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Aus eingegangenen Briefen – Galveston

Galveston, Texas, auf Orientfahrt, 5. Dezember 1969

 

Sind wir nicht alle Abenteurer? Und was ist das doch für eine seltsame, erschreckende und doch lohnende Zeit, in der man lebt! Anscheinend erleben wir das Ende einer Zeitepoche, und zwar nicht nur gesellschaftlich. Welche neuen Formen werden sich entwickeln, wenn der Boden vorbereitet worden ist?

Der Oriental Inventor ist, wie es sich herausstellt, ein angenehmes Heim fern der Heimat. Ich habe mich sehr behaglich in meiner komfortablen Kabine niedergelassen. Das Schiff wird gut geführt. Viele chinesische "Boys" sehen nach allem. Sie sind reizend, fröhlich, voll Lärm und Lachen. Mein altes Chinesisch aus den Tagen in Tientsin versteht niemand mehr. Die meisten Offiziere kommen aus Schanghai und Kanton und ihre Sprache ist völlig anders. Ich kann nur feststellen, daß wir mit den gleichen Zahlwörtern zählen. Auf jeden Fall kann ich mich nach vierzig Jahren an vieles nicht mehr erinnern.

Die Zeit läuft weiter. Die Offiziere des Schiffes sind beinahe alle unter vierzig Jahre alt. Sie erinnern sich nicht einmal mehr (wenigstens diejenigen, die ich gefragt habe) an den berühmten Schauspieler Mei Lan Fang. Er spielte fast immer weibliche Rollen, da Frauen in China nicht auf der Bühne auftreten durften. Wir verbrachten damals einen ganzen Tag im Theater damit, auf ihn zu warten - dabei aßen wir Erdnüsse, tranken Tee und wischten Hände und Gesicht mit heißen Handtüchern ab. Während der ganzen Zeit war es unbeschreiblich laut, da jeder Zuschauer anscheinend nur wegen eines speziellen Tanzes, einer besonderen Rede oder einer besonderen Szene gekommen zu sein schien. Bevor wir ins Theater gingen, versuchten wir zu erfahren, um welche Zeit Mei Lan Fang auftreten würde. War es nicht zu erfahren, so gingen wir einfach hin und blieben den ganzen Tag dort, das war so üblich. Dort schwatzte man dann fröhlich während der andern Stücke und wartete, bis sich der Gewünschte zeigte.

Das Schauspiel, in dem er auftrat, hieß "die Konkubine des Königs", und Mei spielte die Rolle der ergebenen jungen Frau, die ihrem König in die Schlacht folgte. Als sie die Stadtmauern stürmten, wurde ein bemaltes Stück Holz, das eine Mauer darstellen sollte, herausgebracht und vor die Truppen gestellt. Später wurde es dann, nach vielem Getue zerstört. Und dann - als Höhepunkt der Tragödie - trat der große König in Aktion. Schnell ergriff die treue Dame sein Schwert, und mit ihrem eigenen in der anderen Hand, führte sie den berühmten "Zwei-Schwerter-Tanz" auf, wie er allgemein genannt wird. Bei diesem Tanz schwingt der Schauspieler seine beiden blitzenden Schwerter in ständiger Bewegung um seinen Kopf herum, ohne sie zusammenzuschlagen. Der ganze Tanz demonstrierte die erstaunliche Geschicklichkeit. Während dieser Vorstellung war kein Laut unter den Zuschauern zu hören - ich glaube, daß ein Meister, ganz gleich in welchem Beruf er auch sein mag, wohl immer erkannt wird, wenn auch nur zeitweise.

Wie seltsam es doch ist, daß ich mich als chinesischer Matriarch (aber ohne weißen Bart!) entpuppe. Unser Kapitän ist siebenunddreißig Jahre alt. Er verließ das Festland als ganz junger Mann - und ich erzähle ihm von China. Man kann sich das kaum vorstellen! Ich glaube, es gibt in unserer schnelllebigen Welt noch mehr so seltsame Dinge.

Es ist ein regnerischer Tag in Galvestone, Texas. Wir sollten eigentlich eine kleine Ladung Baumwolle ausladen, aber es gießt und die Baumwolle kann nicht ausgeladen werden. Wieviel Tage wir hier sein werden, kann niemand sagen. Wenn man sich nicht entspannen und die Dinge hinnehmen kann wie sie kommen, dann soll man lieber nicht mit Frachtschiffen reisen.

Unsere nächste Anlegestelle ist in Corpus Christi, an der mexikanischen Grenze.