Die göttliche Gestalt
- Sunrise 4/1974
Es gibt eine wunderbare Erzählung von einem Bildhauer, der am Wegrand einen Marmorblock fand, der anscheinend weggeworfen und als wertlos dort liegen gelassen worden war. Er betrachtete ihn nachdenklich und holte dann sein Werkzeug: einen Hammer und einen Meißel.
Die Leute, die vorübergingen und ihn so eifrig arbeiten sahen, fragten, was er wohl tue. "Ich möchte die göttliche Gestalt befreien", sagte er, denn mit seinen scharfen Künstleraugen hatte er gesehen, was in dem unbehauenen Stein verborgen war, und durch seine Vision begeistert, war er ans Werk gegangen.
Das machte auf mich den Eindruck eines Symbols der wirklichen Aufgabe jedes Menschen. Denn weiß nicht jedermann tief in seinem Inneren, daß in ihm etwas Göttliches wohnt?
Wir alle haben Augenblicke der Einsicht, wie dieser Künstler. Auch wir sind wie der Reisende, der auf seinem Pferde viele Stunden durch unwirtliche Gegenden geritten war. Noch bevor er eine Unterkunft für die Nacht finden konnte, zogen jäh dunkle Wolken auf, und er wurde von der Dunkelheit überrascht. Nachdem er einige Zeit gesucht hatte, kam er an ein Haus, aber er wußte nicht, ob ihn die Leute aufnehmen konnten. Als er rief, kam ein Mann, der eine Sturmlaterne trug und dem Reisenden versicherte, daß er zum Verbleiben willkommen sei. Das Licht der Laterne war viel zu schwach, als daß er überhaupt erkennen konnte, wo er sich befand, und ein Gefühl großen Verlassenseins überkam ihn.
Plötzlich blitzte es, ein Donnerschlag folgte. Das Aufblitzen erleuchtete nicht nur die ganze Landschaft, es war auch so stark, daß er das Innere des Hauses und sogar sich selbst in seiner wahren Gestalt wahrnahm. Er sah die Sturmlaterne und den Mann nicht mehr, denn dieser eine wirkungsvolle Moment der Naturerscheinung hatte ihm Erleuchtung gebracht, so daß er sich selbst und die ihn umgebende Welt erkannte, wie sie wirklich waren.
Jeder hat schon ähnliche Erfahrungen in größerem oder kleinerem Maße gemacht. Sie sind köstlich, weil sie uns, so wie den Bildhauer, veranlassen, unsere Werkzeuge mit neuer Energie aufzunehmen.
Wir leben sozusagen in zwei Welten. Die eine, in der die Sturmlaterne immer brennt, ist unsere Alltagswelt, in der wir leben und arbeiten; die andere ist unser tieferes Bewußtsein, in dem wir die Erinnerung an das große Licht bewahren, das uns erkennen ließ, was unser Ziel ist, ein Ziel, das zu erreichen unschätzbar wertvoll ist: uns frei zu machen von uns selbst. Es gibt für jeden von uns nur einen Weg, das zu erreichen: Wir müssen unseren Hammer und unseren Meißel fest in die Hand nehmen und den unbehauenen Stein bearbeiten. Wenn wir unsere Werkzeuge richtig handhaben, brauchen wir uns um unsere Befreiung nicht zu sorgen; denn der Augenblick wird kommen, - bald oder in ferner Zukunft, oder vielleicht, wenn wir uns keine Gedanken mehr über das Ziel machen, das wir anstreben - in dem die göttliche Gestalt aus dem rohen Marmor hervortreten wird.