Das Erwachen
- Sunrise 1/1974
Vor einigen Jahrhunderten lebte in der alten syrischen Stadt Hama ein Kaufmann mit Namen Hasan Ibn Said, der mit Seide handelte. Fortuna hatte ihn als einen ihrer Lieblinge auserwählt. Von seinem Vater hatte er ein blühendes Geschäft geerbt. Er heiratete eine schöne und tugendhafte Frau, die ihn sehr achtete, und die Ehe war mit zwei männlichen Erben gesegnet. Zahlreiche Diener waren ihm ergeben, denn er behandelte sie milde und gerecht. In all seinen Unternehmungen war er als redlich bekannt, und so genoß er in der ganzen Stadt einen ausgezeichneten Ruf.
Eines Tages aber, als Hasan im Begriff war, die Moschee zu betreten, um seinen religiösen Pflichten nachzukommen, wurde er plötzlich von einem Bettler aufgehalten, der sich vor ihn hinwarf. In der Nähe des Eingangs hielt sich immer eine Gruppe dieser Unglücklichen auf, und Hasan war an den Anblick ihres erbärmlichen Zustandes schon gewohnt. Doch wenn er seine Almosen verteilt hatte und damit die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, erfüllt waren, zollte er ihnen höchst selten noch weitere Beachtung. Diesmal jedoch blickte er auf einen Menschen herab, der so mißgestaltet war, daß man ohne weiteres annehmen konnte, er sei als Schreckgespenst eines Dämons heraufbeschworen worden. Der Körper war nicht größer als der eines kleinen Kindes. Die Glieder, Zerrbilder von Armen und Beinen, waren derart nach hinten gekrümmt, daß das unglückliche Geschöpf seinen Rücken nur vom Boden abheben konnte wenn es sich auf die Stummel stützte. In dieser horizontalen Haltung vermochte es sich mit ruckartigen Bewegungen vorwärts oder seitwärts zu bewegen. Seinen großen Kopf streckte es dabei die ganze Zeit nach oben.
Einige Sekunden stand Hasan wie angewurzelt. Es schien ihm, als stünde er dem verkörperten Leid gegenüber, und als er in die Augen des Bettlers blickte, war ihm, als sehe er das Leiden, das den Menschen verhärtet und verdirbt. Hasans sehnlichster Wunsch war, so schnell wie möglich wegzukommen. Verwirrt suchte er in den Falten seines Gewandes nach Geld und warf die erste Münze hinab, die ihm in die Finger kam. In der Hast hatte er nicht bemerkt, wie wenig es war, aber der Mensch zu seinen Füßen sah es und verfluchte ihn sogleich mit solcher Heftigkeit, daß Hasan das Gefühl hatte, ihn durchbohre ein unsichtbares Messer.
Ganz verwirrt trat Hasan in die Stille und in das gedämpfte Licht der Moschee ein. Heute verrichtete er nur ein Gebet, fand jedoch keine Ruhe in seiner Seele. Auch während er durch die engen, gewundenen Straßen der Stadt nach Hause ging, gewann er seine gewohnte Gemütsruhe nicht wieder. So sehr er sich auch bemühte, er konnte das Gefühl der Schuld nicht loswerden, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Dieses Schuldgefühl zwang ihn, alle Leute, die ihm begegneten, aufmerksam zu betrachten. Noch nie zuvor war ihm, wie heute, aufgefallen, in welch schlimmen Verhältnissen ein großer Teil der Bevölkerung lebte, den oft schlecht ernährten Gestalten in abgetragenen Kleidern nach zu schließen. Aber es gab noch andere Dinge zu sehen: das erschütternde Bild der Alten, die sich kaum auf den Beinen halten konnten; und die vielgestaltige Geißel der Krankheiten, die selbst die teilnahmslosen und blassen Säuglinge im Arm der Mutter nicht verschonte, deren kleine Gesichter mit Wunden bedeckt waren. Je mehr Menschen er begegnete, desto stärker hatte er das Gefühl, daß ihn alle anklagend anstarrten und wegen seines offensichtlichen Reichtums und Glückes beneideten.
Durch die unselige Begegnung kam es zu einem Wendepunkt im Leben des Seidenhändlers. Während er vorher glücklich und zufrieden war, überschattete ihn jetzt eine dunkle Wolke der Verzweiflung. Tagsüber bedrückte ihn der Gedanke an das viele Elend in der Welt und nachts klang der Fluch des Bettlers noch in seinen Ohren. Immer wenn er jemand in Not sah, war es ihm, als beträfe es ihn selbst. Ein zwingendes Verlangen kam über ihn, zu versuchen, das Elend etwas zu mildern und den Bedrückten ihre Bürde abzunehmen. Schließlich konnte er seinen inneren Eingebungen nicht länger widerstehen, und er gab bekannt, daß in seinem Hofe Nahrung und etwas Geld für jedermann bereitstünden, der hungrig sei.
Bald drängten sich die Menschen in seinem Hofe wie auf dem Marktplatz. Anfangs waren sie noch argwöhnisch, denn sie sahen keinen ersichtlichen Grund, warum der reiche Kaufmann Nahrung und Geld verteilte. Aber immer mehr nahmen viele der Armen seine Mildtätigkeit in Anspruch. Dutzende von Bettlern verbrachten sogar ihre ganze Zeit dort und lobpreisten Allah, weil sie nicht mehr zu betteln brauchten. Es kamen natürlich auch solche, die sich selbst sehr gut hätten ernähren können, aber diesen bequemen Lebensweg harter Arbeit vorzogen. In Lumpen und Fetzen gekleidet, jammerten sie so mitleiderregend, daß es einen Stein hätte erweichen können. Waren sie jedoch außer Sichtweite, so lachten sie über diesen Narren, der sein Vermögen an sie verschwendete.
Nach einer Weile begannen aber Hasans Reichtümer zu schwinden. Seine Frau, die früher so fügsam und darauf bedacht war, Freude zu bereiten, hielt ihn allmählich für einen Verrückten. In ihrem Ärger schalt sie ihn wegen seines unerklärlichen Benehmens. Viele Leute in der Stadt bemitleideten sie, weil sie dulden mußte, daß alle diese widerlichen Schurken faktisch das ganze Haus in Besitz genommen hatten. Hasan merkte das wohl, und er wußte auch, daß nur wenige von denen, die er unterstützte, sein Opfer wirklich würdigten. Jedoch nichts konnte ihn von dem abbringen, was er als seine Pflicht ansah.
Eines Tages wurde dem allen ein jähes Ende gesetzt. Seine mit kostbarer Seide und mit Damast beladene Karawane war von einer Räuberbande überfallen und seine Leute bis auf den letzten Mann getötet worden. Das ereignete sich gerade dann, als auch die Schätze in seinen Truhen zu Ende gingen. Er war jetzt ein ruinierter Mann. Als sich diese Neuigkeit verbreitete, schmolz das Heer seiner Gefolgsleute innerhalb einer einzigen Stunde wie Wachs in der Sonne dahin und nur der Unrat, den sie zurückließen, zeugte von ihrer früheren Anwesenheit. Als ob sein finanzielles Unglück noch nicht genug wäre, erfaßte eine in der Stadt wütende Seuche sein gesamtes Haus. Er war der einzige, der am Leben blieb.
Überwältigt durch die Schläge, die das Schicksal ihm so rasch aufeinander erteilt hatte, zog Hasan sich zurück. Am meisten bekümmerte ihn, daß er trotz all seiner Bemühungen kaum mehr als die Oberfläche des menschlichen Leides berührt hatte. Ein Teil des ganzen Elends, das die Menschheit plagt, kann nicht durch materielle Mittel behoben werden, denn noch soviel Geld kann einen alten Körper nicht wieder jung oder den Verlust eines geliebten Menschen rückgängig machen. Er erkannte auch, daß Hunger und Armut, ja sogar Krankheit, oft nicht so sehr die grausamen Schläge des Schicksals waren, als vielmehr die Folgen der Selbstsucht, Trägheit und Habgier des Menschen. In seinem glühenden Wunsche, anderen zu helfen, hatte er in Wirklichkeit in den meisten Fällen nur jene Schwächen gestärkt, die an erster Stelle zu diesen Mißverhältnissen führten. Es genügte nicht, wenn nur die äußeren Umstände verbessert wurden. Die innere Natur des Menschen mußte verändert werden. Nachdem er in seinen Überlegungen soweit gekommen war, betrachtete er es nunmehr als seine Pflicht und Schuldigkeit, jedermann zu empfehlen, er solle die einfachen Tugenden praktisch ausüben, wenn er glücklicher leben wolle. Da er glaubte, dieser neuen Aufgabe nicht gewachsen zu sein, entschloß er sich, eine Pilgerfahrt nach Mekka zu machen.
Auf dem Rückweg von dieser heiligen Stadt schloß er sich einem der Pilger an, mit denen er reiste. Es war ein Mann mittleren Alters mit vornehmen Manieren. Diesem erzählte er von seiner Suche nach Wissen. Der Mann war sehr wortkarg, doch als sie sich kurz vor dem Ende ihrer Reise einer Oase näherten, sagte er zu Hasan: "In der Hütte unter jener Gruppe von Dattelpalmen wirst Du jemand finden, den ich schon seit vielen Jahren kenne, und den ich als einen der größten Weisen unserer Generation verehre. Er wird Dir sicherlich helfen, Dein Ziel zu erreichen. Gehe zu ihm und folge seinem Rat."
Hasan hatte großes Vertrauen zu seinem Mitpilger gefaßt. Er blieb deshalb in der Oase zurück und hoffte, daß ihn der weise Mann nicht abweisen werde. Er hatte eine würdevolle Gestalt mit asketischem Aussehen erwartet und war nun enttäuscht, einen alten, untersetzten Bauern mit freundlichem Gesicht anzutreffen, der einen Eimer mit schäumender Ziegenmilch trug. Er ließ sich jedoch nicht abschrecken und trug ihm seinen Wunsch vor, Belehrung zu empfangen. Zu seiner Überraschung schüttelte der alte Mann den Kopf und lachte leise. Schließlich sagte er: "Mein Sohn, kein Mensch kann Dich Weisheit lehren, denn das Leben selbst ist die große Schule. Wenn aber das Verlangen zu helfen in Dir so stark ist, daß es Dich zwingt, ihm bedingungslos zu folgen, und wenn Du das Leid, das ein solcher Entschluß bringen wird, ertragen willst, dann werden sich auch die Schleier der Selbstsucht allmählich lüften. Das Verstehen wird in dem Maße wachsen, wie es erforderlich ist. Du erwartest von mir viel mehr, als ich Dir je versprechen könnte, aber wenn Du bleiben willst, so ist hier eine Ecke für Dich in der Hütte, in der Du schlafen kannst. Du kommst gerade recht, mir bei der Dattelernte zu helfen."
So teilte der Seidenhändler das enge Quartier mit seinem Gastgeber, der tausendundeine Aufgaben für ihn fand, die alle schwere und niedrige Arbeit bedeuteten, für die ein Stadtbewohner schlecht vorbereitet und nicht richtig gekleidet war. Was das formale Lehren anbetraf, so war der Weise der wortkargste Mensch, dem Hasan je begegnet war, und oft schien er die Anwesenheit seines Gastes gar nicht zu bemerken. Die Zeit verging, und Hasan begann sich zu fragen, warum er eigentlich hier sei. Das ziemlich unfeine Benehmen des alten Mannes und seine Art, leise zu murmeln, reizten Hasan derart, daß er sich nachts, wenn er seinem friedlichen Schnarchen lauschte, kaum beherrschen konnte, ihn nicht zu verwünschen. Eine große Wut stieg in ihm auf: Wie konnte dieser stille, alte Narr vorgeben, ein Weiser zu sein; hatte sein Leben der Menschheit schon irgendwie genützt?
Eines Morgens sagte der Weise: "Es kommt eine Karawane. Wenn sie an der Quelle rastet, dann frage, ob Du Dich ihr anschließen darfst. Gehe zurück in die Stadt, denn hier verschwendest Du Deine Zeit. Dein Gehirn hat immer noch die Oberhand über Deine Seele, und Du wirst noch viele Prüfungen erdulden müssen, ehe Du für irgend jemand wirklich von Nutzen sein kannst." Als Hasan erfuhr, daß die Karawane auf dem Wege nach Aleppo war, freute er sich sehr, denn seitdem er alles verloren hatte, hatte er keine Lust mehr verspürt, in seine Vaterstadt zurückzukehren.
Sein Aufenthalt in der Wüste hatte nichts weiter eingebracht als Enttäuschung, und Hasan war überzeugt, daß er gewiß ebenso weise sei wie dieser alte Bauer, der äußerst selten sein Gehöft verließ; er, Hasan, kannte wenigstens den Lauf der Welt. So zögerte er nicht länger, sondern begann seine Pläne voranzutreiben. Jeden Nachmittag versammelte er eine Gruppe Menschen um sich und verkündete ihnen seine Ideen. Anfangs hörten sie zu und waren neugierig, was er wohl zu sagen hätte, denn offensichtlich war er aufrichtig und meinte es gut. Mit vielem konnten sie jedoch ganz und gar nicht übereinstimmen, und allmählich wurden sie ungehalten; niemand, der nicht genug zu essen hat, möchte hören, daß seine Faulheit daran schuld ist. Auch für die Kranken ist es nicht gerade angenehm, zu denken, daß möglicherweise ihr Neid und ihre geheimen Feindseligkeiten wie Geschwüre sind, die kein Ventil zum Verlassen des Körpers finden.
Schließlich erregten seine Reden einen solchen Aufruhr, daß die Behörden beschlossen, die Stadt von diesem Ärgernis zu befreien. Am folgenden Nachmittag ergriffen ihn ein halbes Dutzend Soldaten und brachten ihn ohne viel Umschweife zur Zitadelle. Unterhalb der Feste befand sich ein unterirdisches Verlies, in das die Missetäter durch ein Loch in der Decke gestoßen wurden. Dabei fielen sie viele Meter tief recht unsanft auf den harten Steinboden. Jene, die dabei zu Tode stürzten, konnten zu den Glücklichen gezählt werden, denn war man erst einmal in dem Verlies, so war die Möglichkeit, zu überleben, gering. Obgleich der stattliche Körper seines unfreiwilligen Vorgängers Hasans Fall milderte, verstauchte er sich den rechten Fuß und litt beträchtliche Schmerzen. Anfangs war es schwer, in dem Halbdunkel die Gesichter seiner Gefährten in dieser Hölle zu unterscheiden. Die meisten von ihnen waren rohe Burschen, Desperados und Verbrecher.
Bei der wilden Rauferei um ihre ungenügende Nahrung, die jeden Tag hinabgeworfen wurde, gelang es Hasan, wenigstens einige Bissen zu erhaschen, aber sein Hunger wurde unerträglich. Eines Tages, als er besonders verzweifelt war, bemerkte er, daß neben ihm ein Mann, der zu erschöpft war, um zu essen, krampfhaft ein Stück Brot festhielt. Ehe er wußte, was er tat, kroch Hasan zu ihm hin mit der Absicht, ihm die Finger zu lösen und sich das Brot anzueignen. Als er ihn fast erreicht hatte, sah er sein Opfer an und war betroffen, wie schwach und wehrlos es war. Ein Schaudern ging durch seinen Körper: Noch vor einer Woche hatte er allen jenen, die es hören wollten, gesagt, daß es die eigene Selbstsucht des Menschen ist, die ihm Leid bringt, und heute hätte er fast einem Verhungernden einen Bissen Nahrung geraubt, die ihm vielleicht das Leben erhalten hätte. Schnell nahm er das harte Brot, brach es in kleine Stücke und, nachdem er den Mann gerüttelt hatte, damit er wieder zu Bewußtsein kam, begann er ihn zu füttern.
Je länger er über dieses Ereignis nachdachte, desto klarer wurde ihm, wie falsch er alles angefangen hatte, trotz seiner guten Absichten. Welches Recht hatte er gehabt, andere zu ermahnen, während er selbst beinahe versagt hatte, als er auf die Probe gestellt wurde. Eine wunderbare neue Erkenntnis wuchs in ihm: Sein anfänglicher Widerwille gegen seine Mitgefangenen, weil sie so roh waren und einen so schlechten Charakter hatten, verschwand plötzlich. Statt dessen erkannte er in jedem von ihnen einen Aspekt seiner selbst. Obgleich sie verschieden im Ausdruck waren, waren sie im Grunde eins. Ihre Laster empörten ihn nicht mehr, weil er begriff, daß sie im Prinzip auch in ihm vorhanden waren. Und selbst in den Schlimmsten von ihnen war eine Anlage zum Guten, das auf ein wenig Ermutigung wartete, um aufzublühen. Das Leid hatte seinen Schrecken verloren, weil es ein Zustand ist, an dem alle Menschen, die Guten wie die Bösen, teilhaben; ein Heilungsvorgang, durch den Unrecht wieder gut gemacht und das Gleichgewicht wieder hergestellt werden kann.
Hasan verblieb noch zwei Jahre in dem Verlies unter der großen Zitadelle. Wie durch ein Wunder blieb er am Leben, obgleich er in dieser kurzen Zeit mehr alterte als er sonst in zwei Jahrzehnten gealtert wäre; er gewann aber auch größere Erkenntnis als in einem Leben des Glückes und des Wohlstandes. Gerade als seine Kraft sich ihrem Ende näherte, wurde eine allgemeine Amnestie verkündet, und er war plötzlich frei. Blinzelnd im ungewohnten Sonnenlicht und zu schwach, um weit zu gehen, setzte er sich an den Rand der staubigen Straße, als gerade vor ihm ein Maulesel anhielt. Zu seiner äußersten Überraschung erkannte er in dessen Reiter den weisen Bauern von der Oase. Ohne ein Wort zu sprechen, hob ihn dieser auf, setzte ihn in den Sattel, und zusammen machten sie sich auf die Reise zurück zur Oase.
Wie lange Hasan dort verweilte, konnte er nie sagen, weil die Tage unbeachtet verflossen, wie die trockenen Sandkörner zwischen den Fingern einer geschlossenen Hand hindurch rinnen. Als er wieder zu Kräften kam, half er dem alten Mann wieder bei seiner täglichen Arbeit. Nach Sonnenuntergang saßen beide meist im Dunkeln, um die Kühle des Abends zu genießen. Sie sprachen nur wenig und es waren einfache Worte. Doch schon diese wenigen Sätze schienen die Sterne über ihnen zu stören.
Eines Tages traf der alte Weise eine Gruppe Beduinen an der Quelle, die nach Aleppo unterwegs waren, um dort einige Felle zu verkaufen. Er drängte Hasan, mit ihnen zu gehen und in dieser Stadt ein neues Leben zu beginnen. So bestieg Hasan ein Kamel und schloß sich den Reisenden an. Es war eine abgehärtete Gruppe von Männern und Frauen, die mühsam neben ihren Tieren dahinwanderten, denen ihre ganzen irdischen Besitztümer aufgepackt waren. Sie trugen sogar ein oder zwei Kinder, die zu klein waren, um zu laufen, und einige neugeborene Lämmer, die aus Protest gegen ihre Gefangenschaft laut blökten.
Nachdem sie ihren Bestimmungsort erreicht hatten, wanderte Hasan in dem endlosen Labyrinth enger Gassen des großen Marktes umher, wo die verschiedenen Handelsleute in kleinen, halboffenen Läden ihre Waren ausbreiteten. Anfangs wurde er durch die Anwesenheit so vieler Menschen überwältigt. Sie stießen sich mit den Ellbogen, zerrten hastig Maultiere und Esel zur Seite, auf deren Rücken Lasten befestigt waren und die von ihren unbarmherzigen Treibern durch das Gedränge getrieben wurden. Aus den kleinen Buden, in denen auf einem Holzkohlenfeuer Essen zubereitet wurde, drangen würzige Düfte. Der Duft war so einladend, daß Hasan in eine der Buden eintrat. Der Besitzer, der glücklich war, einen mitfühlenden Zuhörer gefunden zu haben, erzählte ihm ausführlich von seinen Schmerzen und seinem Kummer und von der schweren Arbeit, die er in seinem Alter leisten mußte, weil er keine Söhne oder Neffen habe, die ihm helfen konnten. Hasans Anerbieten, ihm an die Hand zu gehen, wurde freudig angenommen.
Und so begann für den Seidenhändler von Hama ein neues Kapitel seines Lebens. Der Eigentümer starb binnen eines Jahres und Hasan erbte das Geschäft. Täglich kamen Dutzende von Leuten, und mit jedem tauschte er ein paar Worte aus oder auch nur ein Lächeln. Oft verweilten sie eine Zeitlang und erzählten ihm von ihren Kümmernissen und Sorgen und er hörte ihnen aufmerksam zu. Obwohl er selten einen Rat gab, hatten seine Kunden das Gefühl, er habe ihnen geholfen. Dadurch, daß sie Gelegenheit hatten, über ihre Probleme zu sprechen, hatten sie diese tatsächlich selbst gelöst. Hasan erwähnte selten die großen Wahrheiten, die er während seines Aufenthaltes bei dem weisen Mann in der Wüste gewonnen hatte, doch indirekt fanden sie bei jeder Berührung mit seinen Mitmenschen Ausdruck.
So lebte er noch lange Jahre, bis man ihn eines Tages auf dem Fußboden seines Ladens fand, wo er friedlich entschlafen war. Sofort drängten sich Neugierige zusammen und fingen an, miteinander zu diskutieren. Manche waren traurig, weil sie einen Wohltäter verloren hatten (denn oft fand ein beträchtlicher Teil seines Verdienstes unauffällig seinen Weg in Hütten, wo große Not herrschte). Aber die meisten trauerten, weil ein guter Freund und Berater dahingeschieden war. Einer von ihnen sagte: "Es gab keinen, der weiser war." Ein altes Weib, das sich dem Haufen anschloß, spuckte auf den Boden: "Weise?" ächzte sie, "dieser Narr konnte nicht einmal zählen. Er bemerkte es niemals, wenn ich ihm zu wenig bezahlte!" Dann schlurfte sie davon.
Doch weder Lob noch Tadel interessierten Hasan Ibn Said noch irgendwie, denn in der Stunde des Todes hatte er jenen Moment höchster Wahrheit erfahren, in dem jeder Sterbliche die Rechtmäßigkeit des eben abgelaufenen Lebens erkennen kann. Er sah Bilder aus seiner Kindheit im Hause seiner Eltern und aus seiner Jugend, als das Leben herrlich war und nie, niemals ein Ende zu haben schien. Die glücklichen Jahre mit seiner schönen Frau und ihren zwei Söhnen wurden wieder lebendige Wirklichkeit und waren nicht länger ein undeutlicher Traum aus der Vergangenheit. Der verkrüppelte Bettler war da, widerlich anzusehen, und doch veredelt, denn unbewußt war er ein Agent des Schicksals gewesen, der in einem guten, aber selbstzufriedenen Menschen die Flamme des Mitleids entzündet hatte. Jedoch erst als sich Hasans inneres Wahrnehmungsvermögen entwickelt hatte und in dem fruchtbaren Boden des Leides wuchs und nachdem er wirklich bescheiden geworden war, bekam sein Wunsch, zu helfen, Wert. Sein geistiges Auge überblickte die lange Reihe der Gefangenen in der Zitadelle, von denen jeder eine Seite im Buch des Lebens darstellte, die er hatte lesen können. Immer mehr Menschen drängten sich um ihn. Es schien eine endlose Menge zu sein. Keine Einzelheit wurde übersehen. Langsam formte sich ein Bild: Nicht länger durch festgefügte Vorstellungen behindert, floß seine Hilfsbereitschaft durch die natürlichen Kanäle, die das Leben bietet, geleitet durch geschärfte Intuition. Während er die einfachen Pflichten des Alltagslebens erfüllte, hatte sein Leben viele hunderte Leben anderer berührt.
Die Sterne schienen und der Weise saß mit Hasan unter dem Baldachin der dunkelblauen Nacht. Während sie sich unterhielten, kamen die Sterne tatsächlich näher. Nein, es schien ihm nur so, denn er selbst war es, der sich immer leichter und schneller bewegte - und plötzlich wußte er, daß er auf eine weite Reise ging.