Eine einzigartige kosmische Einheit
- Sunrise 2/1972
Mich beschäftigen häufig internationale Gedankenprobleme, wie sie heute oft an uns herantreten. Es ist wie bei einer Melodie, die einem den ganzen Tag im Kopf herumgeht und die man nicht los werden kann. Genauso verhält es sich mit Ideen. Wir verwerfen sie und legen sie beiseite, aber durch irgendeine Zauberkraft sind sie wieder da, wie der mythische Eber Sährimnir in der altnordischen Legende, der nachts von den Asen beim Schmaus verzehrt wurde und trotzdem am Morgen wieder ganz und lebendig war. So geht es mit den Gedankenbildern, und vielleicht ist das ein Glück, denn ab und zu ist es notwendig, daß wir uns mit Problemen abmühen, und zwar nicht nur mit denen, die das Zentrum unseres Wirkungsgebietes betreffen, sondern auch mit solchen, die sich mit Nebensächlichkeiten befassen. Möglicherweise tun wir gerade in diesem Falle am meisten für unser wirkliches Selbst, um es geschmeidiger und bewußter werden zu lassen.
Das erinnert mich an Martin Luther Kings "Ich hatte einen Traum..." Er sah die Menschheit in einer Bruderschaft vereint, wo der Bruder den Bruder freundlich aufnahm, eine wunderbare und edle Vision - die sicherlich durch die starke moralische Einstellung dieses Menschen zustande kam und ein Ergebnis der hohen Spannungen zwischen den inneren und äußeren Bewertungen war. Niemals den Glauben an ein gemeinsames geistiges Band zu verlieren, gehört zu dem Weg des Menschen, der höheren Gefilden entgegenstrebt, denn im Grunde ist die Welt lediglich ein Instrument, durch das man, wenn man richtig darauf spielt, zu immer größer werdender Einsicht kommt.
Mein eigener Traum ist ein wenig anders. Er wiederholt sich im Laufe des Jahres in Intervallen, ist aber beinahe immer der gleiche. Ein großer Fluß fließt an einem Haus vorbei, das viele Zimmer hat. Dort bin ich unter Menschen, die so denken und fühlen wie ich. Natürlich ist es nur ein Traumbild, aber es lenkt meine Gedanken auf die Tatsache hin, daß im Menschen schöpferische Kräfte vorhanden sind. Wenn wir auch nur selten bewußt darüber nachdenken, so sollten wir es doch nicht ganz vergessen. Beschäftigen wir uns mit den Philosophen, den Denkern und Künstlern der vergangenen Jahrhunderte, so können wir feststellen, daß sie viel Wertvolles geschaffen haben. Ihre schöpferische Gestaltungskraft ist nicht verloren gegangen, sie existiert heute noch als stiller aber mächtiger Einfluß. Doch nun taucht die Frage auf: "Wie können wir, in unserer Schlichtheit und Einfachheit, ebenfalls schöpferisch werden? Auf welche Weise können wir zur Vervollkommnung des Lebens etwas beitragen?"
Die Antwort muß darin zum Ausdruck kommen, daß wir unsere Prinzipien oder Ideale feinfühlig und intuitiv im Leben verwirklichen, gleichzeitig aber auch die Reaktionen der anderen zur Kenntnis nehmen. Traumbilder können völlig wertlos sein, das wissen wir alle. Dennoch existiert etwas in uns, das imstande ist, das Wesentliche in den Dingen zu erfassen, die zwar unserem wachen Bewußtsein entgehen können, die aber in Traumbildern oder in Augenblicken innerer Ruhe für uns belangvoll werden. John Wain erinnert uns in seiner Autobiographie Sprightly Running daran, daß der wahrhaft schöpferische Schriftsteller oder Künstler "außerordentlich viel für seine Mitmenschen tun kann", wenn er gewillt ist, Verantwortung auf sich zu nehmen.
Ich habe gesagt, daß die Menschen ihren mentalen Vorstellungen entsprechend leben. ... Und woher stammen diese mentalen Vorstellungen? Das ist nicht einfach zu beantworten, aber ich glaube, daß die eindrucksvollsten und allgemein üblichen geistigen Vorstellungen, die das Denken und Handeln einer ganzen Zeitepoche beherrschen, für gewöhnlich auf das Werk einiger weniger Menschen zurückgeführt werden können, auf die überragenden Künstler, die erfinderischen Schöpfer ihrer Zeit.
Dies bedeutet, sagt Wain, daß die meisten Menschen Ideen oder gedankliche Eindrücke aus zweiter Hand erhalten, oder durch fünf, zehn oder mehr Zwischenträger. Diese Ideen kommen aus einem Zentrum, werden aber getrübt, je mehr sie sich davon entfernen. Am Ausgangspunkt stehen die Könner, die dem Geist ihrer Epoche ihren individuellen Stempel aufgeprägt haben. Sie reagieren heftig und intuitiv auf vergangene und zukünftige Ereignisse, und ihre Reaktionen finden in Bildern und Symbolen, Visionen und Fabeln Ausdruck. Ein Mitglied in dieser einzigartigen Schar zu sein, sozusagen im "schöpferischen Mittelpunkt" zu leben, ist das, was jeder im Leben stehende Verfasser, der seiner besonderen Berufung treu ist, anstrebt.
Viele von uns können weder Künstler noch Schriftsteller sein, aber wir alle hegen in uns einen unzerstörbaren und heiligen Traum; und wenn sich dieser Aspekt mit unserem höheren Streben zum Wohle der Menschheit vereinigt, dann lebt er insoweit in einer Atmosphäre der Unsterblichkeit. In uns wird ein Gefühl der Verwunderung wach, wenn wir sehen, daß das Leben - trotz seiner erschütternden Begebenheiten, trotz Tod und scheinbarer Vernichtung - von einem höheren Standpunkt aus gesehen, ein kräftiger, lebendiger spiritueller Organismus ist, der sich Millionen von Lichtjahren in den Raum hinaus ausdehnt, der jedoch, paradoxerweise, ebenso nahe ist, daß unser Atem seine Größe berührt. Wir sprechen von Göttlichkeit, aber dieses Wort reicht wirklich nicht aus, um diese Erhabenheit auszudrücken.
Schweden wird gegenwärtig im Sonnenlicht gebadet, und man fühlt sich fast wie neugeboren. Es ist erstaunlich, was Sonne und Wärme für die Bewohner der Nordländer bedeuten können. Während eines Abendbummels am Wikingsberg, der zu dieser Jahreszeit mit den zahllosen Blumen und der reichen Vogelwelt ein Paradies ist, sah ich eine Klematis blühen. Sie war durch eine Umzäunung hindurchgewachsen, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie sie das fertig gebracht hatte. Sie war auf der gegenüberliegenden Seite eingewurzelt und hatte sich auf ihre eigene majestätische Art nach der Sonne ausgestreckt; sie war die schönste Blume von allen. Vielleicht hatte sie, weil sie gegen Schwierigkeiten anzukämpfen hatte, ein Meisterstück vollbracht, etwas, was die anderen Blumen nicht zu tun brauchten. So ist es auch bei uns Menschen. Manchmal versuchen wir, die Herausforderungen des Lebens abzuwehren. Wir verkapseln uns, wobei wir meinen, daß wir so oder so handeln müßten, um irgendeinem Gott oder einer Gottheit zu gefallen; oder wir glauben, daß es erforderlich ist, diesem oder jenem Glaubensbekenntnis angehören zu müssen, um sicherzugehen, daß wir zur richtigen Quelle für unser Seelenheil gelangen. Aber das ist nicht nötig. Nichts ist illusorischer als ein Leben, das von einem engen, persönlichen Standpunkt aus betrachtet wird; nichts ist so wundervoll wohltuend, und doch so stärkend, als wenn wir nicht an uns selbst denken und unsere kleinen Sehnsüchte, unsere Wünsche und Launen um der grandiosen universalen und altruistischen Ideale willen vergessen. Ich denke oft an die einfache Klematisblüte, die sich wie ein Streiter des Lichts unbezwingbar und unerschrocken durch den Zaun und durch das Dickicht arbeitete und schöner wurde als ihre meisten Artgenossen.
Geht es uns Menschen nicht ähnlich? Jeder von uns hat sein eigenes Selbst. Wir stehen beständig unter seinem schützenden Einfluß, und das ist im Grunde maßgeblich für unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen. Das Selbst prägt uns mit dem zeitlosen Stempel der Göttlichkeit. Was bedeutet es demnach, ein Mensch zu sein? Sehr viel, wenn wir uns auf der richtigen Wellenlänge befinden; sehr wenig, wenn wir das erhabene Wunder herabwürdigen, das die Menschen in der mächtigen Einheit des Kosmos verbindet. Die Erkenntnis der Einheit kann sich niemals ohne Mitleid und ohne echte Anerkennung des Prinzips der Bruderschaft entfalten. Obwohl wir den göttlichen Keim in unserem Herzen tragen, müssen wir - als Einzelwesen - ihn immer am Leben und blühend erhalten. Nur dann werden wir feststellen, daß wir uns auf dem zeitlosen Pfad befinden, der zur Weisheit führt.
Als ich ein kleiner Junge war, schaute ich stets meiner Mutter zu, wenn sie schwedische Waffeln buk. Sie rührte den dünnen Eierteig an, tauchte ganz schnell das Waffeleisen tief ins Öl und die Waffeln nahmen sofort feste Form an. Im Nu war das Meisterstück fertig, und mein großes Verlangen danach konnte befriedigt werden! Verhält es sich mit unserem Denken, der Tätigkeit unseres Verstandes, nicht ebenso? Unsere tägliche Erfahrung möchte aus unseren Gedanken kleine Waffeln oder kristallisierte Gedankenformen bilden, aber vielleicht besteht gerade eine Aufgabe des Lebens darin, daß es uns die Möglichkeit gibt zu lernen, wie wir uns von diesen erhärteten Gedankenformen befreien können, um neue zu schaffen.
Ist es nicht eine Art schöpferischer Tätigkeit, wenn wir zwanglos Ideen austauschen, indem wir uns von unseren sorgfältig ausgearbeiteten und oftmals unnatürlichen Schlüssen und Bindungen frei machen? Dadurch können wir dem allgemein bekannten Kreislauf, der unaufhörlich in uns und um uns herum fließt, etwas beisteuern. In der Stille unserer eigenen Seelen erleben wir eine Verstärkung des inneren Vertrauens und werden gewahr, wie das gleiche Vertrauen in unseren Mitmenschen zunimmt. Wo ist der Rettungsanker gegen den Wind, wenn er nicht in uns selbst liegt? Das stellt beträchtliche Forderungen an den einzelnen, an seine Verantwortlichkeit, und doch ist es eine Erleichterung zu wissen, daß niemand Forderungen an uns stellen kann, außer wir selbst. Wir allein sind es, die handeln, sobald wir den täglichen Ereignissen begegnen und darauf reagieren. Aus der Literatur des Altertums erfahren wir, daß der Pfad, der zu Mitleid und Wissen führt, schon immer von Wanderern begangen worden ist, soweit unser Wissen zurückreicht. Eröffnet sich dadurch nicht ein Einblick in die mühevolle, schwere Arbeit der Großen, die der Straße der Entwicklung gefolgt sind, schmerzvolle Kämpfe durchlebten und beständig danach trachteten, sich von den Ketten der Selbstsucht zu befreien? Ihre Hingabe und Geduld und ihre moralische Kraft brachten wunderschöne Blüten innerhalb des Menschenreichs hervor. Der Stern, der in der Dunkelheit scheint, bedeutet den Eintritt unserer eigenen Seele in den Strom des Lebens und vielleicht läßt unsere Verbindung mit dem Geschehen im Innern in bestimmten Augenblicken zu, die Erhabenheit dessen zu empfinden, was in Wirklichkeit ist, das, was hinter den matten, grauen Schleiern zu sein scheint.
Im Frühling, wenn die Sonne leuchtend und weit im Osten aufgeht, und den Himmel und die Erde mit goldener Pracht erfüllt, empfinden wir eine Regung, die einer plötzlichen Offenbarung gleicht. Einen Augenblick lang werden wir Angehörige des Alls, kosmische Wesen, die sich einer Unermeßlichkeit bewußt sind, die wohl kaum etwas mit unserem begrenzten physischen Körper zu tun hat. Dieses tief im Innern verborgene Gefühl hilft uns, die Grenzen zu sprengen und an der schöpferischen Gestaltungskraft und dem ungeheuren Bewußtsein teilzuhaben, in denen wir tatsächlich leben. Das Leben bietet uns allen durch dieses Freimachen die Gelegenheit, unseren Fähigkeiten entsprechend und im Einklang mit dem, was not tut, einen Schritt vorwärts zu tun. Ein jeder von uns muß seine eigenen Erfahrungen unter den verschiedensten Umständen und von sehr unterschiedlicher Art durchmachen. Deshalb können wir die Wahrheit auch nur von unserem eigenen, für uns gültigen Standpunkt aus begreifen und nicht von der Warte eines anderen. Darin liegt ebenfalls eine Art schöpferischer Freiheit.
Die menschliche Seele ist bereits in harter Arbeit dabei, aus ihrer engen Zelle auszubrechen, so wie ein Schmetterling, der sich während des letzten Teils seines Puppenstadiums für seine Befreiung abmüht. Das gleiche gilt für den göttlichen Geist, dem Heiligsten der Gottheit, dessen Stimme das Faktum der Schöpfungsgeschichte ist. Trotz der Dunkelheit, die unseren kleinen Globus umgibt, bin ich der Meinung, daß wir durch ein phantastisches Werden und Reifen hindurchgehen, und das gibt große Zuversicht. Es wird nur wenige geben, die "zurückschauen" möchten. Die meisten Augen sind indessen auf eine Zukunft mit befreienden Ideen gerichtet, in einer Gesellschaft, in der Differenzen überbrückt werden und Brüderlichkeit als eine innere Selbstverständlichkeit praktiziert wird.
Ein weiter Weg liegt noch vor uns, doch die engen Begrenzungen der "Tugenden", so wie sie uns aus den alten Kulturen unserer Vorfahren überliefert wurden, sind ausgelöscht. Wir können jetzt unbehindert auf einer neuen Linie weiterdenken und können somit Teilhaber am Bewußtsein einer einzigartigen kosmischen Einheit werden. Vielleicht verstehen wir eher zu erkennen, was wir in Wirklichkeit sind, nämlich individuelle Facetten einer Einheit, die die Fähigkeit haben, aus der Bewegung eines Sonnensystems im Universum ebensoviel Inspiration zu schöpfen wie von den Regentropfen an der Fensterscheibe oder durch einen Blick in das Gesicht eines ernsthaft Suchenden.