Eine neue Sonne wird aufgehen
- Sunrise 5/1971
Wenn ich als Kind die Ferien am Meer verbrachte, bereitete es mir das größte Vergnügen, am Ende einer alten Holzmole zu sitzen und die nackten Füße über die Kante baumeln zu lassen, ohne daß sie das kalte Meerwasser berührten. Hier trafen sich die Fischer, um ihr Fangzeug zu reparieren und Seemannsgarn auszutauschen, das so alt und abgedroschen und verwittert war, wie sie selbst zu sein schienen. Daß es sich um oft wiederholte Geschichten handelte, verminderte ihren Reiz nicht. Sie machten auf das kindliche Gemüt solch einen Eindruck, daß er ein ganzes Leben lang andauerte und selbst heute noch für eine Art seegeborene Philosophie sorgt, die erkennen läßt, daß keines der stets vorhandenen beunruhigenden Ereignisse dieses Jahrhunderts endgültig ist.
Eine der Geschichten erzählte der "alte" Zeb. Niemand kannte sein genaues Alter; Salzwasser und kalte Winde graben Linien in das Gesicht eines Menschen, aber selbst jene, die für ein Kind seine Zeitgenossen waren, nannten ihn den "alten" Zeb. Er sah aus wie ein Patriarch aus dem Alten Testament. Über alle Themen sprach er mit biblischer Endgültigkeit. Damals beschäftigte er sich ganz besonders mit den neugebildeten Arbeitergewerkschaften. Er wurde zornig und unwillig über Arbeiter, die einen festen Lohn forderten, und fand einen achtstündigen Arbeitstag absurd. Durch diesen "Unsinn" kam er unabänderlich auf eine seiner Lieblingsgeschichten.
Als ganz junger Bursche war er bei einem hart arbeitenden Fischer in die Lehre gegeben worden. Einmal war der Fang so reichlich, daß sie viele Stunden an ihren Netzen arbeiteten, den ganzen Tag über und weit in die Nacht hinein. Schließlich murrte der ermüdete Knabe verzweifelt: "Kapitän, sollen wir nicht lieber Schluß machen, die Sonne ist schon lange untergegangen." Der Kapitän erwiderte, "Nichts damit, Junge, du arbeitest weiter. Es wird bald wieder eine neue Sonne aufgehen."
Diese kalte Mißachtung der Rechte des Individuums hätte für einen Angehörigen einer späteren Generation leicht zu einem traumatischen Erlebnis werden können. Der alte Zeb war das Produkt einer rauheren Zeit. Er erlebte in guter Gesundheit ein hohes Alter, sein Geist und sein Sinn für Humor blieben unbeeinträchtigt. Mir wurde erzählt, daß er starb, als stünde er am Steuerruder seines Lebensschiffes, das er mit Vertrauen und Mut durch die engen Passagen lenkte, die zu dem nächsten großen Abenteuer führen. Dabei steuerte er seinen Kurs mit Hilfe seines eigenen inneren Lichtes, das immer gegenwärtig und so zuverlässig war, wie der weitreichende Lichtstrahl des Leuchtturms am Hafeneingang.
Das erste Boot, das mein Bruder und ich bauten, nannten wir 'Old Zeb'. Es bestand aus Brettern und hatte einen großen Mast mit einem dreieckigen Segel, das die Brise auffing. Es segelte kühn genug in die Bucht hinaus, ging aber bald wieder unter, weil es kein Ruder, kein Steuer und keinen diensttuenden Kapitän hatte.
Viele Menschen, die heute ohne philosophische Überzeugungen und ohne religiöse oder moralische Anleitungen den Stürmen des Lebens trotzen wollen, gleichen, wie es scheint, jenem armseligen Boot, das nicht ins tiefe Wasser gelangen konnte, weil es nicht im Gleichgewicht war und keinen vernünftigen Steuerapparat hatte.
Könnte die heutige Unzufriedenheit der jungen Leute in der Hauptsache nicht daher kommen, daß sie für Belehrung nicht empfänglich sind und keinen Antrieb zur physischen oder geistigen Selbstveredelung haben? Dies kann sehr gut die erste Generation von mittelklassigen Kindern sein, die vielfach, ohne Pflichten erfüllen zu müssen, ohne Respekt vor älteren Leuten oder Lehrern zu haben und ohne Disziplin und religiöse Überzeugung aufwuchsen. Jetzt sehen wir die unheilvolle Folge einer geplanten Nachgiebigkeit, die dem Kind das Recht auf Belehrung und Führung raubte und ihm jede Gelegenheit versagte, sein Gefühl der Verantwortlichkeit für kleine Pflichten im Heim und den Mitmenschen gegenüber zu entwickeln. Die vorherrschende Abneigung gegen die Eltern und die Gesellschaft, die sie vertreten, entstand nicht aus einer physischen Not, die diese Kinder erdulden mußten, sondern weil so wenige Wege zu schöpferischer Produktivität offen gelassen wurden, außer nach bestimmten festgelegten Methoden.
Ich wohne zufällig an einem Platz, wo ich Zeuge der tragischen Folgen dieses zweck- und ziellosen Lebens bin. Hunderte von bemitleidenswerten jungen Leuten kommen und gehen, die langweilig und entmutigt dreinschauen. Oft sieht man durch wirre Massen ungekämmter Haare den glanzlosen Blick der Hoffnungslosigkeit in den Augen, die anscheinend nicht mehr klar sehen können; Augen mit einem Blick, der nur auf die augenblickliche Befriedigung begrenzt ist. Man möchte gerne fragen: Wer bist du? Wohin gehst du? Warum bist du hier?
Eine philosophische Anschauung, die diese einfachen Fragen beantwortet, würde uns helfen, einige der gegenwärtigen Schlagworte zu verstehen, die so häufig benützt und so selten begriffen werden! Friede, Freiheit, Liebe und Bruderschaft bleiben so lange unverständliche Lippenbekenntnisse, bis sie sich dem Herzen einprägen. Wenn universale Bruderschaft errichtet werden könnte, wären alle anderen Eigenschaften, die für den Aufbau einer Welt des Friedens, der Freiheit und der Liebe notwendig sind, unweigerlich vorhanden. Wenn wir zugeben, daß ein leiblicher Bruder, wie sehr er sich auch von uns unterscheiden mag, der Sohn der eigenen Eltern ist, dann könnten wir auch die elterliche Quelle der universalen Bruderschaft erforschen, denn durch jene Große Quelle ist Bruderschaft eine Wirklichkeit und nicht nur eine angenehme Redensart.
Wir müssen wohl kaum daran erinnert werden, daß wir alle die Kinder einer mächtigen, schöpferischen Quelle sind. Die bloße Tatsache, daß das Leben überall ist, daß wir Wesen sind, die sich entwickeln, daß wir Gefühle, Intelligenz und höhere Bestrebungen haben, ist der Beweis für einen natürlichen Urquell, aus dem alles entsteht. Daher sind wir durch diese grundlegende Essenz eine Einheit, wirklich Brüder. Es besteht kein Zweifel, daß diese Lebenskraft überall und in allem ist, ständig in Bewegung und ununterbrochen sich entwickelnd. Manche nennen den Schöpfer dieser Aktion und Reaktion, dieser beständigen Bewegung und Veränderung, Gottheit, Allah oder Gott. Wenn gegen solche Ausdrücke eine Abneigung besteht, könnten wir Es oder Jenes oder irgendeinen Begriff benützen, der passend erscheint. Worte sind schließlich nur Symbole, die nur dann eine Bedeutung annehmen, wenn wir sie mit einer Idee verbinden. Wichtig dabei ist das Bewußtsein, daß Bruderschaft keine neumodische Erfindung ist, weder von jungen Radikalen noch von alten Weltverbesserern, sondern eine grundlegende Wahrheit, die die Menschheit in einer früheren, nicht so verbildeten Ära zum Teil begriffen hat, die aber seit langem im Strudel der Konflikte, die der Mensch erzeugt hat, verloren ging. Wenn wir wirklich von den neuen künstlichen Hindernissen, den Glaubensbekenntnissen und Kirchendogmen loskommen wollen, dann müssen wir davon absehen, die modernen Verhaltensmuster zu verewigen, die Frieden mit Demonstration gegen den Krieg, Liebe mit physischer Befriedigung und Freiheit mit dem vollständigen Mangel an Disziplin verwechseln.
Der Friede muß, um wirksam zu sein, beim einzelnen anfangen. Der Krieg ist einfach ein schrecklicher und grausamer Mahner an die zerstörenden Kräfte in uns, deren Existenz durch die sich jeden Tag ereignenden Überfälle, Brandstiftungen und Morde bewiesen wird. Wenn eine gute Fee ihren Zauberstab benützen und sagen könnte: "Es soll keinen Krieg mehr geben", wäre es dann, wenn keine Kriege stattfänden, ein Universalmittel gegen die Übel, die so augenscheinlich dem Mangel an Verständnis, an Sympathie und an Liebe entspringen? Liebe ist die von den großen Weltlehrern, den Christussen und Buddhas am meisten hervorgehobene Eigenschaft. Der Bereich der von ihnen gepredigten Liebe war universal. Sie ist das, was uns die Einheit von allem mit der göttlichen Quelle besser begreifen läßt. Freiheit bedeutet auch das Vorrecht, zu lernen, zu wachsen und durch die Lebenserfahrung fortzuschreiten, wo wir auch sein mögen.
Fortschritt kann besser verstanden werden, wenn wir die universellen Gesetze studieren, die das Leben regieren. Diese Gesetze sind ganz einfach. Sie stehen in keinem großen unverständlichen Wälzer, der nur von Experten gelesen werden kann. Karma ist so leicht zu begreifen wie die Behauptung, daß wir, wenn wir einen Samen in die Erde stecken, auf eine entsprechende Ernte hoffen können. Selbst das phantasiereichste Kind würde nicht erwarten, daß aus einem Blumensamen ein Baum heranwächst. Es würde ihn auch nicht in einem Blumentopf am Fenster einpflanzen und erwarten, daß er an einer entfernten Stelle im Garten wächst. Das ist alles so selbstverständlich, daß die Ideen von Karma und Reinkarnation, die noch vor einigen Jahrzehnten im Westen ganz revolutionär waren, jetzt allgemein angenommen werden. Die Naturgesetze wirken im gesamten Universum. Alles, von den winzigen Atomen eines Sämlings bis zur Milchstraße oder einer Ansammlung von Milchstraßen, - denn für die Unendlichkeit gibt es keine Begrenzung - ist in die Tätigkeit der Gesetze eingeschlossen.
Lehren wie die über Karma und Reinkarnation anzunehmen, und in dem Maße, wie wir ihre Wahrheit erkennen, auch entsprechend zu leben, ist nicht so einfach wie es scheint. Man muß die volle Verantwortung für seine eigenen Gedanken und Handlungen anerkennen. Das ist der Höhepunkt der persönlichen Freiheit. Diese Anerkennung gibt jedem Aspekt des Lebens eine Bedeutung. Durch die ruhige Erfüllung der täglichen Pflichten wird man aufrichtig und natürlich. Aus einer Mutter wird eine wirkliche Mutter, ein Lehrer wird ein wirklicher Lehrer und ein Schüler ein wirklich Lernender. Das bedeutet, in einem Zustand erwachter Bewußtheit zu leben. Es ist weder notwendig, sich irgendeinem seltsamen Kult anzuschließen, sich in eine Eremitenhöhle in den Bergen zurückzuziehen, noch ist es nötig, die Fahne der Revolution zu entfalten. Diese angeblichen Überzeugungsbeweise mögen aufregender und sensationeller sein, aber sie tragen wenig dazu bei, die Aufrichtigkeit der Vorhaben zu beweisen. Es schmeichelt weder dem Ego noch ist es besonders bequem, nach spirituellem Bewußtsein zu streben. Wir werden uns unserer Begrenzungen mehr bewußt, wenn wir erkennen, daß die Ereignisse im Leben verdient wurden, daß das Unglück verschuldet - auch verdient - wurde, denn das, was wie eine große persönliche Tragödie aussieht, mag später als echter Baustein für den Charakter erkannt werden. Oft erweisen sich unsere liebsten inneren Überzeugungen nur als persönliche Vorurteile. Doch durch die ehrliche Anstrengung, uns innerlich zu verbessern, gewinnen wir immer wieder Stärke.
Karma ist nicht, wie manche offensichtlich denken, ein schweres und böses Schicksal, sondern es erlaubt uns, die Trittsteine zu finden, die uns durch den Morast unserer emotionellen Niederungen führen. Es bedeutet eine tägliche Prüfung. Und warum nicht? Die Menschheit befindet sich auf einer langen Pilgerreise zurück zu ihrer eigenen göttlichen Quelle. Der Preis ist hoch, doch er scheint es wert zu sein, daß wir uns unsere Verpflichtung beständig neu vor Augen halten müssen. Die Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Unrealen legt jedem eine Verantwortung auf. Eigene Anstrengung ist die Grundnote des Fortschritts; Selbstdisziplin macht den Fortschritt möglich.
Kürzlich hatte ich eine Begegnung mit einigen der seltsamen jungen Leute, die wir Hippies nennen. Sie interessierten sich für eine Kollektion alter Rosalinenspitzenbändchen. Ich bemühte mich, ihnen die Herstellung dieses zarten, feinen Gewebes so gut ich konnte zu erklären. Die in schäbige lange Hosen und unglaublich schmutzige und verschwitzte Hemden gekleideten jungen Leute waren von der Ausstellung begeistert. Als ich ihr Interesse sah, legte ich eine Spitze auf ein Stück schwarzen Samt, um das Muster besser sichtbar zu machen. Schließlich nahm ich eine Nadel und einen weißen Faden. Diese legte ich neben die Spitze und sagte: "Alles, was man braucht, um eine meisterhafte Rosalinenspitze herzustellen, ist: eine Nadel und ein Faden. Genauso ist das Leben. Alle Grundbestandteile stehen zur Verfügung. Es liegt bei uns, was wir mit ihnen anfangen. "
In unserer auf Maßlosigkeit eingestellten Zeit, einer Zeit ständiger heftiger Meinungsverschiedenheiten, hat eine 'Wegwerf'-Gesellschaft in den Städten und auf den Wasserwegen ökologische Probleme geschaffen. Diese können und müssen bewältigt werden. Eine vielleicht noch ernsthaftere Verschmutzung ist die Dichte des geistigen Nebels, der folgte, nachdem alle selbstauferlegten Beschränkungen im Verhalten des einzelnen beseitigt waren. Manche sehen darin eine chaotische Zeit, andere den Beginn einer Renaissance. Bis jetzt ist kein konstruktives Programm aufgetaucht, kein starker Führer, dem nachzufolgen lohnt. Es ist eine Übergangsperiode, die trübe Finsternis vor dem Anbruch eines herrlichen neuen Zeitalters, in dem, wenn wir mit Liebe, Frieden und Bruderschaft im Herzen weiterwirken, sicherlich eine neue Sonne aufgehen wird.