Die drei Krüge
- Sunrise 3/1973
Im Verlauf der Jahre habe ich schon hundertmal an ein Erlebnis zurückgedacht, das ich in der Mittelschule hatte, und jedesmal gewann ich daraus wieder neue Erkenntnis. An der Art wie unsere Lehrerin an jenem Tage drei ziemlich große Krüge auf ihr Pult stellte, konnten wir erkennen, daß sie sich etwas Besonderes ausgedacht hatte. Auf dem Boden eines jeden Kruges lag eine leuchtend rote, etwas längliche Christbaumkugel.
"Vor langer, langer Zeit", so erzählte sie uns, "brachte im weit entfernten Persien ein weiser alter Sufi einen schönen, reichverzierten Messingkrug an den Hof des Schahs. Als er ihn vor die versammelten Höflinge hinstellte, fragte er, ob jemand das darin liegende goldene Fasanenei herausnehmen könne. Obwohl es viele versuchten, gelang es nur einem."
"Nun", forderte die Lehrerin uns auf, "möchte ich gerne wissen, ob jemand unter euch auch so geschickt ist und die Kugel aus einem der Krüge herausnehmen kann." Wir wollten es alle versuchen, aber die Lehrerin winkte Robert herbei, der bereits auf halbem Wege zu ihr war. Ohne zu zögern, steckte er seinen Arm in den ersten Krug und erfaßte die Kugel. Sie jedoch wieder herauszubekommen, das war eine andere Sache, denn die Hand, die die zerbrechliche Glaskugel umfaßt hielt, war nun zu groß. Wie er sie auch drehte und wendete, es ging nicht! Bestürzung und Verlegenheit verwandelten sich in Wut, bis er schließlich, schwer enttäuscht, den Krug mit der eingeschlossenen Faust hochhob und auf den Boden schmetterte. Von den verstreuten Glasscherben nahm er keine Notiz, er streckte uns die Hand entgegen und öffnete sie langsam. Die Kugel war wunderbarer Weise unversehrt - aber nur eine Sekunde lang. Durch den festen Griff war sie eingedrückt worden und zerfiel nun auf seiner offenen Handfläche in Stücke.
Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, wurde Katherine, die die Scherben auf dem Boden zusammengekehrt hatte, gebeten, es mit dem zweiten Krug zu versuchen. Sie erwog lange, wie sie es anstellen sollte. Schließlich nahm sie die lange Aquariumzange und griff damit vorsichtig in den Krug. Sie mußte es immer und immer wieder versuchen, bis es ihr gelang, das kleine Spielzeug so zu fassen, daß sie es siegreich der Länge nach herausfischen konnte.
Die ganze Zeit über hatte Erich den Arm gehoben. Als er nun aufgerufen wurde, lächelte er etwas verlegen und sagte: "Das ist doch ganz einfach!", er kippte den Krug um und fing die Kugel in seiner Hand auf. Überrascht klatschten wir freudig Beifall. Die Lehrerin schenkte Erich die Kugel als Andenken, und zu uns gewandt sagte sie: "Laßt uns einige Tage über die Sache nachdenken, dann wollen wir darüber sprechen."
Aber wir sprachen niemals darüber. Vielleicht hätte das alles verdorben. In späteren Jahren dachte ich jedoch oft darüber nach. Roberts impulsives Handeln ist ein gutes Beispiel für die Kurzsichtigkeit des Menschen: wie oft fesseln wir uns selbst, wenn wir gierig nach den Schätzen des Lebens greifen, und zerstören damit unvermeidlich, was uns teuer ist. Katherines Bemühen war bedächtig und erforderte Geduld. Sie war aber auch erfinderisch und praktisch. Doch Erichs Vorgehen - der das Einfache im Komplizierten sah und Probleme ohne großes Getue löste, ist wirklich selten, und - reine Weisheit. Könnten wir nur ebenso leicht den innersten Kern des Lebenszwecks erkennen und den einengenden Begrenzungen so einfach entschlüpfen!
Ich selbst habe das Experiment mit dem Krug wiederholt versucht. Es ist jedesmal fehlgeschlagen, obwohl ich es mit Angelhaken, Kaugummi, mit Wasser und sogar nach Erichs Methode versucht habe - er muß den Krug besonders geschickt gehandhabt haben, als er ihn umkippte. Aber gerade diese Fehlschläge verstärkten meine Anerkennung für die Sufi-Geschichte, für unsere Lehrerin und deren Kenntnis vom Wert der Mythen und Märchen. Sie wußte, daß die jugendliche Imagination leicht beeinflußbar und lebhaft ist; mit so einfachen Hilfsmitteln wie jenen drei Krügen, einem Navaho-Korb oder einer Fabel von Aesop entführte sie uns in unbekannte neue Welten und erweckte in uns eine Begeisterung, die damals und später der Geographie, Geschichte, Archäologie und Psychologie eine tiefere Bedeutung zuerkannte.
Sie tat noch mehr: Die dramatische moralische Belehrung jener alten Geschichten beeindruckte unser inneres Wesen. Wir bekamen dadurch ein Gefühl für die unverletzlichen Gesetze der Wahrheit und Gerechtigkeit. Die sachliche Einfachheit der Beschreibung und der Handlung ließ uns mit den entsprechenden Vorgängen unseres eigenen Lebens Vergleiche anstellen und ihren Sinn suchen, was sonst nicht geschehen wäre.
Dieses Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit ist wohl der Grund, warum Mythen und Legenden erhalten bleiben, obwohl sie von Händlern, Missionaren und Barden, die sie über die kulturellen Grenzen brachten, oft verändert und sogar entstellt wurden. Das muß auch der Grund sein, warum sie sowohl bei ungebildeten Stämmen als auch bei weltklugen Intellektuellen Gehör finden und überall den menschlichen Genius veranlassen, Statuen von unsterblicher Schönheit zu schaffen, erhabene Tempel zu bauen und große literarische Epen zu dichten und alle diese Schätze zu erhalten. Man wundert sich dabei nur, aus welcher Quelle all diese Erzählungen kommen und warum sie sich so erstaunlich ähnlich sind, ganz gleich, ob sie aus der Vergangenheit oder Gegenwart, aus dem Osten oder Westen stammen und dem Brauchtum der jeweiligen Orte angepaßt sind.
Gelehrte helfen bei der Erklärung, indem sie zum Beispiel Kiplings Dschungelbuch erforschen und dabei über die Fabeln des Aesop bis zu den buddhistischen Jâtaka oder Geburtsgeschichten zurückgehen. Diese Erzählungen, die über Ereignisse und Verbindungen in Buddhas früheren Inkarnationen berichten, reichen bis in seine weit zurückliegenden Erfahrungen im Tierreich zurück und zeigen, wie er nach und nach die mitleidsvollen Eigenschaften der Buddhaschaft erlangte. Die Handlungen und charakteristischen Merkmale des wendigen Krebses, das törichte, furchtsame Kaninchen, die weise Schildkröte und der furchtlose Banyanhirsch sind bestens geeignet, die niederen Leidenschaften, Gedanken, Neigungen und Versuchungen zu versinnbildlichen, die uns an den wiederkehrenden Kreislauf von Leiden und Tod binden. Aber auch die guten Eigenschaften werden geschildert, die alle Geschöpfe befähigen, den edlen, achtfachen Pfad zu spiritueller Erleuchtung und Befreiung emporzusteigen.
Während sich der Buddhismus über den ganzen Orient verbreitete, Ägypten und Äthiopien erreichte und nach Griechenland und Spanien kam, wurden diese Allegorien immer wieder erzählt. Sie wurden übersetzt und zurückübersetzt, wobei es unvermeidlich war, daß sie umgeformt und umgestaltet wurden, bis sie nur noch wenig Ähnlichkeit mit den ursprünglichen indischen Erzählungen hatten.
Heute führen die meisten Gelehrten die Jâtaka auf das in Sanskrit geschriebene Panchatantra zurück. Wie der Titel schon sagt, ist es ein in fünf Abschnitte geteiltes buddhistisches Buch für praktische Weisheit, das in seiner verkürzten Ausgabe, dem Hitopadesa, von hoch und niedrig in gleicher Weise studiert wird. Es gibt jedoch auch Menschen, die darauf bestehen, daß sie von weit älteren, nicht buddhistischen Quellen übernommen wurden. Wir wollen jedoch mehr ihren neueren Weg verfolgen, der kreuz und quer in die Popularität der modernen Welt führt. Er begann, als im sechsten Jahrhundert eine syrische Ausgabe von Panchatantra ins Arabische übersetzt wurde und den Titel Die Fabeln von Kalilah und Dimnah bekam. Das waren die Namen von zwei Schakalen, die in einer der Geschichten vorkommen. Vierhundert Jahre später erschien Die Geschichte von Reineke Fuchs in Französisch und Deutsch, und im zwölften Jahrhundert entstand aus einer hebräischen Übersetzung des Buches eine lateinische Ausgabe, Leitfaden für das menschliche Leben benannt, aus dem dann unter anderen der schöne deutsche Band Ausgewählte Sagen des Altertums entstand.
Später erzählten Boccaccio (1313-1375) in Italien, Chaucer (1340-1400) in England und Jean de La Fontaine (1621-1695) in Frankreich diese Geschichten wieder, und zwar jeder auf seine eigene unnachahmliche Weise. Zu der Zeit als die britische Ostindien-Kompagnie die persische Übersetzung von Kalîla wa Dimna als Lehrbuch für ihre Agenten benützte, waren diese Fabeln in der einen oder anderen Form in den Schulen und Daheim in der ganzen Welt bekannt, denn, wie La Fontaine kurz schilderte:
Fabeln sind in Wirklichkeit nicht das, was sie scheinen; unsere Moralisten sind Mäuse und ähnliches kleines Getier. Bei Predigten gähnen wir, aber freudig hören wir Moralgeschichten zu und lachend lernen wir.
Wenn Fabeln demnach Moralgeschichten sind, die sich in der Tierwelt abspielen, sind dann Feenmärchen reine Phantasie? Manche vielleicht, doch die meisten handeln von den elementalen Kräften in der Natur. Sie stellen uns diese jüngeren, unentwickelten Seelen als die Dryaden der Bäume des Waldes, als Najaden in den Bächen, als Sylphen der Luft, als Gnomen, Elfen, Heinzelmännchen und Kobolde vor, die das Tal und die mit Kiefern bewachsenen Hügel bewohnen. Viele davon sind klein und unsichtbar, andere sind riesenhaft und verkörpern sich im wilden Wirbelwind, wüten in Waldbränden und Naturkatastrophen. Manche sind gutartig, andere heimtückisch, aber alle gibt es wirklich und sie sind unablässig tätig. Wir bedienen uns ihrer oftmals, wenn auch unbewußt.
Die großen Sagen, die epischen Erzählungen wie die Iliade, Râmâyana, König Arthur und die übrigen handeln von Menschen und basieren gewöhnlich auf historischen Ereignissen. Sie schildern das Heldentum eines einzelnen Menschen oder die Werke eines berühmten Monarchen. Sie berichten von den Kämpfen des Menschen im allgemeinen, vom Ringen mit den Kräften des Bösen und gegen Gleichgültigkeit oder Selbstzufriedenheit. Sie schildern das ruhmreiche Streben nach den Segnungen der Zivilisation und weisen sogar auf die Wanderungen des menschlichen Geistes hin, die er während des Schlafes und nach dem Tode unternimmt.
Die Mythen berichten von der Gottheit - von der Erschaffung des Universums, der Geburt der Sonne, des Mondes und der Planeten, vom Charakter der Götter und schildern den Einfluß, den sie auf die Menschheit und auf alle lebenden Wesen haben. Es sind heilige Erzählungen, die archaische Wahrheiten vermitteln und wirkliche spirituelle Kraft hervorbringen. Die Rezitation von Hymnen und Anrufungen, die Teilnahme am religiösen Ritual, Fruchtbarkeitsriten oder zeremonielle Tänze bei primitiven und zivilisierten Gemeinschaften sind ebenso ein Teil der Darstellung mythologischer Begriffe wie die Schöpfung von Botticellis "Geburt der Venus", wie "Hermes" von Praxiteles oder wie jenes heilige indische Gebäude auf dem Sanchi-Hügel, wo die Jâtaka-Erzählungen im dritten Jahrhundert v. Chr. auf Stupas aus Sandstein eingraviert wurden. Die Säulen dieses Gebäudes tragen ein ausgedehntes halbkugelförmiges Kuppeldach, das den Himmel darstellt, der die Erde, die kosmische Achse und die vier Himmelsrichtungen umschließt.
Beim Studium der kulturellen Anthropologie gibt es zwei Faktoren, die einander widerstreitend zu sein scheinen: Erstens besteht zwischen den Mythen von geographisch weit voneinander entfernten Völkern eine unverkennbare Ähnlichkeit; und zweitens die überraschende Tatsache, daß, anstatt daß sie mit dem evolutionären Fortschritt des Menschen ebenfalls verbessert wurden, die Mythen aus der entferntesten Vergangenheit immer die erhabeneren sind. Man könnte annehmen, sie seien von den hervorragendsten Denkern der Vergangenheit erdacht worden, um damit der Nachwelt eine lebendige Vision der Wahrheit, eingehüllt in bildliche Darstellungen, zu hinterlassen. Die jahrhundertelangen ungenauen Wiedergaben und falschen Übersetzungen verschleierten den ursprünglichen Sinn, bis jemand, so wie Homer, die Musen um neue Offenbarungen zu Hilfe rief. Oder realistischer ausgedrückt, wir könnten die Auslegung der verborgenen Symbolik ebenso in den Lehren suchen, die von den Mysterienschulen jeden Zeitalters gegeben wurden. Die Mysterien brauchen jedoch gar keine Geheimnisse zu sein, denn die alten Symbole, Mythen und Philosophien, die Namen und Orte in den großen Epen und Fabeln können durch die universale, immer bestehende Weisheitsreligion vollständig erklärt werden.
Immer wenn die Schüler dieser erhabenen Lehren infolge Verleumdung und Verfolgung durch religiöse Frömmler und politische Fanatiker gefährdet waren, die von Begierde nach Macht angetrieben, die heiligen Texte entstellten, um ein Pantheon für ihre Vergötterung zu errichten; oder wenn die Lehren selbst in Gefahr waren, verdreht und entwürdigt zu werden, dann verwendeten die Hierophanten die dramatische Kurzschrift der verbalen Symbolik und schufen damit Symbole, schöngeistige literarische Kameen, die die Uneingeweihten erfreuten und ablenkten, gleichzeitig aber auch als sichere Mitteilung für jene dienten, die den Kode kannten.
Auf diese Weise überbrückten die Mythen die Entfernungen und blieben über Generationen hinweg erhalten - sogar über Inkarnationen, denn die in der Seele aufgespeicherte Weisheit geht nie verloren. Demnach kann eine einfache Geschichte, wie zum Beispiel von Pegasus, dem geflügelten Pferd, ein Abenteuer des Gilgamesch, oder die Entscheidung des Osiris Erinnerungen wachrufen, die, wenn man ihnen nachgeht, wie durch ein Filter nach und nach in das Bewußtsein des Menschen einsickern und ihn anspornen, nach größerem Wissen zu verlangen, oder vielleicht das Licht des Verstehens auf eine bisher unklare Angelegenheit werfen.
Wenn ich nun wieder auf die drei Krüge zurückkomme und zu dem Netzwerk von Umständen, das wir um uns weben, dann kann ich nicht anders, ich muß mit dem weisen alten Sufi-Mystiker feststellen: Wie einfach wäre es doch, wenn wir unvoreingenommen sein könnten, wenn wir uns von unserem verzweifelten Anklammern an Persönliches und Vergängliches lösen könnten, und unserem inneren Bewußtsein erlauben würden, in eine Welt mit erweitertem Horizont überzugehen.