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Theosophische Perspektiven

In den vergangenen Jahren haben wir von Lesern aus den verschiedensten Teilen der Welt Fragen über Theosophie und deren grundlegende Begriffe erhalten, die bisher individuell behandelt wurden. Da jedoch die meisten der erörterten Themen allgemein interessieren dürften, wollen wir einige der Fragen künftig im Sunrise bringen. Fragen und auch Kommentare über alle Aspekte der Theosophie und ihren Einfluß auf die Erfahrungen des menschlichen Lebens sind immer willkommen.

 

 

 

In jedem Jahrhundert gab es Menschen, die nach Wahrheit und Erkenntnis suchten. Verschiedene Antworten wurden ihnen gegeben, doch selten direkt, sondern mehr in Form von Gleichnissen oder Erzählungen. Aber immer wieder finden wir das gleiche Verlangen nach einer wirklichen Lösung für die Schwierigkeiten des Lebens. Wahrscheinlich muß das so sein, denn nur wenn jeder Mensch selbst nach dem Grund der Dinge sucht und, indem sie ihm wirklich bewußt werden, daraus lernt, nur dann kann er die verborgenen Gesetze, die ihn und seine Umwelt regieren, richtig verstehen.

Der nachstehende Auszug aus einem kürzlich eingegangenen Brief ist typisch für die Erfahrung, die viele machen, wenn sie zum ersten Mal sich mit den uralten Fragen auseinandersetzen.

 

Es gibt einen Ausspruch, der besagt, daß das Tor geöffnet wird, wenn man lange und fest genug daran klopft. Ich habe Blavatskys Isis Unveiled/Die entschleierte Isis gelesen und den größten Teil der Secret Doctrine/Geheimlehre (soweit ich sie verstehen konnte) und Ocean of Theosophy/Das Meer der Theosophie von W. Q. Judge. Ich lese wissenschaftliche Abhandlungen und Bücher über die Religionen und ihren Ursprung. Im Augenblick arbeite ich mich durch die vierbändigen Studien zur Mythologie von Joseph Campbell hindurch. Ich habe Donnellys Atlantis und seine anderen Werke gelesen. Diese einzelnen Bücher erwähne ich nur deshalb, weil sie anscheinend doch irgendwie zusammenhängen. Aber gerade nun kommt es mir vor, als hätte ich von allem nur einzelne Teile und Stücke.

Solange ich mich erinnern kann, habe ich Fragen gestellt. Man sagt 2 + 2 = 4, das weiß ich, aber warum? Ich beobachte, wie Blumensamen ausgesät wird und sehe ihn wachsen. Wodurch wächst die Pflanze; woher kam sie; und aus welchem Grund ist sie hier? Wo geht sie hin, wenn ihr Lebenszyklus beendet ist? Warum gibt es überhaupt Zyklen; und wer oder was ist dafür verantwortlich? Manchmal wundere ich mich über meine eigene Neugier - warum nehme ich das Leben und seine kreisenden Zyklen nicht einfach als gegeben hin? Aber es dauert nicht lange und schon bin ich wieder mit Fragen beschäftigt. Allerdings habe ich auch schon lange gelernt, meine Fragen für mich zu behalten, aus Sorge, mich lächerlich zu machen oder mehr als das.

Vor etwa anderthalb Jahren kam ich zur Theosophie und erkannte, daß ich mich von vielen anderen Menschen gar nicht so sehr unterscheide. Vielleicht irre ich mich, aber mir scheint, Theosophie stellt Fragen und gibt heute Antworten, die vielleicht schon morgen ad acta gelegt werden, weil es noch genauere Antworten gibt. Und noch etwas hat mir geholfen. Wo andere Religionen heute sagen "Tue das nicht" - es ist gefährlich oder falsch, gibt Theosophie eine begründete Antwort, warum etwas nicht getan werden sollte. Auf jeden Fall war es allein die Theosophie, die mir zum ersten Mal einige meiner Fragen beantworten konnte, obwohl die Antworten manchmal schwer zu akzeptieren sind und ich sie auch mitunter anzweifle. Ich vermute, Sie werden mich im wahrsten Sinne des Wortes für einen Skeptiker halten.

Kurz und gut, was mache ich nun? Wie kann ich all die Stücke zusammenfügen? Bin ich überhaupt auf der richtigen Spur?

 

Ich stimme voll und ganz mit Ihnen überein, daß sich das Tor öffnen wird, wenn wir lange und fest genug anklopfen; aber natürlich sind wir es selbst, die diese Tore öffnen, und kein anderer. Die von Ihnen erwähnten Bücher verhelfen bestimmt zu einer erweiterten Perspektive und tragen zu einem umfassenderen Verständnis bei. Es gibt jedoch einen Fallstrick, vor dem wir uns immer hüten müssen. Es ist der Versuch, die vielen Teilchen und Stücke zu einem Muster eigener Prägung zusammenzufügen. Wenn wir ganz sicher glauben, die kosmischen Vorgänge schön geordnet zu haben, durchfährt uns plötzlich eine ganz andere Idee, und unser schönes Gedankengebäude bricht zusammen. Und es ist gut so, weil wir dadurch ständig wach und in unserem Denken beweglich gehalten werden, so daß unsere Auffassung vom Wirken der Natur nicht verhärtet. Sie wird uns sonst zum Narren halten, wenn wir uns auf etwas versteifen. Das bewahrheitet sich besonders, wenn gleich eine ganze Reihe neuer Ideen und anregender Betrachtungen uns mit Begeisterung, Inspiration und dem ungestümen starken Verlangen, möglichst rasch immer mehr zu wissen, zu überwältigen scheint. "Lies wenig und denke viel", diesen Rat gab H. P. Blavatsky einem Schüler, der geistig sehr erschöpft war, weil er die in ihren Schriften gegebenen Ideen und Hinweise zu schnell aufnehmen wollte.

Sie fragen: "Wer oder was ist für die Zyklen verantwortlich? Warum wächst eine Pflanze vom Samen zur Reife und verwelkt dann? Wo geht sie hin, wenn ihr Lebenszyklus beendet ist?" Wir könnten die gleichen Fragen über uns selbst stellen: "Wer oder was ist für unser Hiersein verantwortlich, und warum kämpfen wir so sehr, um unser Los zu verbessern? Und was geschieht nach unserem Tod?"

Ich kann keine treffendere Antwort finden als die, die Ezechiel (Hesekiel) gab, als er die vier lebendigen Wesen beschrieb, die er sah, als ihm 'der Himmel offen stand': "Wohin sie auch gingen, immer gingen die Räder (d. h. die kreisenden Zyklen) mit ihnen: Denn der Geist (rûahh) der Lebewesen war in den Rädern." Ich glaube, das trifft es ganz genau. Es ist der lebendige Geist, die göttliche Essenz in der Kreatur, - sei es Pflanze, Fels oder Mensch - die ihre Zyklen erzeugt und die Räder der individuellen Bestimmung in Gang setzt. Der Geist führt und treibt die Materie zu Wachstum und Erfahrung, und nicht umgekehrt.

Das führt uns zu der typisch theosophischen Anschauung, daß jedes Teilchen in der gesamten Unendlichkeit lebendig ist. Im Innersten ist es eine Monade oder ein Lichtatom, das periodisch in zyklischen Intervallen den Drang zur Verkörperung verspürt und immer materiellere "Röcke aus Fellen" annimmt, um im Verlauf seiner Entwicklungsrunden das volle Maß an Weisheit aufnehmen und somit geistige Größe gewinnen zu können.

Ich möchte erwähnen, daß das Wort Theosophie nicht neu ist. Es wurde für die religions-philosophischen Systeme verwendet, durch die man a) auf mystische Weise Wissen über göttliche Dinge erlangen kann, d. h. durch intuitive Wahrnehmung universaler Prozesse, und die b) davon ausgehen, daß das Eine das Viele emaniert und dennoch selbst transzendent bleibt, während jede Lebensform einen Funken des Einen immanent in sich trägt. Im Westen waren von diesen Systemen der Gnostizismus, der Neuplatonismus und die Kabbala von Bedeutung. Der Gnostiker meinte zum Beispiel, daß die "Gottheit über dem Sein", der "Keim aller Universen", eine Reihe "universaler Äonen" emanierte, wobei jeder an geistiger Beschaffenheit jeweils etwas geringer war, bis die materielle Welt erreicht war; die Kabbala spricht von Ein Sôph, - dem 'Grenzenlosen' - das seine Essenz in einen leuchtenden Punkt verdichtet und dann aus sich selbst "neun glänzende Lichter" oder Sephîrôt hervorbringt. Diese zehn 'Emanationen' repräsentieren den archetypischen Menschen oder die ursprüngliche Welt. Der Neuplatonismus wiederum sah in jedem lebenden Teilchen etwas, das aus dem Höchsten hervorgegangen ist, wobei es im Laufe der Zeit wieder zu seinem Ursprung zurückkehren muß. Diese Wiedervereinigung erfolgt beim Menschen nicht automatisch; in ihm sind zwei Kräfte wirksam: die niederen, mit denen im Körper Erfahrungen gesammelt werden, und die höheren, die die Seele "kraft des Gesetzes ewiger Notwendigkeit" zur Vereinigung mit dem "Göttlichen Geist" führen, aus dem sie hervorging.

Die Offenbarungsreligionen dagegen leiten ihr "Wissen über Gott" (das bedeutet Theologie) von übernatürlicher Autorität oder Offenbarung ab. Die christliche Theologie zum Beispiel sagt, daß Gott Himmel und Erde, den Menschen und alle niederen Wesen geschaffen und dann den Logos oder das Wort seinem eingeborenen Sohn geoffenbart habe; und wer glaubt, werde von menschlicher Schuld erlöst und gewinne nach dem Tod das ewige Leben. Während das die von vielen immer noch akzeptierte wörtliche Auslegung ist, halten immer mehr Theologen und Laien die Heilige Schrift teilweise für allegorisch und teilweise für geschichtliche Erzählung, und die Sakramente für eine symbolische Darstellung der Einweihungsprüfungen eines erleuchteten Lehrers, eines Menschen, der die mystische Vereinigung mit seinem Vater im Innern erreicht hat und daher die göttliche Inspiration von oben empfangen konnte.

Der wesentliche Faktor ist, daß jede Religion oder Philosophie im Grunde dieselben fundamentalen geistigen Wahrheiten enthält, ganz gleich, ob sie 'offenbart' oder durch 'mystische Einsicht' erlangt wurden. Sie sehen alle im Göttlichen den Ursprung der Schöpfung, den Hintergrund, vor dem sich der Abstieg der Seelen in materielle Sphären abspielt. Alle legen großen Nachdruck auf die schöne (aber leider so selten praktizierte) Ethik der Goldenen Regel, mehr für andere zu leben, als für sich selbst. Alle lehren das karmische Gesetz von Ursache und Wirkung, daß unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen auf unseren Charakter einwirken und daher unsere Zukunft formen. Und nicht zuletzt wird von allen bekräftigt, daß der Mensch kraft des in seiner Seele wohnenden Lichtfunkens die Möglichkeit hat, schließlich wieder zum Göttlichen aufzusteigen.

Wie Sie sagen, bietet die Theosophie wirklich eine neue Lebensanschauung, besonders, weil sie die Ethik rational begründet: Sie zeigt, woher es kommt, daß, wenn wir gegen unser intuitives Gefühl von Recht und Unrecht handeln, wir nicht nur unsere eigene innere Harmonie stören, sondern, weil Stoff und Bewußtsein überall eine Einheit bilden, wir damit auch die kosmische Ordnung beeinflussen. Darüber hinaus beleuchtet Theosophie die Riten und Lehrsätze der vielen Religionen und zeigt, daß es sich dabei um unterschiedliche, aber nicht getrennte Facetten einer Weisheitslehre handelt, die einst allen Völkern bekannt war. Nirgends kommt das besser zum Ausdruck, als in den Schöpfungslegenden und -mythen, die H. P. Blavatsky in ihrer Secret Doctrine/Geheimlehre zu einer eindringlichen Synthese vereinigte. Sie umreißt in kurzer Zusammenfassung die ungeheuren Zyklen des evolutionären Wachstums von Kosmos und Mensch als einen dreifachen Prozeß:

1.) Der grenzenlose, dimensionslose, unendliche Raum ist die eine Realität, die sich für immer uferlos ins Unbekannte erstreckt. Je nachdem, wie es aufgefaßt wird, manchmal als reine Leere und manchmal als äußerste Fülle, wurde er von den Altnordischen, von den Hebräern und von den Hindus unterschiedlich als 'Gähnende Tiefe', als 'Finsternis über der Tiefe' oder einfach als 'Jenes' bezeichnet.

2.) Dann sendet die vibrierende, pulsierende, elektrische Bewegung einen Schauer durch die Unendlichkeiten des Raumes, und die Dunkelheit wird Licht. Der große Atem dehnt sich aus und erweitert die ursprüngliche Essenz zum vielfältigen Universum, wobei seine latenten göttlichen Keime jetzt zum Leben erwachen. Mit dem wieder einmal errichteten zyklischen Rhythmus regiert Bipolarität: Geist und Materie, Ebbe und Flut, Geburt und Tod; und Welten entstehen, die wieder vergehen, wenn ihre Zyklen abgelaufen sind, um wieder neu zu erscheinen - und das durch unendliche Zeiten. Und warum?

3.) Damit jede lebende Wesenheit, vom Proton bis zum Stern, die Gelegenheit hat, sich nacheinander in immer dichteren Sphären zu verkörpern, bis sie schließlich den niedersten Punkt der Stofflichkeit sicher vollendet hat und dann den allmählichen und nun selbstbewußten Aufstieg zum Geistigen beginnen kann. Und welchen Zweck hat diese lange Pilgerfahrt für den Menschen, mögen wir fragen? Einzig und allein den, damit wir aus uns selbst, durch wiederholte Leben auf der Erde, die vollen Möglichkeiten der Vollendung entwickeln, unterstützt durch die beschleunigte Erweckung unseres Selbstbewußtseins durch die Elohim oder Söhne des Geistes (höhergeistige Wesenheiten, die die Menschheit mit Verstand begabten) zu Beginn der Menschheitsentwicklung. Auf diese Weise erwachen die Myriaden von Gottesfunken aus einem Zustand des Nichtselbstbewußtseins zu der ganzen Fülle der selbstbewußten Gottheit.

Welch herrliches Wachstums-Panorama und welche Horizont-Erweiterung liegt vor uns!

Mir gefallen Ihre Worte, daß "Theosophie Fragen stellt" - ich glaube, so muß es immer sein, denn wenn sie lebensfähig bleiben soll, muß ein individuelles, forschendes, prüfendes, fortschreitendes Suchen bestehen. Wenn nicht, wird jede Wahrheit, die wir finden mögen, rasch erstarren und statisch werden und jeder Inspiration entbehren. Doch, was immer Sie auch unternehmen werden, bewahren Sie sich Ihre Skepsis. Sie ist ein sehr wertvoller Besitz, besonders heute, wo so viele Menschen von den Verlockungen des 'Okkulten' in Sackgassen geführt werden. Andererseits brauchen wir aber auch nicht vor der Erforschung neuer Gedankenwelten zurückzuschrecken. Solange wir unsere menschlichen Verpflichtungen erfüllen, kann unser Geist die Sternenräume durchwandern.

Selbstverständlich kann Theosophie die Wahrheit nicht für andere finden, sie kann nur eine Flamme entzünden. Viele Menschen, die jahrelang die theosophische Philosophie gelebt und über sie nachgedacht haben, gewannen die tiefe Überzeugung, daß man auf diesem Pfade soviel Wahrheit finden kann, wie man aus sich selbst hervorzubringen imstande ist. Dies mag vielleicht etwas rätselhaft klingen, aber allmählich fangen wir an, zu begreifen, daß die Wahrheit eigentlich nicht in Büchern oder Lehren zu finden ist oder in menschlichen Formulierungen über kosmische Prozesse, sondern daß sie vielmehr jene Seelenweisheit ist, die wir individuell Tropfen für Tropfen im Wandel der Zyklen herausdestillieren.