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Ist der Tod wirklich ein Tod?

Seit Jahrtausenden haben sich Philosophen und Theologen bemüht, die Geheimnisse um das Sterben zu entschleiern. In den letzten Jahrzehnten jedoch dachten zahlreiche Menschen auch selbst darüber nach. Sie stellen nun ernste und eindringliche Fragen und möchten wissen, ob im Grunde genommen der Kreislauf Geburt und Tod nicht das Leben selbst ist, ein Ausdruck von Bewußtsein in verschiedenen Erscheinungsformen. Die folgenden Artikel sind vielleicht eine Hilfe, um Gedanken, die auf menschlicher Erfahrung beruhen, wieder Beachtung zu schenken. - Der Herausgeber

 

 

 

Sie kehrten ins Leben zurück

 

Die meisten Männer und Frauen fürchten den Tod, solange der Wille zum Leben noch vorhanden ist. Diese mehr oder weniger bewußte Angstreaktion kann verschiedene Ursachen haben. Die Menschen fürchten, gewisse Werte des Lebens zu verlieren oder das nicht vollenden zu können, was sie für wichtig halten. Sie machen sich Sorgen um das Schicksal derer, die sie zurücklassen. Es ist auch möglich, daß sie sich vor einer unheilbaren Krankheit fürchten und sich Sorgen machen, daß das Sterben sehr schmerzhaft sein könnte. Vielleicht fürchten sie sich auch vor dem, was möglicherweise auf den Tod folgt, sei es nun Vernichtung, Ausgelöschtsein oder irgend etwas anderes.

Was den tatsächlichen Verlauf des Todes betrifft, so wurden sehr viele Augenzeugenberichte von Ärzten und anderen systematisch gesammelt. Fast ohne Ausnahme scheinen sie zu bestätigen, daß das eigentliche Sterben ohne Schmerz und Qual vor sich geht, obwohl die zum Tode führende Krankheit gelegentlich außerordentlich schwer zu ertragen sein mag. Allerdings bricht eine schwere Krankheit für gewöhnlich den Lebenswillen, so daß der Tod willkommen ist.

Der "Todeskampf", der von den Anwesenden manchmal in Form schauerlicher Laute und Krämpfe beobachtet wird, vermittelt den völlig unbegründeten Eindruck, daß die Sterbenden leiden und mit dem Tod "kämpfen." Bei den meisten entsteht der Eindruck, als gehe dem Tode ein Zustand der Bewußtlosigkeit voraus. In anderen Fällen ist das Wahrnehmungsvermögen getrübt, so daß sie außerstande sind, Schmerz zu empfinden. Sogar in den wenigen Fällen, wo das Bewußtsein bis zuletzt erhalten bleibt, verschwinden Schmerz und Qual kurz vor dem eigentlichen Verscheiden. In den relativ seltenen Fällen, wo der Tod bei vollem Bewußtsein kommt, ist das Ende für gewöhnlich ganz unerwartet, wie beim Herzversagen, wo das Uhrwerk einfach stehen bleibt.

"Vieles, was uns erschreckend erscheint, ist es in Wirklichkeit nicht, und wo der Uneingeweihte Kampf und Furcht sieht, findet der Eingeweihte Frieden und Ruhe", schreibt der berühmte Wiener Kliniker Hermann Nothnagel in seinem Buch über den Tod, Das Sterben.

Besonders interessant sind die Berichte jener Menschen, - darunter auch viele von Ärzten - die dem Tode sehr nahe waren, aber ins Leben "zurückgekehrt" sind. Nach ihrem Zeugnis hat es den Anschein, als gehe dem Tode nicht selten ein Zustand gehobener Stimmung voraus, eine "Euphorie", manchmal sind es auch tröstliche Halluzinationen und Visionen. Die Statistik in den USA hat bewiesen, daß das gar nicht selten vorkommt. Nach den Beobachtungen von einigen hundert Ärzten und Krankenschwestern an den Betten Sterbender, - von denen eine große Zahl bei vollem Bewußtsein war und keine Beruhigungsmittel erhalten hatte - "sahen" diese lebende oder tote Verwandte, schöne Landschaften oder religiöse Episoden.

Es gibt auch interessante Berichte von Menschen, die am Ertrinken waren und durch künstliche Beatmung wiederbelebt wurden. Die meisten von ihnen berichteten, ungewöhnliche, aber im großen und ganzen angenehme Erfahrungen gemacht zu haben. Es waren hauptsächlich Erinnerungen an Ereignisse, die sich als einzelnes Bild oder als Reihenfolge, dem sogenannten Panorama-Phänomen, mit großer Klarheit einstellten. Ähnliche Erlebnisse werden von Menschen berichtet, die von Felsen abgestürzt sind. Sie spürten kein Unbehagen beim Aufschlagen auf die Felsen, aber während des Fallens erlebten viele blitzschnelle Zusammenfassungen ihrer Vergangenheit, hörten wohltuende Klänge und hatten das Empfinden unbeschreiblichen Wohlgefühls.

Ein Arzt, der während einer Krankheit an den Rand des Todes kam, berichtete nach seiner "Rückkehr" ins Leben von seinen eigenen Beobachtungen über das "Sterben." Er registrierte das Schwinden der Sinne in einer bestimmten Reihenfolge: zuerst schwand der Gefühlssinn, dann das Sehvermögen und schließlich das Gehör. Der Sterbende konnte alles, was um ihn vorging, mit verstärkter Intensität hören: das Weinen der Verwandten und ihre gedämpfte Unterhaltung, Schritte und das Schließen der Türen. Die Wahrnehmung seines eigenen Zustandes war eher angenehm als unangenehm: er hatte das Gefühl, sich in einem belebenden Bad oder einer feuchten Packung zu befinden. Allmählich fühlte er eine Kälte in seinen unteren Gliedmaßen, die sich zu den Knien hinauf ausbreitete und unangenehm war. Die anwesenden Verwandten und Ärzte hielten ihn für völlig bewußtlos. In diesem Stadium des Sterbens hörte der Mann einen langsam anschwellenden Ton: ein rhythmisches Rasselgeräusch ähnlich dem Schnarchen eines Betrunkenen. Plötzlich bemerkte er, daß es sein eigenes Todesröcheln war - und im nächsten Augenblick kam er wieder zu Bewußtsein und kehrte ins Leben zurück.

Hermann Nothnagel stellt, ebenso wie der bekannte Arzt William Osler und viele andere, fest, daß, wenn auch in einigen Fällen die todbringende Krankheit qualvoll sein kann, auch dann das Bewußtsein im allgemeinen vor dem Augenblick des Hinscheidens schwindet. Nothnagel betont, daß das Leiden nicht durch das Sterben, sondern durch die Krankheit verursacht wird. Die Krankheit, nicht der Tod, ist schmerzhaft. Nothnagels Zusammenfassung soll hier zitiert werden:

Die furchterregende Seite des physischen Todes existiert meistens nur in unserer Einbildung. Nur in wenigen Fällen ist das Sterben wirklich schrecklich, und zu diesen Fällen gehört gewöhnlich der Tod, der durch Menschen an ihren Mitmenschen verursacht wird, zum Beispiel durch Folterung. Die Natur ist in der Regel humaner als der Mensch; wenn sie immer die Oberhand behielte und die Menschheit den natürlichen Abschluß des Lebens erreichen könnte, so würden wir sicherlich den Tod als das müde Sehnen nach tröstendem und erfrischendem Schlaf betrachten. Fast immer, wenn die Natur allein den Tod verursacht, breitet sie einen Schleier des Mitleids aus, der Qual und Furcht vor der zitternden Kreatur verbirgt. Der Tod ist nicht physisch schmerzhaft. Was weh tut, ist die Qual der Seele angesichts des Todes.

Diese von Nothnagel erwähnte "Seelenqual" kann, aber muß nicht, dem Tod vorangehen. Wenn man diese Seelenqual in Verbindung bringt mit der Furcht vor dem, was nach dem Tode kommen könnte, so würde ich von einem menschlich-pragmatischen Standpunkt aus annehmen, daß die glücklichsten Menschen entweder die überzeugten Atheisten sind, die keine Furcht vor der Vernichtung und dem Nichtsein haben, oder die Christen, die einen starken Glauben haben, der die Furcht überwindet.

 

- Professor Kaj Lindberg, Anatom Abteilung Pathologie, Karolinska Sjukhuset, Stockholm

- Svenska Dagbladet, Stockholm, Schweden; 3. Januar 1967

 

 

 

Der Tod als ein Anfang

 

Ein im Sunrise vor kurzem erschienener Artikel von Dr. Werner Duvernoy aus Schweden erinnerte mich an ein Erlebnis, das ich vor vielen Jahren hatte. Ich erinnerte mich, mein ganzes Leben noch einmal durchlebt zu haben bis zu dem Augenblick, wo ich zu sterben glaubte. Ich nahm das Wesentliche von allem in mich auf und nahm es mit in ein Bewußtsein, das über den Tod hinausreichte oder hinausgereicht hätte, wenn ich tatsächlich gestorben wäre. Jedes Ereignis wurde bis ins kleinste Detail zurückgerufen, sogar das wilde Gras und der blühende Weizen, die ich gesehen hatte, als ich eines Tages durch ein Feld ging. Trotzdem kann die ganze Erinnerung zeitlich nicht länger als höchstens drei Sekunden gedauert haben. Sie begann, als ich durch die Explosion einer großen Granate in die Luft geschleudert wurde, und endete, als ich das Bewußtsein völlig verlor, bevor ich den Boden wieder berührte.

Seit der Zeit, als ich dieses Erlebnis während des Krieges in Belgien hatte, war mir klar geworden, daß ich nur einen unendlich kleinen Bruchteil des Geistes oder Wesens gebrauche, mit dem ich ausgestattet bin. Ebensowenig kann ich glauben, daß diese ungenutzte Fähigkeit am Ende dieses Lebens zerstört wird und sich verflüchtigt. Noch viel weniger kann ich jedoch einsehen, daß es eine Begrenzung des Lebens selbst geben kann. Für mich besteht nur eine Gabe ohne Grenzen, die für den ewigen Gebrauch bestimmt ist. Jeder von uns besitzt, wie ich glaube - ob wir es begriffen haben oder nicht - ein ewiges Potential davon.

Nach einer mir unbekannten Zeitdauer schien es mir, als träte ich in ein anderes Leben. Meine Augen öffneten sich und sahen auf einen älteren Mann, der leicht über mich gebeugt war. Er war in ein weißes Gewand gekleidet und hatte einen langen, weißen Bart, der sich schnell bewegte, während er offensichtlich in einer fremden Sprache auf mich herabsprach. Mein erster Gedanke, den ich fassen konnte, war, "St. Peter! Ich bin am Himmelstor." Dieser Gedanke schob allen Zweifel, in dem ich erzogen worden war, beiseite.

Ich riß meine Augen von dem Heiligen los, um Bestätigung oder Verneinung zu finden, und mein Blick schweifte schmerzlich umher, bis er auf einem anderen Augenpaar haften blieb. Dieses war so von Mitleid und dem Wunsch beseelt, das Ausmaß meines Leidens zu verstehen, daß ich es sofort erkannte. Es konnte nur meinem alten Freund und Kriegskameraden gehören, der, nachdem er mich widerstrebend hatte wegbringen lassen, meine schwere Schicksalsprüfung verfolgt hatte.

Für mich bedeuteten diese Augen das Beste, was ich auf dieser Erde und in diesem Leben gekannt hatte, eine Freundschaft bis in den Tod. Ich war nicht tot. Sie würden versuchen, mich am Leben zu erhalten; der belgische Arzt... Mein Freund würde sich um alles kümmern.

- L. John Himes

 

 

 

Die drei Visionen

 

Jeder Baum, jede Blume, jedes Gesteinsatom, das unter unseren Füßen knirscht, wenn wir auf der Oberfläche der Erde gehen: von allem, was ist, könnten wir lernen, wenn wir aufmerksam wären. Haben wir niemals das Innere einer Blume betrachtet? Waren wir niemals ergriffen von der Pracht und der Ausgewogenheit um uns her? Haben wir nie tief in das Auge eines Mitmenschen geschaut, mit erkennendem Blick unsere eigene Art sehend? Was für Wunder könnten wir dabei finden, was für Wunder würden wir in der Welt, in der wir leben, entdecken.

Doch inmitten all der Schönheit, die uns sowohl innen als auch außen umgibt, tut das Herz weh, und der Geist wird überwältigt durch unsere Furcht vor dem Tode. Dennoch bedeutet der Tod Geburt, Geburt in ein größeres Leben, und er sollte keine Schrecken für uns haben. Der Tod löst heimlich, wie ein Engel des Mitleids, die Bande, die die Seele an ihr Vehikel aus Fleisch fesseln; und das Scheiden kann so ruhig und sanft sein wie der Beginn der Dämmerung, die der Nacht vorausgeht. Der Tod ist in Wahrheit ein gesegneter Schlaf. Jeder, der an der Seite von Sterbenden gewesen ist, und dafür ein Auge hat, hat das gesehen. Es gibt einen Augenblick vor dem Tod, wo das "Panorama", das ist ein schneller Überblick über das eben gelebte Leben, stattfindet, und wo der höhere Wesensteil des Menschen schnellstens sein eigenes geistiges Urbild zu finden sucht, sein eigentliches Selbst, und dem Bewußtseinsstrom entlang ergießt sich diese Seligkeit in das Gehirn.

In den alten Mysterienschulen wurde der Mensch gelehrt, seine Einheit mit der "Weltseele" zu erkennen, sich untrennbar nicht nur mit der Erde verbunden zu fühlen, sondern auch mit dem Sonnensystem und fürwahr mit dem ganzen Universum. Er lernte erkennen, daß, genau wie die Atome seines Körpers, die fortwährend aus dem Körper heraus und in ihn hinein wandern, er selbst sich als ein menschliches 'Atom' oder als Monade in einer regelrechten Reihenfolge von Leben, auf die Erde und wieder von ihr weg bewegt. Er lernte die vielseitige Natur seines inneren Wesens erkennen, die vom Göttlichen und Spirituellen bis hinab zu den stofflichsten Elementen reicht. Man kann nur wünschen, daß das Wissen über den Menschen, über seine Rolle bei Tod und Geburt, im größeren Rahmen seines sich entwickelnden Lebens immer besser verstanden wird.

Allem Lebenden ist eine bestimmte Frist gesetzt, denn unaufhörlicher Wandel von einer Station des Seins in eine andere ist das grundlegende Charakteristikum der Natur. In der Tat sind Geburt, Tod und Wiedergeburt nur Phasen des Lebens, denn alles was ist, ist Leben. Es ist das vertrauteste Ding für die Menschen, weil es das Bekannteste im Universum ist. Leben ist der Bote des Bewußtseins, das sich von der Zelle bis zu den Gestirnen in vielfältigen Formen manifestiert. So können wir sagen, daß die Erfahrung eines menschlichen Wesens auf Erden die Reise eines sich ständig erweiternden Bewußtseins ist, und daß das, was wir Tod nennen, einfach eine Fortsetzung der Reise aus diesem Erdenreich in ein anderes, für uns unsichtbares, Reich ist. Was aber ist die Ursache für den Tod? Man könnte sagen, der Tod wird zum großen Teil durch das sich entfaltende Bewußtsein herbeigeführt, das sich - sogar im Laufe einer einzigen Lebenszeit - über die Aufnahmefähigkeit des physischen Körpers ausdehnt, so daß der Körper, der die ihm auferlegte Spannung spürt, allmählich schwach und schließlich abgeworfen wird.

Das ist vielleicht eine etwas ungewöhnliche Art, die Ursache des Todes zu betrachten, aber bei einiger Überlegung kann sie durch praktische Nachprüfung bestätigt werden, denn wo wir auch hinblicken, sehen wir die Phänomene des Lebens, die den Tod einschließen: Wesen und Dinge in verschiedenen Stadien des Wachstums, Alterns oder Sterbens. Alles, was wir kennen, beginnt von innen nach außen zu sterben, denn es sind die inneren Anlagen und Kräfte, die eine Wesenheit befähigen, ihre Existenz als "lebendes Wesen" fortzusetzen. Ein Baum, zum Beispiel, stirbt nicht auf Grund äußerer Einflüsse, die auf ihn einwirken, obwohl diese zum Tode beitragen, wenn der innere Verfall einmal eingesetzt hat. Ein Baum beginnt von innen her zu sterben; und wenn der Verfall nicht aufgehalten wird, geht er weiter, bis die ganze Baum-Wesenheit stirbt. Ähnlich ist es bei einer Sonne: Nach modernem wissenschaftlichem Dafürhalten und Schlußfolgerungen 'stirbt' eine Sonne, weil sie den größten Teil, wenn nicht die Gesamtheit, ihrer elektronischen und titanischen Energien, die in ihrem Kern liegen, in den umgebenden Raum verströmt hat. Ebenso ist es beim Menschen. Der unsterbliche Teil seiner Konstitution, der dem bloß menschlichen Ich oder der Seele überlegene, ist wahrhaft göttlich-spirituell, so daß fortwährend ein Zug nach oben, zu den höheren Sphären, entsteht. Diese mächtige spirituell-intellektuelle Anziehung, die auf den edleren Teil des Menschen einwirkt, zusammen mit der natürlichen Abnutzung des Körpers während des Lebens, sind die beiden Hauptursachen, die zum Tode führen. Der Tod findet also von innen her statt und arbeitet sich nach außen durch.

Nehmen wir den Fall eines Menschen, wobei Tod durch Selbstmord, Unfall oder Gewalt ausgeschlossen ist, der also seine normale Lebenszeit zu Ende lebt. Die Stunde kommt, wo das reinkarnierende Ego so entschlossen dem inneren Ruf nach Frieden und Seligkeit gehorcht, daß der wichtige Lebensfaden, der es mit dem Körper verbindet, zerreißt. Es folgt sofortige Bewußtlosigkeit, denn die Natur ist sehr barmherzig in diesen Dingen und wird in ihren Handlungen von unendlicher Weisheit geleitet. Schnell wie ein Blitz wird der höhere Teil des Ego in sein essentielles Selbst zurückgezogen und bleibt, bis zu seiner nächsten Inkarnation auf der Erde, in der Himmelswelt, dem Devachan, wie es die Tibeter nennen, gehüllt in unaussprechliche Träume, die für das sie erlebende spirituelle Ego wirklicher sind als das Realste, was wir kennen, weil es in den Reichen des rein intellektuellen Denkens und Bewußtseins lebt, wo, relativ gesprochen, nichts die Realisierung seiner Ideale trübt.

So wird ein Mensch, der sein ganzes Leben mit unerfüllten Sehnsüchten und Wünschen verbrachte, seien sie nun philosophischen oder wissenschaftlichen Charakters, religiöser oder musikalischer Natur, eine Traumerfahrung haben, die genau dem beherrschenden Strom seines Bewußtseins während des Erdenlebens entspricht. Zu seiner höchsten inneren Befriedigung wird er die kompliziertesten philosophischen Probleme lösen oder in seiner Vorstellung die verblüffendsten wissenschaftlichen Erfolge beim Erforschen der geheimsten Tiefen der Natur erlangen; oder aber er wird überzeugt sein, daß er die schwierigsten religiösen Gedanken versteht, oder er wird die herrlichsten musikalischen Harmonien zu vernehmen glauben.

Aber der Tod ist nicht vollständig, auch nicht wenn der letzte Atemzug aufgehört hat und der letzte Herzschlag vorüber ist, denn das Gehirn stirbt als letztes Organ. Kurze Zeit nachdem der Körper allen Anzeichen nach tot ist, bleibt das Gehirn noch aktiv und läßt jedes einzelne Ereignis des gerade beendeten Lebens an sich vorüberziehen, vom größten bis zum flüchtigsten und kleinsten. In der Tat sieht das Gehirn sein gesamtes, vergangenes Leben: von dem Augenblick an, wo es sich in der Kindheit zum ersten Mal selbst gewahr zu werden begann, bis zu dem abschließenden Augenblick selbstbewußter Wahrnehmung, wo das Herz zu schlagen aufhörte. Es sieht alles als ein ununterbrochenes Panorama von Bildern, wobei kein Bild, was immer es auch sein mag, ausgelassen werden kann und jede tugendhafte, wie auch unedle Regung oder Tat eingeschlossen ist. Das wiederverkörpernde Ego versteht und erkennt angesichts dieser vorbeiziehenden Vision die absolute Gerechtigkeit all seiner Leiden und empfängt davon automatisch einen untilgbaren Eindruck, der es durch die Zwischenzeit nach dem Tode begleitet und dazu beiträgt, es in die genau richtige Umgebung zu führen, wenn es zu seiner nächsten Wiedergeburt auf die Erde zurückkehrt.

Dieser Vorgang hat ganz bestimmte ethische und psychologische Gründe, denn dieses schnell vorbeiziehende Panorama umfaßt, verstandesmäßig aufgefaßt, die gesamte Rekonstruktion der guten und bösen Taten, und prägt, wie schon gesagt, sie alle unauslöschlich der Struktur des spirituellen Gedächtnisses des scheidenden Menschen auf. Wenn das Ende schließlich kommt, sinken die sterblichen und stofflichen Teile in Vergessenheit, während das wiederverkörpernde Ego die geistigsten und erhabensten Aspekte dieser Erinnerungen zurückbehält und mit sich in die Himmelswelt nimmt.

Genau genommen gibt es drei solche Panorama-Visionen: die erste ereignet sich kurz nach dem Tode, wenn das Gehirn noch hinreichend Bewußtsein hat, daß es seine Vergangenheit heraufbeschwören kann; die zweite am Ende der sogenannten Reinigungsperiode, kurz bevor das Ego in die Himmelswelt zu seinen Traumerfahrungen schlüpft; und die dritte am Ende der Ruheperiode, kurz vor der Wiedergeburt. Die tibetische Philosophie bezeichnet die Visionen mit dem allgemeinen Begriff Bardo, was "zwischen zweien" bedeutet und sich auf die Zeitperiode wie auch auf die Bewußtseinsstadien zwischen Tod und Wiedergeburt bezieht.

Kurz zusammengefaßt: Die erste Vision beschäftigt sich mit dem gerade beendeten Leben und schließt mit dem blitzartigen prophetischen Blick in die Zukunft, wobei das wiederverkörpernde Ego nicht nur sein vergangenes Leben sieht, sondern auch in großen Zügen erkennt, welchem Schicksal es im nächsten Leben entgegensieht. Es nimmt sich selbst als Verursacher und Schöpfer seines eigenen Glücks und Elends wahr.

Die zweite Vision unterscheidet sich von der ersten darin, daß der Blick auf die Vergangenheit viel weniger intensiv ist, während die Vision auf das kommende Leben den größeren Teil einnimmt und höchst genau ausgearbeitet ist. Das Ego erblickt die Zukunft vermittels seiner visionären Kraft; es erkennt, welche Aufgaben es in der nächsten Wiedereinkörperung bestehen muß; es erschaut die tatsächliche Gerechtigkeit und den Segen von allem - nicht in allen Einzelheiten, aber im großen und ganzen.

Die dritte Vision ist fast eine Wiederholung der zweiten, denn nachdem das Ego sein Träumen abgeschlossen hat, sieht es nun, was auf es zukommt, und wieder erkennt es die Rechtlichkeit in allem. Dann fällt der Vorhang, das Ego trinkt den barmherzigen Trunk Lethe, den Trunk des Vergessens, und wird einige Monate später auf der Erde wiedergeboren.

Hypnos kai thanatos adelphoi, sagten die Griechen: "Schlaf und Tod sind Brüder." In Wahrheit sind sie grundsätzlich eins. Der einzige Unterschied zwischen ihnen ist dieser: Schlaf ist ein unvollständiger Tod, während der Tod vollständiger Schlaf ist. Wenn ein Mensch in der Nacht schläft, stirbt er, aber unvollständig, weil der Faden des Bewußtseins sogar während des Schlafes noch im Gehirn zittert und schwingt und Träume hervorbringt, die ihn manchmal erfreuen und zu anderer Zeit quälen und verwirren. Der glänzende Faden bleibt ungebrochen, so daß das Ego, das sich in den Raum hinausschwingt, an diesem Lebensfaden zurückkehren kann, der die Monade mit dem zurückgelassenen Gehirn und Körper verbindet. Wenn ein Mensch stirbt, ist es, als ob er in einen tiefen Schlaf fällt, nur in vollkommener Weise; völlige, süße Bewußtlosigkeit, und dann, wie das sanfte Ertönen eines wunderbaren Klangs, ist die Seele frei.

Der mystische Sufi-Dichter singt dieselbe alte Erzählung von Schlaf und Tod:

Nächtlich läßt du die Seelen der Menschen fliegen

Aus dem Gefängnis, wo sie gefangen liegen.

Nächtlich schwingt sich aus dem Käfig jede Seele

Auf ihren Weg nach oben, nicht mehr Sklave oder König ...

In die Gefilde ohne Frage geht der Geist,

Während Verstand und Körper ruhen.

 

Eine Weile ist das Roß der Seele

In jeder Nacht vom Joch des Körpers frei:

"Schlaf, Todes Bruder": Komm, dies Rätsel löse!

Doch daß bei Tagesanbruch sie nicht zögert,

Er fesselt jede Seele an ein langes Band,

Daß er von jenen Hainen und Gefilden sie kann rufen,

Die losgelösten Geister zu des Tages Pflicht.

- Jalâl-uddîn Rûmî

So wollen wir den Tod nicht mehr fürchten als wir den Schlaf fürchten. Der Tod ist Befreiung, das Öffnen einer neuen Tür in die unsichtbaren Räume und Häuser der Natur. Der müde Leib, das abgearbeitete Herz, das erschöpfte Gehirn, sie sind nun nicht mehr. All das Bessere im Menschen, das im Augenblick des Scheidens da war, wird blitzschnell zurückgezogen und geht ein in sein eigenes, von den Fesseln befreites Bewußtsein, um den vollen Glanz des geistigen Lebens zu erfahren.

 

- Zusammengestellt aus den Schriften von G. von Purucker