Der Einzelne und die Welt
- Sunrise 4/1972
Wir leben in einem eisenharten Zeitalter und stehen an einem Punkt, wo die Essenz des Göttlichen im Menschen sich bemüht, aus ihrer starken Verflechtung mit der Materie herauszukommen, um auf eine höhere Stufe in der Hierarchie des Lebens zu steigen. In einer solchen Zeit herrscht viel Trägheit. Daher muß die Anstrengung, die für unsere Entwicklung und unseren inneren Fortschritt erforderlich ist, viel größer sein, und man kann auch gut begreifen, daß überall mehr und mehr nach leichteren Wegen und nach Abkürzungen gesucht wird, oder daß manchmal nach einem imaginären Retter Ausschau gehalten wird, der die uns zustehenden Verpflichtungen tragen oder abnehmen soll. Zwischen dem Impuls, wachsen zu wollen und dem Gewicht der Trägheit hin und hergerissen, überlassen sich viele der Untätigkeit oder geben sich der Gleichgültigkeit hin; als Hilfslösungen werden Kompromisse gesucht. Wieviele dieser Kompromisse bringen jedoch wirklich Erleichterungen?
Wir müssen erkennen, daß das, was wir um uns herum wahrnehmen, nicht bloß vom Wind des Schicksals erzeugte Oberflächenwellen sind, denn das sind nur äußere Wirkungen der inneren Aktivität tief in der Seele der Menschheit im Kampf um ihre Befreiung aus der Knechtschaft. Wie kompliziert die Zwischenbeziehungen der Rassen und Nationen auch erscheinen mögen: der gemeinsame Nenner ist die Suche nach Freiheit - Freiheit für jeden einzelnen Menschen, seinen natürlichen Platz im Leben zu finden, ohne dabei durch die herkömmlichen Dogmen vergangener Zeiten behindert zu werden, seien sie wirtschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher oder religiöser Art.
In Krisenzeiten besteht in der ganzen Welt für die Zivilisation immer die Gefahr eines Rückschrittes; deshalb ist unsere Verantwortung auch so groß. Nicht beipflichten kann ich jedoch, daß die gegenwärtige Weltlage entmutigend sei. Meiner Ansicht nach sind gerade diese Widerstände und Schwierigkeiten, die so negativ aussehen, der äußere Beweis für die Strömung oder Zirkulation einer positiven inneren Kraft. Es ist richtig, die Spannungen in der Welt haben nicht nachgelassen, aber gerade weil - und nicht trotzdem - sie vorhanden sind, glaube ich, daß für die Menschheit insgesamt eine große Gelegenheit vorhanden ist, um weitere Fortschritte machen zu können.
Überall drängt es die Menschen zu einer gründlichen Erforschung des Kollektivbewußtseins der Gesellschaft und seiner Grundlagen. Sie fragen sich, welche Saaten waren es, die zu dieser Ernte heranreiften. Welche Elemente der Unwissenheit erzeugten diese falsche Einstellung und nutzlosen Konflikte, die an diesem kritischen Abschnitt unseres Jahrhunderts vorherrschen? Wenn wir an unserer Zukunft bauen, so müssen wir neue Richtlinien und neue Prüfsteine suchen und aufstellen; Richtlinien und Prüfsteine, die mit universaleren Begriffen über das, was Wirklichkeit ist, verankert sind.
Viele erkennen das und arbeiten verständnisvoll und energisch auf dieses Ziel hin. Wenn von den Nachrichtenkommentatoren ernsthaft davon gesprochen wird, wie notwendig es ist, die Beziehungen zwischen den Ländern gewissenhaft zu erforschen; wenn sie Gewicht darauf legen, daß die "großen moralischen Prinzipien der menschlichen Gesellschaft" die Grundlage einer einsichtigen Regierung sein müssen, dann besteht kein wirklicher Anlaß zur Niedergeschlagenheit.
Es mag für uns schwierig sein, über den Strudel der sozialen und politischen Krisen hinauszusehen, aber gerade das müssen wir versuchen, wenn wir einen vernünftigen Beitrag zum Aufbau der Zivilisation leisten wollen. Die meisten von uns sind von den zahlreichen Weltproblemen so beeindruckt, daß wir die große Perspektive verlieren, die wir brauchen, um die echten Transmutationen zu sehen, die in diesem großen Kessel der Veränderungen, in dem sich die menschliche Familie befindet, vor sich gehen.
Wir sollten von den gegenwärtigen, weltweiten Unruhen und den kritischen religiösen Fragen, die ohne Zweifel da sind, etwas Abstand nehmen und, ohne die moralischen Konfrontationen auszuschließen, mit denen wir persönlich fertig werden müssen, uns fragen: "Ist das alles etwas Neues? Hat der Mensch nie zuvor die schweren Mühen des Wachstums erlebt?" Vermutlich ja, denn die gleiche Kraft, die uns diese Mühen auferlegt, zwingt uns auch dazu, unser Bewußtsein zu erweitern, damit wir den größeren Horizont erkennen können, der die vielen Zyklen in der Lebenswoge der auf unserem alten Globus reinkarnierenden menschlichen Seelen erfaßt. Wir müssen weit in die Vergangenheit zurückgehen, bis in die Anfänge unserer Menschenrasse, bis dahin, wo der Mensch erstmals zum Denker und sich seines Menschseins bewußt wurde. Der Einfluß dieser Erleuchtung aus uranfänglichen Zeiten ist dem Menschen bis heute als immerwährender Motivator aller Gedanken und Handlungen geblieben. Seit das geistige Feuer in ihm entzündet wurde, sind seine gesamten geistigen Bestrebungen darauf gerichtet, das Endziel seiner Bestimmung, wofür er auf diesen Planeten kam, zu erreichen. Was aber ist nun das Ziel dieser Bestimmung? Der kosmischen Intelligenz immer mehr gleich zu werden; der Intelligenz, an der er teil hat und die einen Teil von sich geopfert hatte, damit der Mensch hinfort die göttliche Flamme der Inspiration in sich tragen konnte.
Das ist in der Tat eine gewaltige Vorstellung, aber sie hilft uns, die Bedeutung all dessen, was in der Welt vorgeht, zu erkennen. Mit dieser erweiterten Perspektive können wir den Lernprozeß besser würdigen, mit dem die Natur ihre Scharen von Lebewesen und besonders den Menschen schult. Viele Völker und Rassen sind im Verlaufe der Zeit entstanden und wieder vergangen, und noch viele weitere werden folgen, ehe wir uns unser rechtmäßiges Erbe ganz zu eigen gemacht haben werden. Was wir heute miterleben, ist lediglich der alchimistische Prozeß eines wachsenden Bewußtseins, das eine neue Zeit für die Menschheit hervorbringt.
Deshalb müssen wir unsere Betrachtungsweise neu ausrichten, und sie von einer örtlich beschränkten zu einer weltweiten Perspektive ausdehnen. Eine Woge des Erwachens hat die Menschheit erfaßt und macht es erforderlich, daß wir alle Probleme insgesamt im Lichte Karmans betrachten müssen, da alle Ereignisse das Ergebnis eines Gedankens oder einer Handlung sind, die zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit getätigt wurden. Mit anderen Worten, das universale karmische Gesetz umschließt die gesamte Folge von Aktionen und Reaktionen, die die gerechten und natürlichen Wirkungen der früher geschaffenen Ursachen veranlassen.
Somit ist es ganz klar, daß jede einzelne der Milliarden menschlicher Seelen, die während der vielen, vielen Jahrtausende sich immer wieder auf dieser Erde verkörperten, zahllose Anziehungen und Abneigungen entwickelt und unzählige Ursachen erzeugt hat, die sich unter den richtigen Bedingungen als Wirkungen zum Ausdruck bringen werden. Und mehr noch, wir waren und sind nicht nur für unsere eigenen Gedanken und Handlungen voll verantwortlich, sondern wir hatten und haben auch Teil an den Wirkungen, die unser Denken und Handeln auf andere auslöst.
Wir wollen jedoch Karman nicht als erbarmungslose Serie von Ernte und Saat ansehen, ohne Chance, dem Kreislauf vergangenen Irrtums zu entkommen. Im Gegenteil! Alles Leben bewegt sich spiralförmig, nie in einem geschlossenen Ring oder Kreis. Wir alle haben ohne Zweifel viele Hunderte Lebensepisoden erlebt. Gibt es eine bessere Lernmöglichkeit für das permanente Element in uns, als die Gelegenheit, wieder und wieder auf die Erde zurückzukehren, nicht nur um den Wirkungen unserer vergangenen Handlungen zu begegnen, sondern auch um bessere und schöpferischere Samen für zukünftige Ernten zu säen?
Können wir das Versprechen, das in diesem größeren Überblick liegt, erfassen, dann werden wir die große Weite des Schicksals wahrnehmen, das die Menschheit auf ihrem evolutionären Weg vorantreibt. Es wird natürlich schmerzvolle Zeiten geben, weil wir immer wieder das Gleichgewicht der Natur durch falsches Denken stören. Wir können uns sicher vorstellen, welches ungeheure Ausmaß von Karman in der Vergangenheit durch jede Seele erzeugt wurde, ganz abgesehen von den Völkern und Rassen, so daß ein unvermeidlicher karmischer Rückstand vorhanden ist, der eines Tages aufgearbeitet werden muß. Karman ist jedoch weder gut noch böse, wie überhaupt die Naturgesetze weder gut noch böse sind - sie sind unpersönlich und wollen stets nur die Harmonie des gestörten Gleichgewichts wieder herstellen.
Niemand kann sagen, welcher Teil unserer nicht aufgearbeiteten karmischen Reserve in diesem oder einem anderen Leben zur Auswirkung kommen wird. Könnten wir zum Beispiel in die zurückliegenden Zeitläufe Einblick nehmen und das verborgene Karman eines Individuums wahrnehmen, dann wäre es mehr als wahrscheinlich, daß wir Samen entdecken würden - vielleicht vor Jahrtausenden gesät, die erst jetzt, weil wir gerade in dieser Zeitperiode geboren wurden, heranreifen können. Die ganze Angelegenheit ist aber viel zu kompliziert, als daß sie aus dem kurzsichtigen Blickwinkel einer einzigen Lebenszeit korrekt betrachtet werden könnte. In Wirklichkeit ist eine ungeheure Verkettung karmischer Fäden aus vergangenen Zeiten vorhanden: Es gibt ein Weltkarman, ein Karman, das zu den einzelnen Rassen und Nationen gehört, Familienkarman und auch individuelles Karman - alle zusammen fügen sich zu einem ganz großartigen, komplizierten Muster zusammen.
Die menschliche Natur ändert sich langsam, und wir alle neigen zu dem Gedanken, daß es keine weiteren Probleme gäbe, wenn sich nur der andere richtig verhalten würde. Wie dem auch sei, die Befreiung der Menschheit von ihren vielen Geißeln kann nicht einigen wenigen, die sich in Schlüsselpositionen befinden, überlassen bleiben, denn jeder einzelne ist dafür verantwortlich. Je mehr einzelne in jedem Erdteil leben, die beweisen, daß sie in ihrem persönlichen Leben geistig und psychologisch Selbstvertrauen haben und nicht in Habsucht und Egoismus untergehen, desto eher wird die Menschheit in neue Bereiche des Denkens vorstoßen. Das heißt nicht, daß wir eine Art wilde Anarchie willkommen heißen sollen, die der ursprünglichen Basis des zivilisierten Lebens entgegengesetzt ist. Ich meine die Auflösung der Kristallisation und Orthodoxie in unseren geistigen Denkprozessen, so daß wir das Leben und seine Zusammenhänge vom höheren Standpunkt aus sehen. Dadurch wird sich das edlere Karman der Menschheit bemerkbar machen.
Es ist in der Tat eine große Verantwortung, der die Welt heute gegenübersteht. Das bedeutet, daß jeder Mensch als Baustein der menschlichen Gesellschaft auch den Ruf seines eigenen Gewissens ehrlich beantworten muß.