Höher empor
- Sunrise 3/1971
Eines Morgens beobachtete ich einen Pirol, der neben dem Fenster meines Schlafzimmers auf einem blühenden Zweig einer Bougainvillea saß. Er sang, als ob seine kleine Kehle zerspringen wollte. Mir kam der Gedanke, vielleicht ist er am Ende des Tages gar nicht mehr am Leben, aber in diesem Augenblick sang er noch im Sonnenschein. Das ist eine Kunst, die wir Menschen, allgemein gesehen, gar nicht mehr kennen. Früher pfiffen die Männer während der Arbeit, und die Frauen sangen zum Geklapper des Geschirrspülens. Vom Lärm der Maschinen abgesehen, scheint die Welt heute stiller geworden zu sein, als ob wir alle auf das Dröhnen eines nahe bevorstehenden Unheils lauschen würden. Und dennoch ist der Himmel immer noch blau, und immer noch folgt auf den Morgen der Abend. Das einzige unberechenbare Element sind wir.
Aber keiner von uns ist heute genau der gleiche Mensch, der er gestern war. Wir können uns ändern und tun es auch, und auch die Welt kann sich ändern, denn wir sind die Welt. Nur ein Roboter reagiert ganz genau auf den Druck des Knopfes. Für den denkenden Menschen jedoch ist das nicht möglich und sollte es auch nicht sein, denn er weiß, wenn es ihm auch nicht ganz klar ist, daß er in einem sich bewegenden Universum lebt und in geistiger wie auch in anderer Beziehung imstande ist, sich nach eigenem Wollen zu bewegen. Daher beginnt jeder Tag mit einer geringfügigen Veränderung, die sich durch unsere vergangenen Erfahrungen ergeben hat, und deshalb liegt die Möglichkeit, die Gegenwart heller oder dunkler zu gestalten, ganz in unseren Händen.
Da wir genug Verstand besitzen, um ein Raumschiff zum Mond zu schicken, können wir auch nicht sagen, wir wüßten nicht, wie wir unseren Nachbarn als Freunde "guten Morgen" wünschen sollen. Je mehr wir unsere Sympathien ausdehnen und unseren Horizont erweitern, desto mehr werden wir überall auf diesem Globus gleichartige Gefühle in verwandten Seelen finden, denn, ob wir es begreifen oder nicht, wir sind durch unsere kosmische Abstammung eine Familie. Wir alle kommen aus dem uns bis jetzt noch 'Unbekannten' zu diesem 'bekannten' kleinen Körnchen Sternstaub. Wir verlassen es wieder und gehen zurück in das 'Unbekannte.' Das weiß jeder. Es gibt aber auch noch eine Erkenntnis, die nicht Allgemeingut ist und die sich am Rande unseres Bewußtseins befindet. Wenn wir zum Beispiel in einer mondlosen, sternklaren Nacht unser Haupt erheben, verspüren wir, nachdem wir jene unzähligen Himmelskörper, die über unserem Planeten kreisen, eine Weile beobachteten, eine gewisse Dankbarkeit dafür, daß wir überhaupt imstande sind, sie mit unseren bloßen physischen Augen zu sehen. Selbst wenn wir nicht poetisch veranlagt sind, werden wir doch tief beeindruckt. Das ist kein physisches Gefühl; es ist ein Verlangen unseres inneren Selbstes nach seiner Verbindung mit dem Göttlichen. Und diese Verbindung besteht für uns alle.
Um festzustellen, wie erfolgreich wir als menschliche Wesen charakterlich sind, sollten wir einen klaren Kopf behalten und mit den Füßen fest auf dem Boden stehen. Es ist nicht leicht, physisch rückwärts zu gehen, warum sollten wir es geistig tun? Frühere Irrtümer sind keine guten Gefährten in unserem Gedankenleben. Sie sind nur nützlich, wenn sie den Weg zur Vervollkommnung zeigen. Die Gefahr für unseren Fortschritt beginnt, wenn wir sie nicht als Fehler erkennen oder wenn wir mit Tränen des Bedauerns kostbare Zeit und Energie verschwenden. Es besteht jedoch kein Grund, verzagt zu werden. Wo ist unser Abenteurergeist - jenes wunderbare Wagnis, unser Leben, so lange und so gut wir nur können, zu leben?
Manche mögen sagen: "Es ist zwecklos. Im Leben über alles erhaben zu sein, das hört sich verlockend an, aber ich kann nur an der Küste entlang fahren. Es ist ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe, ich versage und versage, schon bevor der Tag beginnt." Wir vergessen, daß wir unsere Unzulänglichkeiten überhaupt nicht bemerken würden, wenn nicht etwas in uns wäre, das uns immer dazu anhält, immer wieder zu versuchen, besser zu handeln. Es erfordert Mut, sich immer wieder zu bemühen; doch der Sieg, den wir erringen, selbst nach Hunderten von Fehlschlägen, beginnt am Horizont sichtbar zu werden, sobald wir uns Mühe geben. Wie viele Bemühungen, in wie vielen Jahrhunderten, waren notwendig, ehe wir in einem Zeitraum von Stunden von einem Ende der Erde zum andern fliegen und so miteinander in Verbindung treten konnten! Wenn jedermann gesagt hätte, das sei nicht möglich, würden wir heute noch im Planwagen dahinrollen.
Wir würden alle indifferent sein, das heißt, unfähig, uns nach irgendeiner Richtung zum Guten oder zum Bösen hin zu bewegen, ohne Möglichkeit eine Wahl zu treffen und ohne eigenen Willen, wenn wir in uns nicht die Fähigkeiten besäßen, zu wählen. Und das bringt uns zurück zu unserem gemeinsamen Ursprung aus dem Unbekannten. Wir müssen irgendwo gewünscht haben, auf Erden geboren zu werden, ob es uns nun hier gefällt oder nicht. Laßt uns deshalb wenigstens in unseren Gedanken nachsichtig sein und, wie Thoreau nahelegt, "einander wegen unseres Strebens lieben, nicht wegen unserer Leistung." Ehe wir auf irgendeinen anderen zeigen und sagen, "er taugt nichts, er ist ein Versager", sollten wir uns selbst fragen, auf welchen "er" wir hinweisen. Sehen wir nur einen armen Mitmenschen, der unbeholfen dahintaumelt, während wir den Geist des Höchsten in seinem Herzen vergessen? Wenn dem so ist, klagen wir seine Verbindung mit dem Leben an (die genausogut die unsere ist), ein Fehlschlag gewesen zu sein!
Alle Belehrungen aus höheren Quellen haben uns in unserem Bemühen angespornt, Gott (oder unser innerstes Selbst) zu einer lebendigen Kraft in unserem Leben zu machen. Wenn wir fähig wären, das völlig durchzuführen, dann wären unsere Wanderungen auf Erden zu Ende, da es für uns in diesem Schulraum der Erfahrung nichts mehr zu lernen gäbe. Genauso wie wir unterwegs unser Fernrohr nicht wegwerfen, wenn wir einen Berg ersteigen, um die Sterne klarer zu sehen, so ist es auf dieser Reise durch das Leben möglich, die Antworten auf unsere Probleme zu erkennen und die Mühen erfolgreich zu krönen, wenn wir die Führung nicht unbeachtet lassen, die wir empfangen. Das Licht, das uns am Anfang überhaupt erst als Funke ins Dasein rief, kann uns in der Stille unserer eigenen Seele auf eine höhere Ebene führen. Wir können nur für diese Periode unserer irdischen Reise sagen: Consummatum est (es ist vollbracht). Was jenseits liegt, übersteigt die Vorstellungskraft.