Karma – Nemesis
- Sunrise 6/1971
Aus Der Geheimlehre (englische Erstausgabe 1888)
Nur das Wissen von den beständigen Wiedergeburten einer und derselben Individualität durch den ganzen Lebenszyklus ... kann uns das geheimnisvolle Problem von Gut und Böse erklären und den Menschen mit der schrecklichen scheinbaren Ungerechtigkeit des Lebens aussöhnen. Nur eine solche Gewißheit kann unseren empörten Gerechtigkeitssinn beruhigen. Denn, wenn jemand unbekannt mit der edlen Lehre um sich blickt und die Ungleichheiten von Geburt und Vermögen, von Intellekt und Fähigkeiten beobachtet: wenn einer Ehre erwiesen sieht an Narren und Bösewichte, auf die das Glück seine Gaben durch den bloßen Vorrang der Geburt aufgehäuft hat, und ihren nächsten Nachbarn mit allem seinen Verstand und edlen Tugenden - der in jeder Beziehung viel mehr verdient - aus Not oder aus Mangel an Sympathie zugrundegehen; wenn jemand alles dieses sieht und sich abwenden muß, unvermögend das unverdiente Leiden zu lindern, wenn seine Ohren klingen und sein Herz blutet von den Schmerzensschreien um ihn her - dann bewahrt ihn allein jenes gesegnete Wissen vom Karma davor, Leben und Menschen, sowie ihren vermuteten Schöpfer zu verfluchen. ...
"Wer hat den Mut, das ew'ge Recht zu tadeln?" Logik und einfacher gesunder Menschenverstand, antworten wir. Wenn wir aufgefordert werden, an eine "Erbsünde" zu glauben, in einem Leben nur auf dieser Erde für eine jede Seele, und an eine anthropomorphische Gottheit, die einige Menschen nur erschaffen zu haben scheint, um das Vergnügen zu haben, sie zu ewigem Höllenfeuer zu verdammen, - und das, einerlei ob sie gut oder böse sind, sagt der Anhänger der Prädestinationslehre - warum sollte nicht jeder von uns, der mit Vernunftskräften ausgestattet ist, seinerseits eine solche abscheuliche Gottheit verdammen? Das Leben würde unerträglich, wenn man an den von der unreinen Phantasie des Menschen geschaffenen Gott glauben müßte. Glücklicherweise hat er sein Dasein nur in menschlichen Dogmen und in der ungesunden Einbildungskraft einiger Dichter. ...
Man vergleicht dieses blinde Glaubensbekenntnis mit dem philosophischen Glauben, der auf jeglichem vernünftigen Beweise und auf Lebenserfahrung beruht, an Karma-Nemesis, oder das Gesetz der Wiedervergeltung. Dieses Gesetz - sei es bewußt oder unbewußt - prädestiniert nichts und niemand. Es existiert von und in Ewigkeit, fürwahr, denn es ist Ewigkeit selbst: und als solcher, da keine Handlung der Ewigkeit gleich sein kann, kann man von ihm nicht sagen, daß es handelt, denn es ist Handlung selbst. Es ist nicht die Welle, die einen Menschen ertränkt, sondern die persönliche Handlung des Wichtes, der vorsätzlich hingeht und sich unter die unpersönliche Wirkung der Gesetze begibt, die die Bewegung des Ozeans beherrschen. Das Karma schafft nichts, noch plant es. Der Mensch ist es, der plant und Ursachen schafft, und das karmische Gesetz gleicht die Wirkungen aus, diese Ausgleichung ist keine Handlung, sondern universale Harmonie, die immer ihre ursprüngliche Lage wieder einzunehmen strebt, wie ein Bogen, der, zu gewaltsam niedergebogen, mit entsprechender Kraft zurückspringt. Wenn er zufällig den Arm verrenkt, der versucht hatte, ihn aus seiner natürlichen Lage zu biegen, sollen wir da sagen, daß es der Bogen war, der unseren Arm gebrochen hat oder daß unsere eigene Torheit uns hat Schaden nehmen lassen? Das Karma hat niemals intellektuelle und individuelle Freiheit zu zerstören getrachtet, wie der von den Monotheisten erfundene Gott. Es hat nicht seine Beschlüsse absichtlich in Dunkel gehüllt, um den Menschen zu verwirren, noch wird es jenen strafen, der sein Geheimnis zu erforschen wagt. Im Gegenteile, wer durch Studium und Meditation seine verschlungenen Pfade enthüllt und Licht wirft auf die dunklen Wege, in deren Windungen so viele Menschen wegen ihrer Unkenntnis des Lebenslabyrinthes zugrunde gehen, wirkt zum besten seiner Mitmenschen.
Karma ist ein unbedingtes und ewiges Gesetz in der Welt der Offenbarung; und da es nur ein Unbedingtes, als Eine ewige immer gegenwärtige Ursache geben kann, so können Karmagläubige nicht als Atheisten oder Materialisten betrachtet werden - noch weniger als Fatalisten: denn Karma ist eins mit dem Unerkennbaren, von dem es ein Aspekt ist, in seinen Wirkungen in der Erscheinungswelt.
Um Karma dem westlichen Verstande, der besser mit der griechischen als mit der arischen Philosophie vertraut ist, begreiflicher zu machen, haben einige Schüler der Theosophie versucht, es durch Nemesis zu übersetzen. Wäre Nemesis den Profanen des Altertums so bekannt gewesen, wie sie von den Initiierten verstanden wurde, so würde diese Übersetzung des Ausdrucks einwandfrei sein. In Wirklichkeit aber wurde Nemesis von der griechischen Phantasie allzusehr anthropomorphisiert, als daß man ihn ohne sorgfältig ausgearbeitete Erklärungen benutzen könnte. Bei den frühen Griechen, "von Homer bis Herodot, war sie keine Göttin, sondern vielmehr ein moralisches Gefühl", sagt Decharme: der Schutzwall gegen Böses und Unsittlichkeit. Wer diesen überschreitet, begeht in den Augen der Götter einen Frevel, und wird von der Nemesis verfolgt. Aber mit der Zeit wurde jenes "Gefühl" vergöttlicht, und seine Personifikation wurde eine immer verderbenbringende und strafende Göttin.
Wenn wir daher Karma mit Nemesis in Verbindung bringen wollen, so müssen wir das tun in ihrem dreifachen Charakter als Nemesis, Adrasteia und Themis. Denn, während die letztere die Göttin der universalen Ordnung und Harmonie ist, die wie Nemesis beauftragt ist, jede Ausschreitung zu unterdrücken, und den Menschen bei strenger Strafe innerhalb der Schranken der Natur und Rechtschaffenheit zu halten, repräsentiert Adrasteia, - "die Unentrinnbare" - Nemesis als die unveränderliche Wirkung von Ursachen, die der Mensch selbst geschaffen hat. Nemesis, als die Tochter der Dike, ist die gerechte Göttin, die ihren Zorn für jene allein aufspart, die durch Stolz, Selbstsucht und Ruchlosigkeit rasend gemacht sind.
Kurz gesagt, während Nemesis eine mythologische, exoteterische Göttin oder Macht ist, personifiziert und anthropomorphisiert in ihren verschiedenen Aspekten, ist Karma eine hochphilosophische Wahrheit, ein höchst göttlicher und edler Ausdruck der ursprünglichen Intuition des Menschen in betreff der Gottheit. Es ist eine Lehre, die den Ursprung des Bösen erklärt, und unsere Vorstellungen von dem, was göttliche unveränderliche Gerechtigkeit sein sollte, veredelt, anstatt die unbekannte und unerkennbare Gottheit zu erniedrigen, indem sie aus ihr die launenhafte grausame Tyrannin macht, die wir Vorsehung nennen.
Eng, oder vielmehr unauflöslich verbunden mit Karma ist sodann das Gesetz der Wiedergeburt, oder der Reinkarnation derselben geistigen Individualität in einer langen, nahezu grenzenlosen Reihe von Persönlichkeiten. Die Persönlichkeiten sind wie die verschiedenen, von demselben Schauspieler dargestellten Rollen, mit deren jeder sich der Schauspieler identifiziert und vom Publikum identifiziert wird, für den Zeitraum einiger Stunden. Der innere oder wirkliche Mensch, der in jenen Rollen auftritt, weiß die ganze Zeit, daß er Hamlet nur für die kurze Zeit von ein paar Akten ist, die jedoch auf dem Plane der menschlichen Illusion das ganze Leben des Hamlet darstellen. Er weiß auch, daß er in der vorhergehenden Nacht König Lear war, seinerseits die Umwandlung des Othello einer noch früheren vorhergehenden Nacht. Obwohl der äußere, sichtbare Charakter scheinbar in Unkenntnis dieser Tatsache ist, und im tatsächlichen Leben ist diese Unkenntnis unglücklicherweise nur allzu wirklich, so ist doch die dauernde Individualität sich dessen vollbewußt, aber infolge der Verkümmerung des "geistigen" Auges im physischen Körper kann sich jenes Wissen nicht dem Bewußtsein der falschen Persönlichkeit einprägen.