Auf Fels oder auf Sand bauen
- Sunrise 4/1971
In manchen theologischen Lehrgängen wird den Kandidaten für die Priesterweihe gelehrt, ihre Religion auf "objektive Wahrheit" zu begründen und alle subjektiven Dinge zu meiden, und sich an die in den Evangelien verzeichneten "bekannten geschichtlichen Tatsachen" zu halten. Aber wenn die Religion spirituell ist, dann ist sie subjektiv und an gar keine Zeit gebunden. Sie fließt im gegenwärtigen Augenblick, dem ewigen Jetzt, aus ihrer Quelle in unser Gemüt. Das Sonnenlicht, eine sternklare Nacht, die Majestät der Berge, die Stille und Schönheit einer Blume, das Glücksgefühl im Herzen, die Freude an der Ausübung der Pflicht, das Leuchten des Lichtes der Nächstenliebe und des Mitleids: in all dem sieht der religiöse Mensch die Beweise für Religion, und nicht nur Beweise, sondern goldene Strahlen der Gottheit. Für ihn ist die Unsterblichkeit hier und jetzt; er lebt in ihr, und jeder Augenblick ist für ihn unsterblich; er ist sich dessen bewußt, daß er einen Engel beherbergt. Nur wenn die Religion verloren geht, müssen wir in Wundern oder in der fernen Vergangenheit, oder irgendwo anders als in unserem eigenen Herzen und seinem intuitiven Erkennen nach Beweisen dafür suchen.
Es ist, als ob man diesen Theologiestudenten sagen würde: "Vermeidet spirituelle Quellen und bringt euer Anliegen vor das Forum des Verstandes und der Logik." Das war im Osten wie im Westen immer der Gerichtshof der Religion, die versucht, ihre Position zu stützen, indem sie sich mehr an Tatsachen hält, weil ihre Autorität in Frage gestellt ist. Heutzutage sind die Menschen aufgeklärter und besser unterrichtet: Autorität, Aberglaube, veraltete Behauptungen und Auffassungen, wie "der Mensch hat einfach zu glauben!", verlieren ihren Einfluß. Deshalb ist es an uns zu argumentieren; aber religiöse Argumente müssen gut begründet sein oder sie werden schimpflich vom Gerichtshof verwiesen - es sei denn, der Appell richtet sich an die höhere Rechtsprechung des Herzens. Werden die Kirchen jemals diesen Appell ergehen lassen, der sie allein am Leben erhalten könnte? Die bekannten 'Tatsachen' und die objektive 'Wahrheit' des einen Zeitalters sind oft die als unbrauchbar abgelegten Aberglauben des nächsten. Jedoch das Licht im Herzen des Menschen ist gestern, heute und für immer das gleiche. Während viele der traditionellen Anschauungen des Christentums in Mißkredit geraten sind und als nicht den Tatsachen entsprechend befunden wurden, bleiben die spirituellen Wahrheiten immer noch unangefochten bestehen. Hier ist der Fels und dort ist der Sand, und wir können wählen, worauf wir bauen wollen.
Wir wollen uns zuerst mit dem Sand befassen und furchtlos die herkömmliche Einstellung prüfen: Was wissen wir in Wirklichkeit über das Leben Jesu, außer dem, was uns in den Evangelien erzählt wird? Ein zeitgenössisches Zeugnis, daß er überhaupt existierte, fehlt vollkommen. Ein Mensch, der ein solches Aufsehen in Palästina hervorrief, wäre sicherlich in den Schriften des aufmerksamen, wißbegierigen Josephus erwähnt worden, der über fast alle wichtigen Ereignisse in seinem Gebiet und seiner Zeit berichtete. Diese Lücke müssen viele Apologeten der alten Zeit empfunden haben, denn sie ließen in grober Weise Stellen in seinen Schriften außer acht und schoben Texte ein, um etwas geschichtlich erscheinen zu lassen, von dem sie nicht beweisen konnten, daß es tatsächlich so war. Wir sind nicht einmal sicher, daß die Evangelien von jenen geschrieben wurden, deren Namen sie tragen, noch daß sie Szenen beschreiben, von denen die Autoren tatsächlich Zeugen waren. Wir wissen auch nicht, wann sie eigentlich den Auftrag zum Schreiben erhielten. Gewisse Stellen der Evangelien scheinen viel älter zu sein als andere Teile.
Es ist wahr, daß ungelehrte Leute oft mit einem erstaunlichen Gedächtnis gesegnet sind. Wenn man jedoch bedenkt, welche Veränderungen die Worte Jesu wahrscheinlich erfahren haben, ehe sie schließlich niedergeschrieben wurden, muß man einsehen, wie töricht es ist, aus ihnen Dogmen zu machen, und wie äußerst wichtig es ist, sie und die Ideen, die sie verkörpern, auf Grund ihres inneren Wertes anzunehmen. Jeder Jurist, der Zeugen zu vernehmen hat, wird dem beistimmen. Nach Ablauf eines einzigen Tages werden zwei Menschen, die beide intelligent und ehrlich sind, eine Unterredung, bei der beide anwesend waren, in einem ganz verschiedenen Sinn wiedergeben. Die Billigung der Aussprüche von Jesus liegt daher letzten Endes in ihrer Wahrheit, und es ist sicherer anzunehmen, daß Jesus sie aussprach, weil sie wahr sind, als daß sie wahr sind, weil Jesus sie sagte.
Und nun zu dem Felsen, um die Sache vor das Gericht des Herzens zu bringen, vor die spirituelle Seite unserer Natur. Hier müssen wir ein wenig abweichen, denn es erhebt sich die alte Frage: Glaube oder Verstand? Gibt es wirklich einen Grund für einen Streit zwischen beiden? Das hängt davon ab, was wir mit dem einen und mit dem anderen meinen. Wenn der Glaube ein blindes Hängen am Dogma ist, weil man spürt, daß das Dogma wenigstens etwas ist, an das man sich halten kann, und wenn man sich davon nicht zu lösen wagt, weil sonst nichts übrig bleibt als leerer Raum, dann können wir von Herzen dankbar sein, wenn eine solche das Wachstum hemmende Stütze lächerlich gemacht, beständig angegriffen und zerstört wird. Wachstum ist Gesetz; die Menschen müssen ihre höchste Entwicklungsstufe erreichen; das Gemüt, die Intuition und die Imagination müssen sich entwickeln. Wenn die Welt gerettet werden soll, brauchen wir Menschen, keine geistigen Zwerge. Jene Art Glaube, der manchmal blinder Glaube genannt wird, ist aus Trägheit und Furcht zusammengesetzt, eine Verbindung, die die Seele tötet.
Es gibt indessen einen Glauben, der das Bindeglied des Menschen zwischen seinem gewöhnlichen Selbst und dem Göttlichen in ihm ist. Zu wissen, daß die Stimme Gottes im Herzen wohnt, darauf vertrauen, daß das Himmelreich sich wirklich in uns befindet und dort entdeckt werden kann, zu dem unsterblichen Teil in uns Vertrauen haben und ihm mutig entgegengehen - das ist in der Tat ein Glaube, der uns buchstäblich "vollkommen macht." Ein so kleiner Teil ist nur von uns zu sehen, und es gilt eine Unmenge dazu zu gewinnen. Der eine Glaube bedeutet Verdunkelung des Gemütes, der andere Erleuchtung des Herzens.
Auch der Verstand ist auf seine Weise etwas Göttliches. Für den wahren Glauben ist er der beste Diener, der sich nie gegen die Führung seines Meisters auflehnt. Er hat seine Vorteile, denn er kann mit dem Falschen kurzen Prozeß machen, wenn er auch aus verschiedenen Gründen durch eigene Anstrengungen nicht ohne Hilfe zur Wahrheit gelangen kann. Wenn uns daher gesagt wird, wir sollten unser Christentum auf "bekannte geschichtliche Tatsachen" und auf "objektives Zeugnis" gründen, so kann uns der Verstand sehr schnell zeigen, daß davon sehr wenig vorhanden ist. Er kann klar machen, daß man dabei den falschen Standpunkt einnimmt. Dadurch wird lediglich der kleinliche dogmatische Glaube bedroht. Dem anderen Glauben leistet er einen guten Dienst, weil er dem Menschen alle Ausflüchte versperrt, die er machen kann, bis ihm jener endgültige, hohe und befreiende Glaube bewußt wird. Er schließt alle Unwahrheit aus und hinterläßt uns letzten Endes nur das Wahre.
Wenn wir daher die Sache des Christentums vor den höheren Gerichtshof bringen, dürfen wir nicht annehmen, daß der Verstand nicht dabei sein wird. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen dem von oben angespornten Verstand und einem Gemüt, das aufgrund äußerer und angenommener Tatsachen argumentiert und von vorgefaßten Meinungen und Unschlüssigkeiten beherrscht wird. Hier wird das Herz mit seinen spirituellen Wahrnehmungen seine eigenen Gesetze für das Verfahren aufstellen und der Fall wird nicht abgewiesen werden, selbst wenn vom unteren Gerichtshof gezeigt werden sollte, daß die Sache geschichtlich nicht fundiert ist. Argumente, die dafür und dagegen sprechen, sind ganz bedeutungslos. Den Ausschlag gibt nicht die historische Tatsache, sondern die spirituelle Wahrheit.
Gewisse Aussprüche in den Evangelien haben den Klang des Ewigen. Der unsterbliche Mensch in uns erkennt seine eigene Sprache darin und schließt daraus auf den Autor. Er weiß, daß diese Art Sprache in den weißglühenden Feuern der Gottheit in einem Herzen geschmiedet wird, in dem solche Feuer brennen, und nicht in der Kohlenpfanne des Gemütes, wo so manche andere Kesselflicker-Theorie und manches Dogma zusammengebastelt wird. Die Aussprüche von Jesus sind tatsächlich die Trümpfe des Christentums. Nur sehr wenige in der Geschichte haben so erhaben gesprochen. Deshalb spricht der höhere Gerichtshof sofort sein Urteil: selbst wenn man annimmt, die Ereignisse in den Evangelien seien erfunden, liegt ihnen eine Weisheit zugrunde, die für das religiöse Leben der Welt ungeheuer wichtig ist. In ihnen zeigt ein Lehrer und Offenbarer durch sein Leben, wie großartig die Menschheit werden kann, und er weist den Weg dazu.
Das sind die wesentlichen Dinge, die man wissen muß. Sein wirklicher Name, die Zeit seines Auftretens, seine Abstammung, sind verhältnismäßig unwichtig. Sie stellen Daten dar, die die Forschung bestätigen, ändern oder als falsch erklären kann. Das hat nichts zu sagen, denn die spirituelle Tatsache ist, daß Erhabenheit vorhanden ist, und Erhabenheit ist die notwendige Nahrung für die menschliche Seele. Im übrigen muß alles, was gesagt wird, aufgrund seines inneren Wertes stehen oder fallen. Das geschichtliche Christentum kann auf Beweis und Logik aufgebaut sein; aber diese sind vor dem Gericht des menschlichen Geistes ohne Bedeutung, wo der Zweck nicht darin liegt, eine besondere Sekte oder Lehre zu unterstützen, sondern die Wahrheit zu finden, die den Menschen frei macht.