Wer und was ist der Mensch?
- Sunrise 1/1971
Ein guter Freund, der seit langer Zeit den traditionellen Glauben, in dem er aufgewachsen war, ablehnt, schrieb mir einen Brief mit vielen ernsten Fragen. Er meinte, daß es schwierig sei, auch nur den Versuch zu machen, über die Ursache des Lebens zu schreiben, da wir nicht wissen, wer oder was der Mensch wirklich ist. Er sehe den Tod zwar als einen logischen und normalen Naturvorgang an und fürchte ihn deshalb nicht, aber er frage sich, was sich wohl nach unserem Tod ereignen werde - Himmel? Hölle? Reinkarnation? Seine Ansicht ist, daß es keiner sicher weiß, alles seien Vermutungen und Meinungen. Und doch sei die Furcht vor der Verdammnis nach dem Tode lange Zeit als ein Drohmittel benutzt worden, um die Menschen zu zwingen, bestimmte Glaubensbekenntnisse anzunehmen, was ungeheures Leid zur Folge hatte. Er schloß: "Ich wünschte, ich wäre nicht so orthodox erzogen worden, dann wäre meine Kindheit nicht so einseitig gewesen und ich wäre heute vielleicht vorurteilsfreier. Ich würde nicht heimlich befürchten, meine alte Religion wäre vielleicht doch wahr. Ich habe zwar eine Menge Tabus abgelegt, die mich von Geburt an umgaben. Aber die entscheidende Frage, 'ob Gott existiert?', kann ich nicht eindeutig mit ja oder nein beantworten."
Für mich war es nicht leicht, eine Antwort zu finden, denn zuerst fragen die Menschen immer nach einem Beweis, und der liegt im menschlichen Bewußtsein und nicht außerhalb - Herz und Verstand müssen zufriedengestellt sein. Daß zweimal zwei vier ist, steht für die meisten von uns endgültig fest, aber man könnte unmöglich einen Idioten davon überzeugen, weil er den Gedanken gar nicht erfassen kann. Ich glaube jedoch, daß es für Herz und Verstand sehr nützlich sein kann, wenn wir, was immer uns als wahr erscheint, ohne Nachdruck oder Aufdringlichkeit vertreten. Nur wenn wir das unserer inneren Empfindung nach Wahre annehmen und unser Gemüt für weitere und vielleicht größere Wahrheiten offenhalten, erlernen wir die Fähigkeit, die Beweisindizien zu prüfen. Gerade hier liegt meiner Meinung nach der Ausgangspunkt für die Existenz Gottes. Wir müssen uns von unserem Innern leiten lassen, nur dort können wir finden, wer und was wir sind.
Ich schrieb also meinem Freund über die vielen Aspekte des Menschen und daß über allem und in jedem Menschen etwas vorhanden ist, das ewig beständig bleibt und als "Ich" bezeichnet wird. Ein höherer Wesensteil, der mit uns eins und doch getrennt ist. Ich fragte meinen Freund, ob er wisse, wer und was er wirklich ist? Vielleicht der kleine Junge, der uns auf dem Platz, den wir als Spiel- und Schlachtfeld benutzten, rührselige Lieder vorsang; oder etwa der jugendliche Idealist, der für die Rechte der arbeitenden Klasse kämpfte, oder aber der erfolgreiche Geschäftsmann, der stolze Großvater, der Mann, der seinen Garten liebt? Wir selbst wissen von uns so wenig. Wir sind uns bewußt, daß wir mit Hilfe unseres Verstandes unsere Gefühle beherrschen können, aber wir wissen auch, daß manchmal, wenn wir uns endlich zu einer Handlung entschlossen haben, eine blitzartige Intuition kommt, die uns sagt, daß unsere sorgfältig ausgedachte Entscheidung dennoch falsch ist. Wer ist nun die wirkliche Person in uns: die auf Gefühle antwortet oder reagiert, oder ist es der Denker, oder gar der Erzeuger der Intuition? Der Mensch besteht aus alledem, aber darüber steht in ihm das Selbst, das direkt der Quelle des Seins entstammt, denn diese Identitätsfaser ist universal. Sie ist genauso verborgen wie die Radiowellen unhörbar sind, und zwar so lange, bis wir eine spezielle Wellenlänge einstellen und diese dadurch hörbar wird.
Mir scheint, daß jedes Atom unseres Körpers seine Aufgabe restlos erfüllt, obwohl diese präzise Tätigkeit unserer Aufmerksamkeit gewöhnlich entgeht. Liegt es da nicht nahe, daran zu denken, daß unsere eigene, uns unbekannte Intelligenz diese Vorgänge reguliert und überwacht? Auch die Impulse, die unseren Herzschlag und unsere Atmung bewirken, scheinen ebenfalls das Ergebnis aktiver Intelligenz zu sein. Es ist, als sei in jedem Tätigkeitsfeld Intelligenz am Werk. Angenommen, das Sonnensystem sei selbst ein Atom im Unendlichen - wie würde ein solches Wesen aussehen? Der menschliche Verstand könnte einen so ungeheuren Anblick sicherlich gar nicht erfassen. Könnte man es nicht auch "Gott" nennen? Weil wir einen bestimmten Ausgangspunkt für unsere Überlegungen brauchen und weil niemand diesen Ausgangspunkt bezeichnen kann, wurde der Ursprung des Lebens das Große Mysterium genannt. Indische Philosophen nannten es Tat, das bedeutet Es; Lao-Tse gebrauchte das Wort Tao, wobei er bezeichnenderweise hinzufügte, "aber was ich Tao nenne, ist, sobald ich es ausspreche, nicht mehr Tao, sondern schon etwas Definiertes!"
Überall um uns geben die Naturreiche das Beispiel für die Fortdauer des Lebens, und ich glaube, daß uns ähnliche Vorgänge helfen können, Begriffe wie Himmel und Hölle zu verstehen. Denken wir einmal an unsere Erfahrungen während der Nacht. Wir kennen den tiefen, anscheinend traumlosen Schlaf, während wir ein andermal völlig verwirrte Träume haben, an die wir uns am Morgen gut erinnern können. Auch schreckliche oder schöne Träume haben wir, die uns so wirklich erscheinen als hätten wir sie tatsächlich erlebt. Manchmal wird uns auch bewußt, daß wir träumen, so daß wir uns zum Wachwerden zwingen können, um bedrohlich scheinenden Erlebnissen zu entfliehen! Und gelegentlich haben auch bestimmte Ereignisse, die an einem aufregenden Tag passiert sind, Einfluß auf unsere Träume in der darauffolgenden Nacht. Wir nehmen das alles als natürlich hin. Könnten solche Vorgänge, nachdem sie sich in unserem normalen Leben ereignen, nicht überall in der Natur stattfinden? Könnten es nicht verschiedene Bewußtseinszustände sein, die alle verbunden sind, mit dem Selbst als Zentrum?
Wenn es die Reinkarnation wirklich gibt (und warum nicht?), dann könnte man den Tod mit dem Schlaf vergleichen und annehmen, daß zwischen zwei Existenzen auf der Erde eine Art Ruhepause eintritt. Wenn wir einmal den Ruhepunkt betrachten, der zwischen zwei Herzschlägen oder zwischen dem Ein- und Ausatmen eintritt, verspüren wir da in diesen stillen Augenblicken ein Angstgefühl? Protestieren wir in irgendeiner Weise gegen die notwendige Ruheperiode zwischen den Tagen, wenn wir am Abend in Schlaf fallen? Normalerweise erinnern wir uns gar nicht genau, wann wir einschliefen. Wiedergeburt wäre demnach eine Rückkehr zu den Feldern der Tätigkeit, auf denen wir einst gesät haben, um nun die Ernte einzuholen und neue Erfahrungen zu machen. Man kann den Vergleich noch weiter ausdehnen und die Zeit zwischen zwei Leben auch als ein Intervall bezeichnen, in dem wir träumen und assimilieren. Die Kirchenväter der Frühzeit nannten es Himmel und Hölle, stellten sich darunter aber Orte der Belohnung und der Strafe vor. Für mich jedoch sind Himmel und Hölle Bewußtseinszustände, die ganz von uns selbst geschaffen wurden.
Vielleicht liegt auch die Annahme nahe, daß, so wie jeder Same die Möglichkeit des Keimens in sich trägt, auch die Samen unserer Gedanken und Bestrebungen sich, nachdem wir die Erde verlassen haben, zur gegebenen Zeit entfalten. Die Samen sind nun von jenen Fesseln befreit und beginnen sich zu entfalten und blühen und werden so für das Auge der Seele sichtbar, wie eine Filmprojektion. Da jeder Mensch viele Gedanken hegt, die schlimmsten wie die besten, so können wir uns vorstellen, daß die Gesamtschau in jedem Falle anders ist und stark variiert. Wenn wir also vernünftig sind, so schlafen wir ziemlich entspannt. Wenn nicht, dann haben wir vielleicht ab und zu Alpträume. Aber die Dämmerung wird kommen, und mit ihr ein neuer Tag, an dem wir lernen und versuchen können, richtig zu leben und rechte Samen zu säen. Da im ganzen Universum nichts statisch ist, kann es auch keinen statischen Zustand eines Himmels oder einer Hölle geben, sondern nur zeitweilige Träume und danach eine neue Gelegenheit in einem neuen Leben.
So betrachte ich das Leben, den Tod und den Ursprung des Daseins, aber jeder Mensch muß seine eigenen Beweise finden und dann danach leben. Jede große Religion ist eine Bemühung, einen Aspekt des Großen Mysteriums auszulegen, obgleich ihre heutigen Lehren nicht notwendigerweise den ursprünglichen Impuls widerspiegeln, der diese Religion ins Leben gerufen hat. Dennoch steigt die menschliche Rasse Schritt um Schritt die endlose Leiter der Evolution empor und wird immer mehr und mehr davon verstehen lernen, was das Leben ist und welche Rolle der Mensch darin spielt.