Ein Augenblick der Ewigkeit
- Sunrise 6/1969
Bei einem Ausflug an den Cedar Fluß in Iowa wären meine Mutter und ich beinahe ertrunken. Ich war damals natürlich zutiefst erschreckt, aber nur ganz kurz. Jetzt, nachdem das Entsetzen überwunden ist und ich mich daran erinnere, sehe ich, daß das Erlebnis für mich eine Offenbarung für mein ganzes Leben war.
Wir waren zwei Familien, hatten unsere Zelte aufgeschlagen und uns die entsprechenden Dinge zur Bequemlichkeit mitgebracht, wie Liegestühle, Wolldecken, Feldbetten und einen guten Ofen. Frisches Gemüse, Brot, Eier, Butter und sogar Fleisch war bei einem benachbarten Farmer eingekauft worden, so daß unsere idyllische Zufriedenheit nicht durch Einkäufe in der entfernten Stadt gestört zu werden brauchte.
Für mich war alles herrlich: Das Ungewohnte, auf dem Lande zu sein, frei zu sein von zu Hause und vom Schulzwang, der angenehme Geruch der Wälder und in der Nacht der geheimnisvolle Chor der Insekten, Frösche und schlaftrunkenen Vögel außerhalb unserem behaglichen Zelt.
Über unserer Traumwelt gab es nur eine einzige Wolke, die Warnung unseres befreundeten Farmers, beim Baden nicht zu weit den Fluß hinabzuschwimmen. "Gerade bei der Biegung ist eine Untiefe", sagte er. "Wenn dort einer von Ihnen hineingerät, wird er Schwierigkeiten haben wieder herauszukommen."
Als die anderen an dem Nachmittag, an dem wir das Mißgeschick hatten, sich genügend im Wasser ausgetobt hatten und zum Lager zurückkehrten, blieben Mutter und ich noch zurück. Mutter machte im Schwimmen Fortschritte, konnte aber doch noch nicht ganz sicher schwimmen. Ich, eine neun Jahre alte Anfängerin, konnte umherplanschen bis der Atem ausging. Dann mußte ich meine Füße auf festen Boden stellen und wieder von neuem beginnen.
Ich stand im Wasser und schaute der Mutter zu. Da sah ich, wie sie eine seltsame Bewegung machte und untertauchte. Ich hatte schon etwas von Krämpfen gehört. Vielleicht hatte sie eben einen. Ich stand in ihrer Nähe und drängte durch das Wasser vorwärts, um ihre Hand zu fassen. Auf einmal ging ich auch unter. Wir hatten nicht beachtet, wo wir waren und befanden uns an der Biegung. Ich versuchte zu schwimmen, aber ich hatte Wasser geschluckt und drohte zu ersticken. Ich hielt mich nur kurz an der Oberfläche.
Das Gefühl, wie sich meine Lungen füllten, war schrecklich. Aber es dauerte nicht lange, dann wurde das Unbehagen durch einen Zustand der Entspannung verdrängt, einer Entspannung, die sich so sehr steigerte, daß mein Körper von mir abzugleiten schien und dafür nur ein intensives Bewußtsein zurückließ. Ich wußte, daß ich ertrank (vielleicht war ich schon nicht mehr am Leben), aber ich fürchtete mich nicht. Ich hoffte, meine Mutter würde schwimmen können und das Ufer erreichen. Und dann wendete ich mich leidenschaftslos einem Überblick vergangener Dinge zu, glücklichen Erlebnissen daheim, unter anderem sah ich, wie ich versuchte, mit meiner Violine im Familienorchester mitzuspielen, sah mich meine Bücher in einer ruhigen Ecke im Hause lesen (ich zog Lesen dem Zeitvertreib im Freien vor) und mit meinen Puppen die kleinen Spiele spielen, die ich mir für sie erdacht hatte.
Mit neun Jahren gibt es natürlich noch keine lange Rückschau. Die Tatsache, daß ich ertrank und die Folgen, die sich daraus ergaben, machten sich wieder geltend. Ich sah mein leeres Schreibpult in der Schule und meine Klassenkameraden ohne mich. Dann sah ich mein Shetland Ponie und wußte, daß es nun zu meinem Bruder gehen mußte. Und auch meine Begräbnisfeier in unserer hübschen Kirche sah ich. Dieses Bild war nicht deutlich. Ich wußte nur, daß Leute da waren und die Veranstaltung mir galt. Es war aber nicht schmerzlich, nicht einmal traurig. Alles, was ich sah, war natürlich und wurde von mir ruhig hingenommen.
Ich bewegte mich einen Bewußtseinskorridor entlang. Hier gab es nichts zu erkennen, und dennoch fürchtete ich mich nicht. Ich spürte große Befriedigung, mich den Umständen meiner Lage und einer sicheren, unsichtbaren Führung anzuvertrauen.
Alsbald wurde mein Weg breiter und es wurde hell. Das Licht wurde stärker und dehnte sich zu einer Atmosphäre von strahlendem Glanz aus. Es hüllte mich vollkommen ein, oben, unten und ringsherum. Es war nichts anderes mehr da, nur das Licht und ich. Und immer noch ging ich den Korridor entlang. Dann kam ein Vorgefühl über mich, die Erwartung auf etwas, das mir beim Weitergehen enthüllt werden sollte, etwas Angenehmes und nicht Fremdes, dem ich ganz bereitwillig entgegenging.
Was mir enthüllt worden wäre, sollte ich jedoch nicht erfahren. Über meinen vorübergehenden Aufenthaltsort senkte sich ein Vorhang. Ich wurde jäh an einen Ort neben einem offenen Feuer versetzt, wo ich in Decken gehüllt lag und Gesichter über mir sah. Die Mutter war da und auch die anderen. Ich war in meine alte Welt zurückgekehrt, aber die neue, die ich eben verlassen hatte, war auch noch da, fühlbar, losgelöst und genauso wirklich wie der Platz neben dem Feuer. Ich wußte, daß sie verblassen mußte und blickte wehmütig auf sie zurück und wünschte nur, ich hätte meine Reise fortsetzen können. Gleichzeitig begriff ich natürlich, daß ich nicht zurückgehen konnte. Jetzt noch nicht.
Das volle Bewußtsein kehrte schnell und ohne Schreck zurück. Man berichtete mir, wie ich gerettet wurde. Mutter war einige Meter über die Untiefe hinweg an einen Fels unter dem Wasser geschwemmt worden, wo sie versuchte Halt zu bekommen. Durch den göttlichen Instinkt, der Müttern ihren Kindern gegenüber gegeben worden ist, war sie in der Lage, mich beim Haar zu fassen, als ich beim Untergehen an ihr vorbeitrieb. Während sie um Hilfe rief, hielt sie ihren und meinen Kopf über Wasser. Zwei kräftige Schwimmer aus unserer Gruppe brachten uns ans Ufer.
Ich habe den Zustand jenes unbeschreiblichen Friedens, in dem ich an diesem Nachmittag kurz lebte, nie mehr vergessen. Als Kind konnte ich es nicht so erkennen, noch weniger konnte ich es benennen. Jetzt weiß ich, es war - ein Augenblick der Ewigkeit. Mir wurde klar, daß ich eine Erfahrung durchlebt hatte, die mehr offenbarte, als den meisten Menschen gewährt wird, denn wenn ich später auf vielen Gesichtern die Todesfurcht sah, die Furcht vor dem Ungewissen, hatte ich diese Furcht nicht. Ich hatte den Tod zumindest zum Teil kennen gelernt und habe gesehen, daß nichts Furchterregendes dabei war. Seitdem brauche ich mir nur das Vertrauen und den Glauben ins Gedächtnis zurückzurufen, die mich damals auf meinem Weg dahin begleiteten, und ich lächle innerlich mit dem Wissen, das ich besitze.
Der verstorbene Dr. Robert Norwood, ehemaliger Rektor der St. Bartholomäus Kirche in New York, sagte in seinen Fastenpredigten, daß unser Leben auf diesem Planeten nur ein Heraustreten aus der Ewigkeit in Zeit und Raum hinein ist, um die Erfahrung einer Existenz zu machen, die sozusagen eine "Zwischenstation" in der Reihe vieler Existenzen auf vielen Planeten ist.
Er sagte: "Wir müssen aufhören vom Tod zu sprechen, denn es gibt keinen Tod. Die Seelen gehen von Leben zu Leben, von Ort zu Ort ... und entwickeln sich dabei." Geburt und Tod werden zu Episoden im ewigen Leben der Seele.
Für mich ist das, was Dr. Norwoods predigte, daß wir nämlich in diesem wiederkehrenden Zyklus der Ewigkeit leben, logisch. Und ich habe diese Botschaft auch selbst an anderer Stelle gelesen, in den Worten von Jesus, von Plato und in den Schriften der Alten und später in den Äußerungen von Gelehrten und Suchern bis in unsere Zeit. Es mag jedoch sein, daß diese Philosophie für viele andere nicht annehmbar ist, und ich will sie auch niemandem durch Argumente aufdrängen.
Aber das weiß ich: Meine Begegnung mit dem Tod, meine Erfahrung beim Ertrinken, hat mir ein unschätzbares Geschenk hinterlassen, die Überzeugung, daß mein Abschied von diesem Leben nicht problematisch ist, sondern daß er, wenn der Augenblick kommt, ein leichter und widerstandsloser Übergang sein wird, der von einem friedlichen und bedingungslosen Bewußtsein begleitet sein wird, wie ich es vor langer Zeit an jenem Nachmittag hatte, als ich zwischen zwei Welten im Cedar Fluß lag.