlich und gefaßt vor Millionen Universen - und vor ihren eigenen Seelen stehen können.