Irgend jemand braucht uns
- Sunrise 1/1971
Bei unserer Berghütte steht jenseits der Straße am Rande einer Wiese ein Redwoodbaum, der größer ist als die anderen. Seine kegelförmige Krone ragt weit hinein in den blauen Himmel, und seine oberen Äste blicken auf die Wipfel der kleinen Bäume herab, die in Gruppen um ihn herum stehen.
Im Frühsommer stand ich auf meinem Grundstück und hatte meinen Motorrasenmäher abgestellt. Ich lehnte am Zaun und unterhielt mich mit meinem Nachbarn, als in der Ferne, vom Ozean her, Donnerrollen zu hören war. Noch während wir miteinander sprachen, kam es näher und wurde lauter. Der Himmel verdunkelte sich, das Donnern wurde stärker und dann kam ein Schlag, der den Boden unter unseren Füßen zu erschüttern schien. Ein Blitzstrahl zerriß den Himmel und schlug weiter oben am Berg in die Erde. Seine intensive Hitze versengte die dicke rote Rinde des riesenhaften Baumes auf dem Gelände der anderen Straßenseite und dann herrschte einen Augenblick lang völlige Stille. In der Nähe der Baumkrone bis fast zu den Wurzeln herab war an einer Seite eine häßliche Wunde entstanden, die den bloßen Stamm freigab. Langsam verzog sich der Sturm ostwärts in die höheren Berge und der Himmel klärte sich auf. Ein nützlicher und schöner Bestandteil der Natur hatte einen Schock und eine Wunde erlitten.
Mit der Zeit begann die Wunde zu heilen. Die Rinde wird wieder nachwachsen, und der Baum wird am Leben bleiben. Der Vorfall war in diesen Gegenden ein gewohntes Ereignis, aber es erinnerte mich daran, wie wir Menschen durch Dinge zu leiden haben, über die wir keine Kontrolle haben, und daß wir manchmal nicht genügend Mut und Entschlossenheit zeigen, unsere Wunden heilen zu lassen und weiterzumachen wie zuvor.
Wir haben schon über den Willen, weiterzuleben, gelesen, aber wenn nichts vorhanden ist, für das der Wille zum Weiterleben eingesetzt werden kann, so ist das ein sinnloses Unterfangen. Unser Baum war sich natürlich nicht bewußt, daß er für irgend etwas überlebte. Aber wir, die wir uns von den Tieren und von den Bäumen des Waldes dadurch unterscheiden, daß wir Entscheidungsvermögen besitzen, können oder sollten wissen, daß allem ein Zweck zugrunde liegt. Selbst wenn wir uns dessen nicht bewußt sind, besteht für uns ein Grund für den Entschluß, weiterzuleben.
Mein verwundeter Baum, der sich seiner Existenz nicht bewußt ist, wußte natürlich nicht, warum er sich entschied, weiterzuleben. Er tat es eben aufgrund seines naturbedingten Daseins. In unserem Fall ist das anders. Wir können wählen. Wir können leben wollen oder nicht. Manchmal, wenn uns die Natur einen Schlag versetzt hat und uns der Schock über das Unglück niederwirft, sind wir geneigt, uns selbst zu bemitleiden und wir fragen uns immer wieder: Warum ist das mir passiert? Doch die bloße Tatsache, daß wir denken und überlegen können, bedeutet, daß wir unbeseelten Dingen gegenüber im Vorteil sind. Wenn wir diese Eigenschaften anwenden, können wir eine Philosophie entwickeln, mit der wir den Widerwärtigkeiten des Lebens mit größerem Gleichmut begegnen können. Wir können zum Beispiel unsere Umgebung beobachten und dabei feststellen, daß unsere Freunde und Nachbarn unter den gleichen Widerwärtigkeiten zu leiden haben; und wenn wir scharf genug hinsehen, werden wir wahrscheinlich entdecken, daß sie unter Umständen durch die Blitzschläge des Lebens schwerer verwundet wurden als wir, und daß sie sich doch wieder erholt haben.
Wenn wir nur wollen, so können wir auch weiterhin aufrecht stehen und der Natur die Heilung unserer Wunden ermöglichen. Wenn wir nur unser Gemüt darauf einstellen, dann werden wir sehen, daß die Wogen unseres aufgewühlten Gemütszustandes sich wieder glätten. Überrascht werden wir feststellen, daß, wie bei meinem Baum, nur die nächsten Bekannten wissen, daß wir eine Narbe tragen.
Wollen wir aber bei unserer Überlegung eine Antwort auf die jahrhundertealte Frage finden, warum wir hier sind und was die Bestimmung unseres Lebens ist, so könnte es sein, daß gerade mein Redwoodbaum eine Antwort dafür bereit hat. Es wäre ja möglich, daß wir durchhalten müssen, weil uns irgendwo irgend jemand braucht. Vielleicht müssen andere sich bei uns Mut holen, auch wenn wir der Meinung sind, daß wir selbst wenig davon besitzen. Wir sind so notwendig wie mein Baum. Er weiß es nicht, aber sein Leben hat einen Sinn. Eines Tages wird er zwar als Opfer der Kettensäge eines Holzfällers am Boden liegen. Er wird als Bauholz für irgendein Haus in einer fernen Stadt verwendet werden. Aber solange er lebt, wird er für mich und meine Freunde eine Quelle beständiger Freude sein; er wird den Schatten spenden, in dem jedes Jahr schöne, leuchtendweiße Wachslilien blühen. Mein Baum und wir werden von irgend jemandem gebraucht.