Die individuelle Auferstehung
- Sunrise 2/1971
Die Zeit der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche, in der ein vorübergehendes Gleichgewicht zwischen Winter und Sommer, zwischen Nacht und Tag erreicht wird, ist eine heilige Zeit, nicht nur für die Christen und für das jüdische Volk, das dann sein Passahfest feiert, sondern für alle, die etwas mehr von den Dingen verstehen, die der Pilgerfahrt der Seele zugrunde liegen.
Der Meister Jesus war tatsächlich ein Gottmensch, aber er war nicht der einzige, der vom Licht der Göttlichkeit erfüllt gewesen ist. Es gab noch andere Gottmenschen, und jeder von ihnen war die Inkarnation einer göttlichen Kraft. Diese Inkarnation fand von Zeit zu Zeit für dasselbe erhabene Ziel statt, nämlich, um in neuer Weise die ewig gültigen Werte wiederbringen zu können, und den Menschen der jeweiligen Epoche bei der Neuorientierung auf den verschiedenen Ebenen beizustehen und zu helfen, ihr geistiges Blickfeld und den Horizont ihres Erkenntnisvermögens zu erweitern. Wie sind diese Christusse oder Avatâras empfangen worden? In jedem Land gab es Geldwechsler, Schriftgelehrte und Pharisäer, aber es gab auch immer jene, die, den tiefen inneren Strom der Botschaft spürend, versucht haben, auf ihre Weise den Geist der Wahrheit aufrecht zu erhalten.
Diese Jahreszeit wird vom Symbol der Kreuzigung beherrscht. Jeder einzelne muß, so wie es sein Verdienst ist, geprüft und versucht werden. Durch den Antrieb seines höheren Selbstes muß er dabei einige dunkle Höhlen der Erfahrung durchqueren - das Endziel ist dabei immer die Wiederauferstehung, denn auch die niedrigsten Elemente in der menschlichen Konstitution sind im Höchsten verwurzelt. Man sollte dabei auch daran denken, daß der innerste Funken in uns selbst ein Zentrum oder Brennpunkt für die Energien aus den göttlichen Kräften des Universums ist, sowohl den manifestierten als auch den transzendentalen.
Diese Kräfte werden im Osten als die Dreiheit Brahmâ, Vishnu und Siva beschrieben: Brahma, die entwickelnde oder erzeugende Kraft; Vishnu, die erhaltende oder überdauernde Kraft; und Siva, die vernichtende und wieder neu erschaffende Kraft. Alle drei fließen gleicherweise durch die Menschheit und sind in ihr enthalten, so wie sie im christlichen Glauben als Dreiheit von Vater, Heiligem Geist und Sohn vorhanden sind, wobei man annimmt, daß von ihnen eine spirituelle Wirkung ausstrahlt. Dieser dreifache Einfluß wirkt universal - Brahmâ, der Vater, die entwickelnde Kraft - bringt uns voran und trägt dazu bei, die Kanäle zu bilden, durch die das Göttliche in uns ständig zur Entwicklung drängt und immer wieder neu zum Ausdruck kommt. Vishnu, der Heilige Geist, die erhaltende Kraft, ist die Summe der Anstrengungen, die darauf gerichtet sind, den evolutionären Zustand aufrechtzuerhalten, den die Menschheit und all die anderen Naturreiche in ihrer Entwicklung errungen haben; es ist die Kraft, die bei den Wachstumsgefahren das Gleichgewicht bewahren soll. Und Siva, der Sohn, der Vernichter und Wiedererneuerer, ist die Eigenschaft, die das Negative zerstört und kreuzigt, aber gleichzeitig dadurch erneuert und wiedererweckt.
Wir befinden uns heute inmitten eines großen geistigen Umbruchs, was sich im Verhalten und in der Reaktion der Menschen bemerkbar macht, und Besorgnis und Unruhe verursacht. Es hängt vom Karma der Menschheit ab, wie die derzeitigen Krisen in den Nationen der Welt gelöst werden. Es fehlt jedoch nicht an warnenden Stimmen, die, von einer inneren Weisheit angetrieben, durch den Nebel und die Verwirrung dringen. Wir gehen augenblicklich durch einen Zyklus, in dem die drei Eigenschaften stark in Erscheinung treten. Beispiellos ist der Drang zum Wachstum, zur Entwicklung, wodurch immer feinere Offenbarungen der menschlichen Spiritualität hervorgebracht werden. Alles geschieht unter dem fortwährenden Einfluß starker Seelen, die in den strategischen Positionen mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Weisheit die Welt im Gleichgewicht zu halten versuchen. Dort liegt allerdings auch der Schwerpunkt der Siva-Eigenschaften mit ihren zerstörenden Aspekten, die einen beherrschenden Einfluß auszuüben versuchen; jedoch im geheimen sind die stärkeren, regenerierenden Einflüsse am Werk.
Dem zerstörenden Aspekt Sivas wurde viel zuviel Beachtung geschenkt, während die regenerierende und umwandelnde Funktion dieser universalen Beschaffenheit der Natur zu wenig beachtet wurde. Siva bedeutete ursprünglich, genauso wie der Sohn in der christlichen Triade, in erster Linie die Erreichung des juvenilen Zustandes, wobei die Kreuzigung, die Auflösung der Kristallisationen, nur ein Teil des Prozesses ist. Die Hauptaufgabe dabei ist nicht die Zerstörung, sondern das Forträumen des Schuttes alter Formen, was eine notwendige Vorarbeit für die Wiedererweckung der spirituellen Kraft ist.
Nichts kann den karmischen Fortgang der Menschheit aufhalten - jenes Karmas, das die Menschheit immer und immer wieder zwingt, die Kreuzigung zu erleiden, immer und immer wieder in seine Höllen hinabzusteigen, doch stets besteht die Möglichkeit der Wiederauferstehung zu größerem Verständnis. Dabei dürfen wir jedoch niemals glauben, daß die Kreuzigung der Seele und die Wiederauferstehung bei allen Menschen gleich sei. Spirituelles Wachstum ist eine Angelegenheit jedes einzelnen und an keine bestimmte der Gesellschaftsschichten gebunden, aus denen sich die Menschheit zusammensetzt. Wenn wir daher in dieser Jahreszeit dem heiligen Zyklus der großen Passion volle Ehrfurcht zollen, so tun wir das aus einer Erfahrung, die allgemein Gültigkeit hat, doch für jeden einzelnen grundsätzlich in ihrer Art verschieden ist.
Wir können daher der Botschaft des österlichen Geschehens mit der inneren Freude folgen, die sich auf dem absoluten Vertrauen aufbaut, das wir in die Weisheit jener mitleidsvollen Wächter setzen, welche die Führer und Beschützer der Menschheit sind. Wenn wir etwas von dem Licht dieser kosmischen Inspiration in unser Herz fließen lassen könnten, damit es unser Leben erhellt, so würde unser Vertrauen in den Herzen unserer Mitmenschen seinen Widerhall finden.