Der Rhythmus der Natur
- Sunrise 3/1973
Mit der ersten schwachen Färbung am östlichen Himmel beginnen die Vögel ihr Morgenlied zu singen, und das hält an bis die Sonne aufgegangen ist und das ernste Geschäft der Nahrungssuche sie in Anspruch nimmt. Den ganzen warmen, sonnigen Tag hindurch erfüllt dann das Gezwitscher von Vogelrufen die Wälder. Doch sobald die Sonne unter den Horizont hinabsinkt, verbreitet sich eine seltsame Stille. Kein Ton ist zu hören. Später ertönt dann die silberhelle Stimme der Weidendrossel und der Aunachtigall, denen sich der Wiesenstärling, die Wanderdrossel, der Hüttensänger (eine mit dem Rotkehlchen verwandte Drossel), der Pirol und ein Heer anderer Vögel anschließen, wenn auch sie mit ihrem Abendlied beginnen.
Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sind Zeiten, in denen sich der Schleier zwischen der inneren und der äußeren Welt lichtet. Etwas von innen berührt das Herz und die ganze Natur antwortet: die Vögel mit ihrem Gesang, die Pflanzen mit dem Öffnen und Schließen ihrer Blüten. Die vier Viertel des Tages spiegeln die vier Jahreszeiten wider: jede Morgendämmerung bringt wiedererwecktes Leben für den Zyklus des Tages mit sich, genau wie im Frühling, dem Morgen des Jahres, wo überall neues Leben erwacht und die Singvögel aus dem Süden zurückkommen.
Die Flugwanderung der Vögel ist eines der größten unerklärlichen Geschehen der Erde. Es ist erwiesen, daß die Ankunftszeit jeder Vogelart genau mit dem Wachstum der Vegetation zusammenhängt. Wenn die Pflanzen spät kommen, dann sind auch die Vögel später da. Natürlich gibt es im Zusammenhang mit den Vogelzügen viele ungelöste Probleme. Wie erkennen sie die für sie richtige Zeit? Wie finden sie ihren Weg, obwohl sie doch bei Nacht fliegen? Und wie sind sie imstande, derart riesengroße Entfernungen zu bewältigen? Der Goldregenpfeifer fliegt zum Beispiel ohne Unterbrechung von den Aleuten nach Hawaii und von dort zu den Marquesas-Inseln, und im Frühling kehrt er auf demselben Weg wieder zurück.
Wanderungen sind universal und haben viele Formen. Bei der Libelle ist es eine Metamorphose, die vom Leben im Wasser zum Leben in der Luft übergeht. Dann gibt es große Rassenwanderungen unter Pflanzen, Tieren und Menschen. Die Reise der menschlichen Seele, die zwischen den Leben durch die Sphären erfolgt, kann wiederum als höhere Form der Wanderung betrachtet werden.
Wenn wir das Leben um uns herum beobachten, nehmen wir den Rhythmus und den Pulsschlag der Natur wahr, die wie ein Grundton alle Dinge miteinander verbinden. Es gibt Räder innerhalb der Räder und Zyklen innerhalb von Zyklen, denn der Rhythmus des Lebens pulsiert überall.