Eine mythologische Matrix
- Sunrise 2/1974
Es gibt ein allgemein verbreitetes Wissensgut, das über viele Kanäle bis zu uns gekommen ist. Ganz gleich, ob diese alten Erzählungen in der Bantusprache, in isländisch, Sanskrit oder Nahuatl geschrieben sind, sie alle berichten von den Anfängen des Universums und welche Rolle dabei die göttlichen Kräfte in dem Evolutionsdrama spielten. Sie berichten von der Rolle des Menschen in einem lebenden kosmischen System und von der Entfaltung des Bewußtseins durch die Erfahrung des Lebens. Zu dieser Sammlung alter Schriften hat Island eine eindrucksvolle Bibel beigesteuert. Sie wird Edda genannt, was soviel wie Matrix bedeutet. Ihr Ursprung ist, genau wie bei den anderen Schriften dieser Art, unbekannt; die Lieder wurden von Generation zu Generation mündlich überliefert, bis sie von Sämund dem Weisen (1057-1133) aufgeschrieben wurden. Sie sind in Versform geschrieben, wobei Stabreime benutzt wurden, und müssen dem Gedächtnis eines Volkes durch viele Skalden (nordische Dichter) oder Minnesänger anschaulich eingeprägt worden sein. Diese trugen die klangvollen Verse an den langen arktischen Winternächten vor und beschworen dabei Visionen von universaler Größe herauf, womit sie das überlieferte Wissen ihrer Vorfahren immerwährend lebendig erhielten.
Es hat dabei nichts zu sagen, daß die einfachen Wikinger, die die vorgetragenen Verse hörten und dann weitergaben, wenig von der essentiellen Weisheit wußten, die sie enthielten, und die Worte für bare Münze nahmen. Der innere Wert ist jedoch bis heute unversehrt geblieben, wie in allen Heiligen Schriften der Welt, und kann auch heute noch ausgelegt werden. Das darin enthaltene Wissen kann wieder belebt und, wenn man den mystischen Kern versteht, kann die religiöse Inspiration immer noch vermittelt werden.
Die Edda Sämunds ist die ältere. Die jüngere Edda wird Snorri Sturlesson zugeschrieben, der in seiner Jugend Schüler von Sämunds Enkel war. In dieser Zeit muß er die Verse kennengelernt haben. Er hat die meisten davon in Prosa umgearbeitet. Einige davon sind nicht mehr vorhanden. Die ältesten Manuskripte, die Bruchstücke beider Eddas enthalten, werden in Kopenhagen und in Reykjavik aufbewahrt.
Als sich dann das Christentum über Europa ausbreitete, kam auch Skandinavien, genau wie das übrige Europa, unter die religiöse Kontrolle der römischen Päpste, die Latein anordneten und die Evangelien einführten, anstelle der einheimischen Sprache und Schriften. Island jedoch war verhältnismäßig unerreichbar und damit nicht so überwacht, so daß die christlichen Priester dort die päpstlichen Erlasse wenig beachteten, den Zölibatszwang mißachteten und weiterhin so lebten, wie ihre Vorfahren gelebt hatten, bevor die neue Religion aufgekommen war. Sie benützten die Sprache ihrer Väter und gaben das traditionelle Wissen an ihre Kinder weiter; ja, sie gingen sogar noch weiter und schrieben die alten Geschichten nieder. Zahlreiche Volkserzählungen und Märchen stammen aus dieser Quelle. Wenn auch im Laufe der Zeitalter unvermeidlich sich Fehler infolge Gedächtnislücken eingeschlichen haben, so ist wahrscheinlich die isländische Edda noch eine der reinsten Darstellungen der Weisheit der alten Welt, einer Weisheit, die Jahrhunderte hindurch immer unterbewertet wurde.
In der poetischen oder älteren Edda finden wir eine umfassende Darstellung der Kosmogonie, die auffallend mit anderen alten Lehren übereinstimmt. Man ist immer wieder erstaunt über die große Ähnlichkeit zwischen dieser schönen Darlegung der kosmischen Vorgänge in der Natur und jener, die in den Stanzen des Dzyan gegeben wird, auf denen H. P. Blavatsky ihr philosophisches Werk Die Geheimlehre aufbaute. Es ist unmöglich, daß beide, und auch die Legenden anderer alter Völker, keinen gemeinsamen Ursprung haben sollen.
Berichten zufolge gibt es für einzelne Menschen einen beschleunigten Fortschritt. Sie müssen eine strenge Schulung und Prüfung durchmachen, um höhere Weisheit zu erlangen; dann kehren sie zurück, um der Rasse zu helfen. Durch richtige Auslegung können diese Geschichten in ihrer symbolischen Form auch über historische Ereignisse, Kriege und Auswanderungen berichten. Oft werden auch, wie in der Bibel, typische Namen benützt, wobei ein 'Mensch' eine ganze Generation oder eine Nation oder Rasse viele Generationen hindurch darstellen kann.
Nichts in diesen alten Büchern widerspricht unserer vornehmsten ethischen oder wissenschaftlichen Vorstellung. Wenn man sie richtig versteht, dann können sie wertvolle Hinweise über die Naturereignisse geben, die von den Schülern nicht beachtet worden sind, weil unsere eigene Wissenschaft noch nicht so weit entwickelt ist, um diese Dinge verstehen zu können. Die Hinweise auf die Elektrizität oder den Magnetismus konnten auch nicht verstanden werden, solange diese Kräfte nicht entdeckt waren und angewandt wurden. Wir konnten uns auch nicht vorstellen, was mit einem "Flügelwagen" oder einem "Federblatt" gemeint war, bis wir auch über das Flugwesen Bescheid wußten. Wir haben bis jetzt noch nicht herausbekommen, welche mächtige Kraft die riesengroßen Blöcke fortbewegte und sie mit unwahrscheinlich genauer Präzision zurichtete, noch können wir die Bedeutung der damaligen astronomischen Berechnungen der Zyklen verstehen, wenn wir unser gegenwärtiges Wissen nicht beträchtlich erweitern.
Als in der westlichen Welt der Übergang vom Pantheismus zum Monotheismus stattfand, wurden die Übergangsstufen zwischen dem Göttlichen und dem Menschen auf der Jakobsleiter, zusammen mit Reinkarnation und Karma, - die der Natur innewohnende Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung - ausgelassen. Ebenso gingen die Throne, Fürsten, Mächte, Engel und Erzengel des frühen Christenrums verloren. Dadurch entstand eine breite Kluft zwischen dem Menschen und dem Allmächtigen; die Folge war, daß aus diesem ein großer, tyrannischer und launenhafter Mann mit menschlichen Schwächen und Eigenheiten wurde.
Um zu verstehen, was mit den vielen Göttern des Altertums gemeint war, wollen wir versuchen, darüber nachzusinnen, was wir im Falle eines weltweiten Kataklysmus, der die Menschheit für eine lange Zeit in Steinzeitverhältnisse versetzen würde, täten, um unser Wissen für die Nachwelt bewahren zu können. Wir werden uns dabei der Kräfte bedienen, mit denen wir vertraut sind: Gravitation, Zentripedal- und Zentrifugal-Kraft, Magnetismus, Elektrizität, dazu das schwache Gravitationsfeld universaler Ausdehnung, das eine so ausgeprägte Wirkung auf gewisse Organismen hat; dann das Phänomen der Wasserstoffbindung in der Atomwelt und das Netzwerk der Strahlung, das unser Sonnensystem mit Strahlen erfüllt, die endlos von einem Körper zum anderen zurückprallen. Dabei wollen wir versuchen, diese und andere Phänomene in einfachen, eindrucksvollen Worten zu beschreiben, die viele Jahrhunderte der Unwissenheit hindurch in Erinnerung und unverändert bleiben, bis irgendeine zukünftige Zivilisation vielleicht ihre eigentliche Bedeutung versteht.
Die Mythologie ist ohne Zweifel eine solche Hinterlassenschaft. Das wird immer mehr klar, denn wir können feststellen, daß in allen Teilen der Erde, wenn auch mit geringen Abweichungen, im wesentlichen jedoch die gleichen Darstellungen zu finden sind. Die Ähnlichkeit ist so groß, daß zufälliges Übereinstimmen ausgeschlossen ist. Anscheinend kannten vor langer Zeit die Menschen die Gesetze der universalen Natur genauso gut wie wir. Manche unserer Erfindungen besaßen sie nicht, dafür aber andere, die wir nicht kennen. Die Weisen jener Zeiten erfanden offenbar ein erfolgreiches Mittel, um das Wissen lebendig zu erhalten, selbst wenn jene, die die Erzählungen hörten und weitererzählten, deren Sinn nicht verstanden. Sie betrachteten die Naturgesetze als Handlungen oder Verhaltensweisen kosmischer, solarer und planetarischer Intelligenzen. Intelligenz wurde nicht als ein menschliches Privileg betrachtet, denn wie kann ein Mensch etwas besitzen, was nicht auch im Universum vorhanden ist, von dem er ein integraler Teil ist? Für sie war der unendliche Raum mit sichtbaren und unsichtbaren Wesen angefüllt, wobei jede Einheit einen regierenden Hierarchen besaß, dessen Substanz sein Reich durchdrang. Man kann das etwa mit dem Selbst des Menschen vergleichen, das das wimmelnde Leben in seiner Konstitution regiert und durchdringt, während der Mensch sein ganzes Dasein in einem größeren Organismus hat und darin lebt und sich bewegt.
Das Hauptthema in der Edda ist die Pilgerschaft des Bewußtseins (ein "Gott") durch die materiellen Welten (ein "Riese"). Oft nimmt es die Form eines Dialoges an: Der Gott befragt den Riesen über die geoffenbarten Welten, während der Riese Wissen über die "Namen" (das innerste Wesen) der Dinge erhält. Die zwei Aspekte des Daseins, subjektiv und objektiv, sind ineinander verzahnt und verhelfen sich zu gegenseitigem Wachstum.
Die Worte "Riese" oder "Riesin" werden auch gebraucht, um unermeßliche Zeitperioden zu bezeichnen. Die Zeitalter äußerster Ruhe, in denen es zwischen den Äonen der Manifestationen anscheinend kein Leben gab, und die Götter sich in ihre eigenen Sphären zurückgezogen hatten, werden "Eisriesen" genannt - ein Ausdruck, der mit "Urzustand" (vor der Schöpfung) verglichen werden kann: ein Zustand frostiger Unbeweglichkeit, Nichtexistenz, "Dunkelheit auf dem Antlitz der Tiefe", was an den "absoluten Nullpunkt" der Wissenschaft erinnert, oder die vollkommene Abwesenheit molekularer Bewegung.
In jeder Periode manifestierten Lebens, sei es einer Milchstraße, eines Menschen oder eines Atoms, gibt es ein beständiges Wechselspiel zwischen Gott und Riesen, zwischen Energie und Trägheit, denn beide sind in jeder Lebensform gegenseitig unbedingt notwendig, wie zwei Seiten einer Münze. Keine kann ohne die andere existieren. Riesen bedeuten untätiger Urzustand ohne Bewußtsein, das ihn mit Leben erfüllen würde. Die Götter brauchen die Riesen als Medium zur Erlangung von "Met", der evolutionären Erfahrung, mit der sie ernährt werden. Der Met wird in der Halle (Weltenraum) des Riesen Äger gebraut und an den "Tafeln" der Sterne und Planeten serviert. In den Schriften der Hindus steht: "das Universum existiert um der Erfahrung der Seele willen."
Während die Götter und die Riesen, die sich gegenseitig ergänzenden Extreme, reine Göttlichkeit und absolute Materie darstellen, - beide intellektuell nicht zu erfassende abstrakte Begriffe - ist die Umwelt angefüllt mit Wesen auf allen Stufen des Fortschritts, wobei jedes seinen "Gott" in größerem oder geringerem Grade entwickelt hat, und jedes ist in einem "Riesen" verkörpert. Das Bewußtsein, das seinen inneren Gott in einem gewissen Grad so zum Ausdruck bringt, wird ein "Elf" genannt, was "Kanal" bedeutet. Es gibt zahlreiche Klassen von Licht- und Schattenelfen in allen Graden des Wachstums und Bewußtseins. Wie die "Zwerge" zu ihrem Namen kamen, ist leicht zu ersehen, denn die Wesen, die sich noch nicht bis zur menschlichen Stufe entwickelt haben, die "geringer" als Menschen sind (die Isländer benutzen das gleiche in Frage kommende Wort für "kleiner"), werden Zwerge genannt. Von ihnen gibt es verschiedene Klassen: das Tier- und Pflanzenreich, und die geschickten Schmiede und Metallbearbeiter im dunklen Boden sind die Mineralien.
Von den Göttern gibt es zwei Arten: die Wanen und die Asen. Die ersteren sind reine Gottheiten, die nicht zu manifestiertem Dasein gelangt sind; sie werden als etwas Unvollkommenes geschildert, weil sie aus Mangel an Erfahrung sich nicht weiter entwickeln konnten. Die anderen sind die Asen, die es übernommen haben, lebende Formen zu inspirieren. Sie sind die Bewohner von Asgard, die in Verkleidung die Sphären des Lebens, die Welt der Riesen, besuchen oder Boten dahin senden; denn die göttliche Essenz kann nicht unmittelbar mit materieller Substanz in Verbindung treten, sondern muß "verkleidet" oder "herabtransformiert" werden.
Diese alten Überlieferungen enthalten die Wissenschaft und Philosophie, die in jenen Zeiten die Religionen bildeten, in denen der Mensch mehr ehrfurchtsvoll war als abergläubisch, mehr realistisch als materialistisch, und seine Ethik auf universales Gesetz gründete. Er bemühte sich, kosmische Prinzipien auf der kleineren Arena seines Wirkungskreises anzuwenden, denn er begriff seine Rolle als eine lebendige Seele innerhalb der größeren Weltseele.
Wer die majestätischen Versrhythmen der älteren Edda liest, empfängt einen Eindruck vom Spielraum der Äonen und von sich selbst als einem integralen Teil im Universum - einer 'Einheit' - und von den in erhabenem Streben verpflichteten göttlichen Mächten, in deren Vorstellung das unbedeutende Leben des Menschen ein kleiner, und dennoch wesentlicher Aspekt im Panorama der in Bewegung befindlichen Welten ist. Man hat dabei die Möglichkeit, den Lauf des kosmischen Geschehens zu überblicken, die Sonnenstrahlen als unmittelbare, belebende Wirklichkeit zu fühlen und die Musik der Sterne zu hören, die um das göttliche Zentrum des großen, galaktischen Rades kreisen. Zweifellos ist nun die Zeit gekommen, wo wir verständig genug geworden sind, in unserer Zivilisation den Sinn zu suchen, der den Mythen zugrunde liegt, so daß die Form mehr als Behälter der Wahrheit, denn als Endzweck angesehen wird.