Tagores Religion, eine Religion für das Volk
- Sunrise 4/1972
An dem Tag, an dem Tagore starb, so erzählte einer seiner Freunde, "stand in Kalkutta alles still, als hätte das Herz der Stadt selbst zu schlagen aufgehört." Die Arbeit ruhte, die Menschen strömten auf die Straße, die Schulen schlossen ihre Pforten, auf der Börse ward es still, der Verkehr stockte. Tagore war ganz und gar ein Mann seines Volkes gewesen, und das Volk wußte das. Sein Freund fügte hinzu: "Es war unmöglich, von ihm nicht irgendwie beeinflußt zu werden."
Wenn man bedenkt, wie gewaltig die Zuneigung war, die ihm sein Volk entgegenbrachte, so ist man überrascht, wie wenig er heute außerhalb Indiens bekannt ist. Gerade als Indien anfing sich unter dem Einfluß westlichen Denkens, westlicher Industrialisierung und westlicher Gewohnheiten zu entwickeln, wurde er in einer reichen, freidenkerischen bengalischen Familie geboren. Sein besonderes Verdienst war es, daß Indien und der Westen sich gegenseitig verstehen lernten; dadurch half er seinem Lande, die überaus großen Werte in der konvulsiven Zeit, die Asien in einem Jahrhundert völlig verwandelte, zu erhalten. In der Zeit, als Indien noch halsstarrigsten Widerstand gegen den Fortschritt leistete, war sein Großvater der erste Inder, der gleichberechtigter Partner in einem britischen Geschäftshaus wurde. Er kämpfte für soziale Reformen wie die Abschaffung der Witwen-Verbrennung auf dem Scheiterhaufen des Mannes. Sein Vater war ein Führer der Brahmo-Samaj, einer liberalen hinduistischen Sekte.
Rabindranath Tagores freier Geist kam schon frühzeitig zum Ausdruck, indem er Widerstand gegen die herkömmliche Erziehung leistete. Als Kind lebte er vollständig in seiner eigenen Welt, und im Alter von dreizehn Jahren entzog er sich ganz der herkömmlichen Ausbildung, um nach einem selbst entworfenen Plan zu lernen. Dieser ohne Zwang erzogene Genius wurde Indiens hervorragendster Schriftsteller der Neuzeit und der Freund von Yeats, Einstein, Helen Keller und George Bernard Shaw. Er schrieb hundert poetische Bücher, fünfzig Dramen, mehrere kürzere Prosawerke sowie philosophische Abhandlungen, und auch die Musik für über dreihundert Lieder stammt von ihm. Dazu kam noch, daß er an den politischen und internationalen Begebenheiten seiner Zeit lebhaften Anteil nahm. Im Jahr 1913 gewann er mit seinem Gedicht "Gitanjali" ('Sangesopfer', deutsch 1914) den ersten Nobelpreis für Literatur, der je einem nicht westlichen Schriftsteller zuerkannt wurde. Mit dem Geld errichtete er in Bengalen eine Schule, die noch heute existiert und als Beispiel für vernünftige, fortschrittliche Erziehung gilt. Die britische Krone adelte ihn im Jahr 1915, worauf er jedoch später, aus Protest gegen die brutale Unterdrückung eines Eingeborenenaufstandes im Punjab, verzichtete. Das Reisen war damals in Indien noch verpönt. Tagore unternahm jedoch verschiedene Weltreisen. Dadurch erweiterte er sein Wissen über das Abendland, während er dem Westen manches vom spirituellen Schatz Indiens übermitteln konnte.
Es wurde oft gesagt, daß Tagore als Brücke der Verständigung zwischen Ost und West diente. Das konnte er vor allem dadurch erreichen, weil er erstens ein echter Mann des Ostens war und mit der ihm eigenen Sensibilität den Hintergrund unseres endlichen Lebens mit all der sinnlichen Schönheit des endlichen Daseins, aber auch mit all seiner ganzen Begrenztheit sah; und zweitens, weil er den Idealismus und Mystizismus aus den Wolken, wo sie so oft als Illusion zu finden waren, auf die Erde herunterbrachte und ihnen praktischen und greifbaren Ausdruck verlieh.
Beides vereinte er in seiner berühmten Experimentalschule in der Nähe von Balpur. Wir nennen es eine Schule, aber es war mehr als das. Es war ein "Heim für den Geist", ein Ashram. Es war mehr als ein übliches Lehrinstitut. In einer Welt, in der sich Umwälzung und Unruhe auf jedem Gebiet des Lebens ausbreiteten, wollte er den inneren Genius der menschlichen Weisheit bewahren. Deshalb rief er eine Gemeinschaft ins Leben, in der alle Wissenszweige und die Literatur nicht nur Indiens, sondern der ganzen Welt, kennengelernt werden konnten. Die Wände des Tempels waren aus Glas, so daß man immer in die Natur hinaussehen konnte. Nach Möglichkeit wurde der Unterricht im Freien abgehalten. Die Kinder saßen dann in den Ästen der Bäume, während der Lehrer die Kunstwerke erklärte und aus den Werken der großen Geister der Menschheit vorlas, wobei er sowohl die Weisen Indiens wie auch das Andenken Mohammeds, Jesu und Buddhas ehrte. Die Verwaltung und Führung der Schule übten die Schüler selbst aus, denn Tagore liebte den Geist des Selbstvertrauens und schätzte das demokratische Ideal des Westens. Die Gemeinschaft gründete ihre eigene Druckerei, die zu einer literarischen Quelle wurde. Nach dieser Schulung gingen die Schüler in ländliche Gebiete, um andere zu lehren und bei der Reform des indischen Dorflebens zu helfen. Durch die freie informelle Unterweisung, die unter der Führung Rabindranath Tagores begann, brachte er seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die Wahrheit unendlich, die Suche danach endlos und ihre Manifestationen ohne Zahl sind.
Nehru sagte einmal, daß er, verstandesmäßig gesehen, Tagore näher stünde als seinem eigenen Mentor Gandhi, wobei er von Tagore als "dem universalen Denker, Erzieher und Dichter sprach - der trotz alledem ein wahrer Inder sei. ... Die indische Tradition sprach aus ihm, doch er war ein Weltbürger und konnte uns daran gemahnen, daß wir zu etwas gehören, das größer ist als eine Nation!"
Tagores Religion war eine wahrhaft menschliche Religion - für den Menschen aller Nationen, für den Menschen im humanistischen Sinne als lebendiger Brennpunkt der höchsten Werte, die wir kennen, als Gipfel äonenlanger Evolution, die das Wunder des begreifenden Verstandes zustande brachte. Seine Philosophie trat auch für die Würde und den Wert des menschlichen Wesens ein und war gegen die entmenschlichenden Kräfte der alten religiösen Tradition und der modernen industriell-militaristischen Macht.
Er war kein weltfremder Philosoph, kein träumerischer Poet, der von den sich mühenden, leidenden Menschen sich abgesondert hätte. Er kannte das Leben des bengalischen Bauern gut, seine entmutigende Armut, seine passive Apathie. Schon vor der Jahrhundertwende gründete er genossenschaftliche Bewegungen, weil er klar erkannte, daß die einzelne Familie zu arm war, um die nötigen Arbeitsgeräte zu beschaffen und dadurch ihr Los zu verbessern, daß sie aber als zusammengeschlossene Gruppen gemeinsam die unentbehrlichen modernen Maschinen beschaffen und lernen konnten, sie zu gebrauchen. Unermüdlich arbeitete er für die Erziehung des Volkes und für moderne Produktionswege, mit denen allein man die bittere Not bekämpfen konnte. Er verschmähte die alte orientalische Askese und die damit verbundene Verherrlichung der Armut. Er glaubte vielmehr an ein Leben in Wohlstand auch für das gewöhnliche Volk, ja selbst für die von Elend geplagten Massen.
Tagores Religion war eine Religion für den Menschen, die sich der Wahrheit auf zwei Wegen näherte: dem kontemplativen und dem aktiven, dem subjektiven und dem objektiven, dem inneren und dem äußeren, dem mystischen und dem wissenschaftlichen. Er benützte beide, um das, was er für den Menschen empfand, zum Ausdruck zu bringen; das Drama, das Mysterium, die schöpferische Kraft, die im menschlichen Wesen und in seinem Leben auf Erden zum Ausdruck kam. Für Tagore war der Mensch von ungeheuerer Bedeutung, ein Makrokosmos im Mikrokosmos, und wunderbar in seiner Begrenzung der Einzelheiten seiner körperlichen, mentalen und emotionalen Erfahrung: "Die Kinder laufen aus dem Tempel und spielen im Staub. Gott sieht bei ihren Spielen zu und vergißt die Priester."
In der geistigen Vorstellung Tagores war der Mensch der Mittelpunkt, voll auf das Leben eingestellt, eifrig auf den in der gewöhnlichen Erfahrung verborgenen Reichtum bedacht und gänzlich frei von Dogmatismus und allen alten, rituellen Formen sowie magischem Aberglauben, was überall die Degenerierung des religiösen Geistes kennzeichnet. Da Tagores eigene innere Erfahrung persönlich und mystisch war, ist es schwer, ihre Wurzeln in verstandesmäßigen Ausdrücken klarzulegen, obgleich ihre Blüte leicht beschrieben werden kann. Lassen wir ihn selbst sprechen:
Als ich achtzehn Jahre alt war, machte sich zum erstenmal, wie eine plötzliche Frühlingsbrise, die religiöse Erfahrung in meinem Leben bemerkbar. Sie ging vorüber und ließ in meinem Gedächtnis eine direkte Botschaft der spirituellen Wirklichkeit zurück. Als ich eines Tages in der frühen Morgendämmerung dastand und beobachtete wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume fielen, hatte ich plötzlich das Gefühl, als löse sich dichter Nebel vor meinem Auge auf, und das Morgenlicht auf dem Antlitz der Welt gab mir einen inneren, strahlenden Glanz der Freude. Der unsichtbare Schleier der Alltäglichkeit war von allen Dingen und allen Menschen entfernt, und ich empfand in größerem Maße ihre grundlegende Bedeutung. Es war eine Definition des Begriffes Schönheit. Das Merkwürdige an dieser Erfahrung war ihre menschliche Botschaft, die plötzliche Erweiterung meines Bewußtseins. ... Nach vier Tagen verging die Vision und mein inneres Schauen wurde verdunkelt. In der Dunkelheit hüllte die Welt sich wieder in ihre Schleier der Finsternis und verdunkelte den gewöhnlichen Tatbestand. ...
Das Gefühl, das ich hatte, glich dem eines Menschen, der sich durch den Nebel tastet, ohne sein Ziel zu kennen, und plötzlich entdeckt, daß er vor seinem eigenen Hause steht.
Wie Tagore selbst sagte, war seine Religion die Religion eines Dichters, nicht die eines Philosophen, und wurzelte mehr im Gefühl und im inneren Schauen als in Tatsachen und im Verstandeswissen. Aber der Dichter in ihm erhielt viel Weisheit von Wissenschaftlern und Philosophen. Er wußte, daß mystisches Versunkensein in persönliche Erfahrung nicht der einzige Weg zur Wahrheit ist. Er zitierte oft eine Parabel aus den Upanishaden; in ihr wird von zwei Vögeln erzählt, die auf dem gleichen Ast sitzen, der eine frißt und der andere sinniert vor sich hin. Darin sah er die bildliche Darstellung der gegenseitigen Beziehung zwischen dem unendlichen Sein und dem endlichen Selbst im Menschen. Die Wonne des sinnierenden Vogels ist groß. Es ist die reine und uneingeschränkte Freude des freimachenden, objektiven Studiums. Die Freude des fressenden Vogels ist ebenfalls groß, denn es ist das Geschäft des aktiven Lebens, das Vergnügen der physischen Erfahrung.
Als Dichter versuchte er mit dem Verstand zu erkennen, was die Augen tatsächlich sahen, und mit den Augen zu sehen, was sich der Geist vorstellte. Als ein Kind des Orients sprach er beständig von dem Unendlichen, das uns gänzlich einhüllt und unsere Endlichkeit durchdringt. Als Dichter der Menschheit sah er das Unendliche immer in Ausdrücken konkreter, spezifischer, persönlicher und alltäglicher Erfahrung:
Ich bin ruhelos. Ich dürste nach weit entfernten Dingen.
Meine Seele geht hinaus und sehnt sich, den Saum der nebelhaften Ferne zu berühren.
O Großes Jenseits, der Ruf deiner Flöte durchdringt alles!
Das Abenteuer der Evolution des Lebens auf Erden lieferte Tagore den Entwurf für die Geschichte, den Grundriß der Entwicklung, und die Bestimmung der Richtung, in der sich der Mensch in Zukunft bewegt. Er fand eine besondere Bedeutung in der aufrechten Haltung des Menschen, als Symbol seines Befreitseins von den festgesetzten Anlagen tierischen und primitiven Lebens, das ihm vorausging.
Aber der bedeutendste Faktor, der durch den Menschen in das Universum gebracht wurde, ist der Faktor des Geistes, was auf eine neue und andersartige Richtung für die Zukunft der Evolution hindeutet. Die Tatsache, die alles andere in den Schatten stellt, ist, daß der Mensch Möglichkeiten und Fähigkeiten hat, die die biologischen und tierischen Bedürfnisse weit überragen. Mit Hilfe des Geistes ist er imstande, die Wahrheit über sich selbst zu entdecken und praktisch zu erforschen: Wenn wir das menschliche Dasein nicht zerstören wollen, so ist es unumgänglich, daß die Nationen und Rassen begreifen, daß die gesamte Menschenfamilie eine Einheit bildet. Es ist etwas im Menschen, das universal ist: "Das aber müssen wir herausfinden; wenn wir dem nachspüren, dann werden wir groß, dann begreifen wir das Allumfassende; während wir, solange unsere individuellen Wünsche im Widerspruch zum universalen Gesetz stehen, Schmerzen erdulden müssen und unser Bemühen vergeblich ist."
Als das Ende seines Lebens kam, sagte Tagore in seiner eigenen charakteristischen Weise Lebewohl:
Ich bin zu diesem weltlichen Festspiel eingeladen worden, und so war mein Leben gesegnet. Meine Augen haben gesehen und meine Ohren haben gehört. ...
Mögen alle Freudenklänge in meinem letzten Lied verschmelzen - die Freude, die die Grashalme in ihrer Üppigkeit auf der Erde hin und her wogen läßt; die Freude, die die Zwillingsbrüder Leben und Tod über die weite Welt tanzen läßt; die Freude, die wie ein Sturm einherbraust und alles Leben mit Lachen erregt und anspornt; die Freude, die mit ihren Tränen still auf der offenen roten Lotusblume des Schmerzes sitzt; und die Freude, die alles, was sie besitzt, in den Staub wirft und kein Wort zu sagen weiß.