Der hölzerne Käse
- Sunrise 6/1971
Die Geschenkwelle, die die meisten westlichen Länder zur Weihnachtszeit erfaßt, rollt schon in der ersten Dezemberwoche über das flache Land Hollands, und zwar in einer festlichen Form, die nach allgemeiner Auffassung nichts mit Weihnachten zu tun hat. Aus diesem Grund verläuft der Weihnachtstag am 25. Dezember viel ruhiger. Es besteht mehr Gelegenheit zum Nachdenken und zu stillerer, aber vielleicht tieferer Freude am Baum und an den Kerzen, wie auch an dem gemütlichen Familienessen - während die Kinder eifrig auf die buntverpackten Schokolade- und Zuckerringe an den Zweigen des Baumes Jagd machen.
Das Fest am St. Nikolaus-Abend, am Fünften des Monats, ist jedoch ganz anders. Es ist nicht einmal ein offizieller Feiertag - obgleich Schulen und Büros manchmal etwas früher am Nachmittag schließen und der Unterricht am nächsten Morgen vielleicht eine Stunde später beginnt. Das Fest wird am Abend gefeiert. Am liebsten, wenn Wind und Regen um das Haus brausen; und meistens ist das der Fall, da in diesem Küstenklima Schnee und Eis erst später im Winter kommen, oft erst um die Jahreswende.
Die mit Sinterklaas zusammenhängenden Bräuche sind zahlreich (und für den Nichtholländer nicht leicht verständlich). Keiner dieser Bräuche hat religiösen Charakter, obgleich die Gestalt des St. Nikolaus, im Gegensatz zu dem lustigen Santa Klaus in anderen Ländern, die eines Bischofs mit einer Mitra geblieben ist, des Heiligen von Myra, einer alten Stadt in Kleinasien. In den Erzählungen und Liedern jedoch (und wieviele Lieder gibt es für diesen Tag!) kommt der "gute heilige Mann", begleitet von seinem weißen Pferd und seinem getreuen Gehilfen Zwarte Piet, einem Mohren, mit dem Schiff aus Spanien, und nicht aus Asien. Kein schneller Schlitten, keine Rentiere, die in flottem Tempo durch den Himmel galoppieren; im Gegenteil, er reitet auf seinem Pferd in würdigem Schritt über die Dächer, einen goldenen Stab, den Bischofsstab in der Hand, während ihm der Schwarze Peter zu Fuß folgt, einen Sack mit Geschenken über der Schulter, aber auch eine Rute in der Hand.
Die kleinen Kinder erwarten die Ankunft des St. Nikolaus mit gemischten Gefühlen, denn er besitzt das Buch, in dem ihre Taten und Untaten des vergangenen Jahres eingetragen sind. Alles ist genau aufgeschrieben: Jantje hat seine Zähne nicht immer geputzt und Annekes Schönschreiben ist nicht besonders gut; Tine heult gern, wenn sie geneckt wird, und Kees hat sein Fahrrad gut gepflegt. Die Ängstlichkeit und Erwartung, die ergötzliche Furcht und Aufregung verbinden sich manchmal zu einem fieberhaften Zustand. Und wenn die Gefahr vorbei ist, vom Schwarzen Peter mit der Rute gezüchtigt, oder in den großen Sack gesteckt zu werden, "um nach Spanien gebracht zu werden" (eine Drohung, die nur den wildesten Rangen gilt), und wenn die Verteilung der Süßigkeiten, der "Pfeffernüsse" und Geschenke beginnt, dann erzeugt die Erleichterung fast einen Schmerz im Innern der Brust.
Natürlich findet in vielen Familien die Feier statt, ohne daß Sinterklaas und der Zwarte Piet persönlich erscheinen, aber im Geiste des Gebens und des freundlichen Neckens sind beide anwesend. Jeder Gabe muß ein vom St. Nikolaus oder seinem Gehilfen unterzeichneter Vers - in der Regel mehr possenhaft als dichterisch - beigegeben sein, in dem der Empfänger freundlich, aber gezielt, an eine seiner Schwächen oder an einen Schnitzer oder an ein komisches Ereignis aus den letzten Monaten erinnert wird. Oft ist das Geschenk selbst ein Schabernack oder es ist tief im Innern eines großen Paketes verborgen, das mit vielen Metern Schnur verschnürt, und mit sehr viel Leim zugeklebt ist. Ein kleiner Schatz kann in einem riesigen Blumentopf verborgen sein, der mit Sand gefüllt, und mit einer echten oder künstlichen Blume bepflanzt ist. Manchmal muß auch lange im ganzen Haus, von Zimmer zu Zimmer, vom Keller bis zum Dachboden, gesucht werden, um die eine oder andere versteckte Überraschung zu entdecken. Es wird ein kurzweiliger und vergnügter Abend, mit tüchtigen Neckereien und genügend Pausen zum Knabbern der vielen üblichen Näschereien: "Hochzeiter" aus Lebkuchen und ring- oder herzförmige pastellfarbene Fondants, die borstplaat genannt werden; die zähnebrechenden Pfeffernüsse und die Buchstaben und Initiale aus Schokolade oder spezielles Mandelgebäck; kurz, es ist ein Fest des Gebens und Essens, der guten Laune und der Fröhlichkeit.
Von all diesen Dingen blieb jedoch während der letzten Jahre des zweiten Weltkriegs nur ein sehr schwacher Abglanz übrig. Selbst die einfachsten Lebensmittel waren knapp und auch noch so kleine Geschenke kamen nicht in Frage. Obgleich die allgemeine Stimmung im Lande schrecklich war, ging nie der Humor verloren - im Gegenteil. Es wurden mehr Scherze gemacht als zu irgendeiner Zeit, deren ich mich erinnern kann. Und so war speziell der Spaß am St. Nikolaus-Tag unzeitgemäß, wie es im Rückblick scheinen mag. Sicherlich, er war getrübt, denn wir lebten Tag und Nacht mit Leid, Sorge und Angst; doch bei einer Familienzusammenkunft hatten wir einmütig beschlossen, daß wir diesmal den Tag feiern würden.
Und so machten wir uns an die Arbeit. Die Geschenke waren nur Kleinigkeiten, selbstgemachte Sachen, ein Schal oder Fausthandschuhe aus Garnresten gestrickt, die aus einer auf einem vergessenen Regal gefundenen Schachtel stammten; oder ein aus einem Flachsbüschel gemachtes nettes, kleines Tier; ein kostbares Buch aus dem eigenen Bücherschrank. Da die einfachsten Materialien fehlten, stand nur das gröbste Einwickelpapier zur Verfügung und die Späße wurden notwendigerweise mehr mit Worten als durch wirklich vorhandene Dinge zum Ausdruck gebracht. Indes, für unsere Eltern hatten wir eine gute Idee. Da wir uns einige Jahre für alle erdenklichen Lebensmittel mit schlechtem Ersatz begnügen mußten, verlockte uns eine große Imitation eines gelben Käses im Schaufenster einer Molkerei; sie sah in diesen hungrigen Tagen wirklich wie ein Riesenrad aus Gouda-Käse aus. Der Inhaber des Ladens war nicht recht gewillt, ihn uns auch nur für einen Abend zu leihen, denn selbst ein hölzerner Käse war zu jener Zeit so unersetzlich wie alles andere. Schließlich gab er aber unserem Drängen oder dem Geist der Jahreszeit nach, und wir versprachen ihm feierlich, den "Käse" früh am nächsten Morgen zurückzubringen.
Als wir ihn zu Hause hatten, war es fast unmöglich, das große Ding einzupacken, aber mit etwas Erfindungsgabe schafften wir es doch. Mit einem passenden Vers, der das Grauen des guten St. Nikolaus über die "Ersatznahrungsmittel" zum Ausdruck brachte, die unsere tägliche Kost bildeten, und seine große Freude, daß er in der Lage war, uns hiermit das "Richtige" zu schenken, wurde es den Eltern übergeben, die es mit einem echten Gemisch von Überraschung und Argwohn enthüllten. Als sie sahen, was es war, schätzten sie die "Gabe" wirklich; unser wuchtiger Käse wurde tatsächlich der Schlager des Abends; es war weit mehr als nur ein Spaß. Inmitten des Familienkreises leuchtete er in dem kriegsdüsteren Licht wie eine goldene Scheibe, und jedesmal, wenn wir ihn ansahen, lächelten wir einander an. Es war weniger ein vergnügtes Lächeln darüber, daß wir uns in einer käselosen Zeit mit einem großen hölzernen Käse zum Narren hielten; noch war es ein Lächeln der Erinnerung an bessere Tage; nein, es war in der Hauptsache entschlossenes, vertrauens- und hoffnungsvolles Lächeln auf die Zukunft, ein Lächeln stiller Freude über unsere Fähigkeit, die Quelle des freundlichen Lachens, den Urquell jener besonderen inneren Stille zu finden, die jede Bürde, die wir im Leben zu tragen haben, erleichtern kann.
Obgleich wir einige Vorahnungen hatten, wußte an jenem denkwürdigen St. Nikolaus-Tag keiner von uns, welche Mühsal unser kleines Land und jeden von uns noch erwartete. Aber ich weiß, daß wir in jener Zeit schlechter, materieller Ersatzmittel beinahe gezwungen waren, in unseren eigenen Tiefen eine Vorstellung und ein Bewußtsein von der reichen Wirklichkeit im Innern zu entfalten. Und ich weiß auch, daß in jenen dunklen Tagen ein kleines Ereignis, irgendeine unbedeutende Geste, zu einem Wunder werden konnte, das gesegnete Inspiration und Stärke verlieh, die anscheinend in keinem Verhältnis zu dem tatsächlichen Ereignis standen. Wir fanden in jener Nacht unser Wunder in dem hölzernen Käse.