Vor nicht allzulanger Zeit
- Sunrise 4/1974
Auf einem Friedhof in der Nähe unseres Sommerhauses in Maine ist ein Mann begraben, auf dessen Grabstein steht, er habe bewiesen, daß "sich die Sonne um die Erde dreht und die Erde stille steht." Tatsächlich ist es noch gar nicht lange her, daß unsere westliche Zivilisation vom Universum und der Rolle, die der Mensch darin spielt, eine Vorstellung hatte, die ganz verschieden von der heutigen ist. Es sind gerade dreihundert Jahre her, seit Galilei das erste Teleskop hergestellt und wiederentdeckt hatte, daß die Erde nur ein Planet inmitten von Sternen ist. Die römisch-katholische Kirche wurde durch seine Idee so aufgeschreckt, daß sie ihn unter Androhung des Kerkers zum Widerrufen brachte.
Heute erklären die Astronomen, unser Sonnensystem sei nur ein Pünktchen im Bereich der Milchstraße - die nicht aus ätherischem Gas, sondern aus einer unzählbaren Menge Sonnen besteht. Und jenseits der Milchstraße, von der wir ein Teil sind, gibt es noch viele andere Milchstraßen, die zu weit entfernt sind, als daß sie mit bloßem Auge gesehen werden können. G. K. Chesterton sagte: "Unter all den Dingen, die die Menschen vergessen, haben sie am meisten vergessen, daß sie auf einem Stern leben."
Die Menschen unserer modernen Welt wissen erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit, daß wir auf einem Planeten leben, der um die Sonne kreist, und daß unsere Sonne nur eine unter Millionen ist. Früher glaubte man, die Erde sei flach und der Mittelpunkt des Universums. Manche stellten sich die Sterne als Löcher im Himmelsgewölbe vor, durch die das Licht des Himmels scheint. Andere wiederum meinten, es handle sich um flimmernde Himmelskörper, die nur einige Meilen entfernt in der Luft schweben. Keinesfalls hätten sie sich jedoch vorstellen können, daß es dem Menschen einmal möglich sein würde, pro Stunde viele tausend Meilen zurückzulegen und in einigen Tagen den Mond zu erreichen, den einzigen Himmelskörper, der um die Erde kreist. Sie waren der Meinung, Sonne und Sterne und auch der Mond kreisen alle um die Erde.
Etwa hundert Meilen über dem Himmelsgewölbe war das Himmelreich, in dem die Götter wohnten. Die Menschen, die die Bücher des Alten Testaments schrieben, waren Monotheisten geworden, die nur an einen Gott glaubten. Sie veränderten die anderen Götter in Engel, die die Gebote des einen Gottes ausführen. Der Himmel wurde nur von Gott und seinen Engeln bewohnt. Die Unterwelt, Hölle genannt, befand sich unter der Erde. Manche Juden und auch Nichtjuden glaubten, daß Männer und Frauen nach dem Tode im Geiste in die Unterwelt gehen. Von Jesus nimmt man an, er habe nach dem Tode drei Tage dort verbracht, sei dann körperlich auferstanden und habe noch vierzig Tage auf Erden gelebt, bevor er gen Himmel aufstieg, um mit Gott dort zu leben.
Viele Christen sind überzeugt, daß sie nach dem Tode schließlich in den Himmel kommen, um mit Jesus vereint zu sein. Zuerst werden sie jedoch vielleicht einige Jahre den Schlaf der Toten schlafen, und dann, beim Ertönen einer himmlischen Posaune, gemeinsam zu einem neuen Leben in einem Paradies auf Erden auferstehen, so wie es im Neuen Testament geschildert wird. Die anderen Menschen (Nichtchristen) werden in einem halbschlafähnlichen Zustand in der Unterwelt verbleiben.
Seit einiger Zeit haben nun aber manche Christen angefangen, anders über die Welt, das Universum und über die Stellung Gottes oder seinen Aufenthalt, über das Himmelreich und über Leben und Tod des Menschen zu denken. Die meisten dieser Veränderungen fanden innerhalb von zwei oder drei Generationen statt. Für viele war es nur eine teilweise Veränderung. Sie haben es jedoch noch nicht richtig durchdacht.
Es ist auch erst eine geraume Zeit her, daß die Menschen die jüdische und die christliche Bibel nicht unbedingt als wirklichkeitsgetreue Geschichte betrachten, sondern vielmehr als Bücher, die dem Monotheismus gewidmet waren. Das gilt sowohl für die darin enthaltenen Mythen, Erzählungen, visionären Träume und Geschichten über Wunder, als auch für die aufgezeichneten Ereignisse der Entwicklung der ethischen Gesetze und der Erbauungsliteratur. Die historische Genauigkeit scheint den Autoren damals nicht so wichtig gewesen zu sein, wie sie es wahrscheinlich heute wäre, wenn die Bücher in unserer Zeit geschrieben würden. Die Evangelien sollten zum Beispiel nicht ein Tatsachenbericht über das Leben Jesu sein. Sie wurden geschrieben, um zu beweisen, daß Jesus den von den Juden erwarteten Messias verkörperte.
Als die Menschen jener Zeit diese Bücher schrieben, versuchten sie nichts anderes als wir heute; sie wollten ergründen, wie die Zukunft sein würde. Bessere Zeiten mußten kommen! Das war ein Teil ihres Glaubens an Gott. Einige visionäre Bücher beschrieben, wie Gott die Sündhaften vernichten und sein Reich der guten Israeliten schaffen wird. Das Buch der Offenbarung sagt: Er wird die Nichtchristen vernichten und mit allen Christen, lebendigen wie toten, einen Idealstaat auf Erden bilden. Jesus sprach davon, das Reich Gottes befinde sich schon jetzt auf Erden! Wenn wir danach ausschauen, können wir es überall um uns herum sehen. Es kommt ganz allmählich. Richtig verstanden, ist das eine wunderbare Idee.
Nach einer alten jüdischen Vorstellung über die Zukunft wird Gott am Ende des Zeitalters aus dem Stamme Davids einen göttlichen König hervorbringen, der der Messias genannt wird. Albert Schweitzer meint, Jesus glaubte selbst, daß er der Messias sei. Im Evangelium Johannes, das um das Jahr einhundert geschrieben wurde, habe Jesus klar zu verstehen gegeben, daß er der Messias sei. Heute erkennen wir, daß mit diesem Evangelium beabsichtigt war, zu beweisen, daß der griechische Logos und Christus eins waren. Es enthält überhaupt vieles, wovon der Autor glaubt, Jesus müßte es gesagt haben.
Ich persönlich glaube nicht, daß Jesus der Ansicht war, er sei der Messias. Bescheiden überließ er das Verdienst für alle seine Taten dem Vertrauen auf Gott und beanspruchte es nicht für sich selbst. Harry Emerson Fosdick schrieb mir zwei Jahre vor seinem Tode, daß auch er der gleichen Meinung sei:
Jesus teilte natürlich in vielen Dingen die Anschauungen seiner Zeit - zum Beispiel in der Kosmologie. Vielleicht teilte er den bei den Juden weitverbreiteten Glauben an ein baldiges Weltenende und die Ankunft des Messias. Schweitzer hat mich jedoch nie ganz davon überzeugt. Vielleicht haben die Jünger Jesu seine Gedanken so ausgelegt, besonders dann, als sie überzeugt waren, daß er der Messias sei. Man kann nicht mit vollkommener Sicherheit sagen, wie es gewesen ist, aber ich stehe Ihrer Denkweise näher als der Schweitzers.
Beide, Matthäus und Lukas, waren überzeugt, daß er der jüdische Messias war, denn da erwartet wurde, daß der Messias aus dem Stamme Davids komme, verfolgten beide die Abstammung Jesu, die geradlinig über Joseph bis zu David reichte. Ihre Ahnenforschungen ergaben jedoch eine ganze Reihe völlig verschiedener Namen. Sie scheinen auch vergessen zu haben, daß sie an anderer Stelle schrieben, Jesus sei allein aus Gott geboren und nicht durch Joseph aus Davids Stamm. Da bereits vierzig Jahre nach dem angeblichen Tode Jesu die meisten Umstände seines Lebens unbekannt waren, konnte man die Geschehnisse nur annehmen.
Die Bücher der Bibel sind genauso wie die Upanishaden Indiens, - von denen manche noch weit älter sind - aus Unterlagen zusammengestellt, die sich nicht an tatsächliche Fakten halten. Die Autoren wollten damit etwas anderes ausdrücken: das ethische Leben, die Macht Gottes und die ideale Zukunft des Menschen. Heute würden sie die Dinge ohne Zweifel anders darstellen. Vor allem würden sie das Universum und den Gott des Universums als unermeßlich und unfaßbar beschreiben. Ihre Vorstellung über die endgültige Bestimmung des Menschen würde dadurch ganz außerordentlich erweitert. Sie würden nicht mehr glauben, daß das jüdische Volk oder die Christen die einzigen sind, die nach dem Willen Gottes auserwählt wurden, sondern daß die gesamte Menschheit in ihrem innersten Wesen das göttliche Gesetz empfängt. Der hebräische Tempel wäre für sie das, was er in den Augen Jesu war: "Das Gebetshaus für alle Menschen." Genauso wie Jesus würden auch sie den Wert jedes Menschen allüberall erkennen.
Die Geschichte Jesu brachte der alten Welt am Mittelmeer einen ganz neuen Begriff von Christus oder dem Messias. Sie transformierte ihn von einer politischen Gestalt zu einem leidenden Diener, so ähnlich, wie ihn sich Jesaia vorgestellt hatte, wobei er selbst in seiner Schilderung als Vorbild diente. Die letzten Generationen haben einige Fortschritte gemacht; sie verstehen unseren Planeten und seine Rassen jetzt besser. Es ist noch nicht so lange her, da glaubten wir recht seltsame Dinge über die Welt und auch, daß die Menschen untereinander etwas völlig voneinander Getrenntes seien. Es kann noch einige Generationen dauern, bis die Menschen einsehen, daß sie zusammengehören, aber diese Zeit kommt bestimmt.