Das Haus, in dem ich wohne
- Sunrise 5/1969
Niemand kann leugnen, daß sich die Maßstäbe für spirituelle Werte in den letzten Jahren von Grund auf geändert haben. Die wissenschaftlichen Angriffe auf die unhaltbaren Thesen der Theologie des neunzehnten Jahrhunderts hat die Blindgläubigkeit des Dogmatismus weitgehendst zerstört. Gleichzeitig haben sie aber auch dazu beigetragen, die Hochachtung vor geistigen Dingen zu mindern. Die Wissenschaft läßt die Menschen annehmen, daß sie nichts weiter als weiterentwickelte Tiere seien. Trotz der bemerkenswerten Fortschritte auf vielen Gebieten des Wissens und trotz des in mancher Hinsicht größeren Überblickes hat sich unsere allgemeine Vorstellung vom Sinn und Zweck des menschlichen Daseins nicht sehr geändert. Die Äußerungen des britischen Dichters Alfred Noyes, die er kurz nach dem Ende des ersten Weltkrieges in einer Ansprache gemacht hat, könnten auch heute noch gelten. Vor einem Jugend-Club sagte er:
Unsere sogenannten Intellektuellen beschäftigen sich entweder mit der Zerstörung des alten Glaubens, oder wenn sie schon konstruktiv sind, dann sind ihre Anstrengungen nur darauf beschränkt, unser bürgerliches oder nationales Leben wirtschaftlich leistungsfähiger zu machen. Stillschweigend wird daher von ihnen angenommen, daß es darüber hinaus nichts weiter gibt, und daß die ganze, viel gerühmte Herrlichkeit unseres Fortschrittes letzten Endes zum Untergang verurteilt ist. Wenn unser Körper wieder zu Staub wird, dann wird die menschliche Seele wahrscheinlich wie eine Flamme verlöschen.
Sie haben das ganze Universum unterteilt, indem sie jede höhere Stufe als das Produkt der niederen ansehen. Der Mensch stammt vom Affen ab, der Affe vom Fisch, und der Fisch entsteht aus dem Protoplasma. Zum Schluß kommt dann noch die feierliche Diskussion darüber, ob die Kluft zwischen dem Protoplasma und dem Nichts nicht gerade von dieser Wissenschaft zu überbrücken ist. Von einer Wissenschaft, die doch davon überzeugt ist, daß das Größere niemals vom Geringeren erzeugt werden kann.
Hiermit haben Sie im großen und ganzen in wenigen Worten die Einstellung, die ein großer Teil unseres modernen Intellektualismus dem Universum gegenüber einnimmt. Indem wir den Glauben an eine Höchste Macht verloren haben, eine Macht, die uns gleicht, jedoch größer ist als wir, und die uns erzeugt, haben wir auch den Glauben ... an die Unsterblichkeit des göttlichen Geistes im Menschen verloren und damit auch den Sinn für das Streben nach dem Höchsten Ziel.
Zur Bestätigung könnten noch hundert ähnliche Ausführungen führender Schriftsteller und Denker zitiert werden. Die gesellschaftliche Ordnung zerfällt in vielerlei Hinsicht durch ihren eigenen Ballast, aber über den wirklichen Weg zum Fortschritt ist die Welt so unwissend, daß von Millionen die absonderlichste Scharlatanerie gierig angenommen wird. Wenn uns die gegenwärtigen, beunruhigenden Zustände auch gut bekannt sind, so können wir doch hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Die Frage ist: Entstehen diese Symptome der Unrast durch den Kräfteverfall eines erschöpften Körpers oder sind sie in Wirklichkeit die natürlichen und unvermeidlichen 'Wachstumsschmerzen' in der Seele der Menschheit, die beständig in neue Bereiche der Erfahrung vordringt?
Wer bin ich? Welcher Teil von mir ist wirklich und welcher ist vergänglich? Wir müssen die Dualität der gesamten Natur verstehen, den Menschen eingeschlossen: daß in uns sowohl ein Engel als auch ein Dämon wohnt, und daß wir zuerst unser eigenes Haus in Ordnung bringen müssen, wenn wir das menschliche Los verbessern wollen, ehe wir daran gehen können, in den Häusern unserer Nachbarn Ordnung zu schaffen. Eine einfache Wahrheit, die jedes Kind begreifen kann. Stellt sich die Kraft des Willens auf die Seite des Höheren Selbstes, und lernen wir, unseren eigenen Willen zur Selbstüberwindung zu gebrauchen, dann werden wir für unsere Umgebung automatisch zu einer Kraft für das Gute. Ganz nebenbei können wir dann noch feststellen, daß wir viel glücklichere Menschen sind, als all die vielen unbeherrschten, ängstlichen, egozentrischen Männer und Frauen unserer Zeit.
Haben die Materialisten recht, wenn sie behaupten, der Körper, dieses Bündel aus chemischen Elementen, Nervensträngen und Lebenskräften, sei der Mensch? Oder ist dieses Konglomerat nur das Haus, in dem ich wohne - das wirkliche Ich, das dessen zeitweiliger Besitzer ist? Sind die verschiedenen Faktoren, von denen wir annehmen, daß sie von uns untrennbar sind, wie z. B. unsere Gefühle und ein großer Teil unserer mentalen Vorgänge, nichts weiter als unsere 'Diener'?
Wir müssen hier einen sorgfältigen Unterschied machen zwischen dem Haus mit allem Zubehör, wozu auch die Helfer gehören, und dem Eigentümer. Jeder von uns hat, während unserer langen Entwicklung auf diesem Globus, viele Wohnstätten gehabt. Manche waren äußerst primitiv, Lehmhütten oder Höhlenwohnungen. Andere wiederum waren kultiviert. Einige waren sehr beengt, mit niedrigen Decken und wenigen Fenstern, finster und unbequem, während wir ein andermal, vielleicht mit viel Mühe, ein ziemlich geräumiges, stattliches Wohnhaus gebaut haben. Nie war es uns jedoch möglich längere Zeit dort zu verbleiben. Im großen und ganzen gesehen wurden unsere Wohnstätten nach vielem Auf und Ab jedoch allmählich besser.
Eines steht fest: wurden die sogenannten Diener des Hauses zu Tyrannen, dann hatte der Herr recht unangenehme Mitbewohner. Es war aber sein eigener Fehler, wenn er aus Nachlässigkeit, Trägheit oder aus reiner Freude an niedriger Gesellschaft seinen Untergebenen oftmals erlaubte, sich den Platz anzueignen, der ihm rechtmäßig zustand. Schließlich lernt er jedoch, daß er sie, wenn er seinen Willen anwendet, durch richtig geforderte Disziplin gefügig machen kann und daß er die arroganten Diener zu hervorragenden Helfern umzuwandeln vermag. Er entdeckt, daß sie nicht nur bereitwillig sind, sondern daß auch die Zeit kommen wird, wo er sie einladen kann, mit ihm am Tisch zu sitzen, überzeugt, daß sie sich richtig benehmen und ihm vor seinen Freunden keine Schande bereiten werden. Sieht er sich um, so bemerkt er bei anderen Hauseigentümern, daß nicht alle so glücklich sind wie er. Manche stehen so restlos unter der Herrschaft ihrer Dienstboten, daß sie verborgen in der Bodenkammer oder im Keller hausen müssen. In einem oder zwei Fällen wurde der Besitzer sogar ganz aus seinem Haus vertrieben.
Bei den meisten Religionen herrscht die Vorstellung, daß das unsterbliche Selbst des Menschen weit über dem gewöhnlichen Menschen steht, über Herrn A oder Frau B, so wie der Wohnungsinhaber weit wichtiger ist, als seine Wohnung. Das ist die erhabenste Lehre der Hoffnung und des Trostes, aber Millionen sehen das nicht. Sie werden weiter an dem pessimistischen Glauben festhalten, daß das Haus und sein Besitzer ein und dasselbe seien. Es ist eigenartig, daß das Erkennen unserer höheren und unserer niederen Eigenschaften so gänzlich unklar sein soll, denn alle Weltlehrer haben versichert, daß das Göttliche im Innern zu suchen ist. Jesus sagte: "das Königreich des Himmels ist in euch" und "ihr seid Götter". Dennoch finden wir immer noch ernsthafte Menschen, die jenen ehrerbietige Aufmerksamkeit schenken, die erklären, daß Erlösung nur von außen kommt, durch Hingabe an irgendeinen Gott - an welche besondere Gottheit, das hängt davon ab, auf welchem Teil des Globus man gerade lebt.
Da es unsere Gewohnheit ist, die Ergebnisse der Studien und Gedanken über das gesamte Wesen des Menschen, die schon Zeitalter vor uns gemacht worden waren, überhaupt nicht zu beachten, sind uns große Werte verlorengegangen. Sicher wissen wir mehr über Sprengstoffe und den Schnellverkehr, aber die Alten wußten dafür mehr über den spirituellen Menschen und seine Beschaffenheit. Ihre Denker, die den Dingen auf den Grund gingen, betrachteten ein solches Wissen nicht als überholt oder unpraktisch, sondern sie sahen vielmehr darin einen klärenden Faktor, um den Prüfungen des täglichen Lebens begegnen zu können. Von den religiösen Philosophien Ägyptens, Indiens und Persiens, und bis zu einem gewissen Grade auch von den griechischen und römischen Klassikern können wir viel über unsere aus mehreren Teilen zusammengesetzte Konstitution erfahren. Paulus, von dem man sagt, daß er in die Mysterien eingeweiht war, schreibt von drei Prinzipien und weist auf weitere vier hin. Dadurch zergliedert er die sieben Prinzipien der alten Tradition, die allgemein als ein Ganzes dargestellt sind. Die Vorstellung von sieben Prinzipien im Menschen bedeutet natürlich nicht, daß wir sieben isolierte 'Seelen' haben. Es ist dies nur ein Mittel, um die Tatsache auszudrücken, daß der eine Geist durch verschiedenartige Stufen des Bewußtseins und Zustände der 'Materie' wirkt, die auch "Hüllen der Seele" genannt worden sind.
Der niederste und vergänglichste Teil ist der physische Körper, der seinerseits die äußere Hülle für ein feineres Prinzip ist, für eine Art ätherisches Modell, das die physischen Atome lenkt, und diese zwei, beseelt durch die Lebensessenz oder den lebenspendenden Atem, bilden ein wirksames Hilfsmittel zum Nutzen der Seele, während sie auf Erden inkarniert ist. Unsere Wünsche stellen unser mittleres oder viertes Prinzip dar, die treibende Energie, die wiederum vom nächst höheren Prinzip, dem Gemüt, beherrscht wird. Hier, auf dem Schauplatz des Gemütes, ist die zweifache Beschaffenheit unserer siebenfachen Natur am augenscheinlichsten, denn das selbstbewußte Gemüt - jene Eigenschaft, die das menschliche Reich vom Tierreich unterscheidet - ist der Bereich des Denkers, dessen edlere Seite zu den zwei höchsten Prinzipien, dem spirituellen und dem göttlichen hingezogen und von ihnen inspiriert wird. Sein niederer Aspekt jedoch, der unsere gewöhnliche Persönlichkeit bildet, wird nur zu oft durch Leidenschaften und Begierden herabgezogen. Deshalb wird die Seele oftmals bildlich als Pilger auf einem Schlachtfelde dargestellt. Der überschattende Christos, das erleuchtete Höhere Selbst, kämpft dabei mit den tierischen und selbstischen Neigungen.
Ein Beispiel aus den alten Lehren Ägyptens soll zeigen, wie gut die damaligen Philosophen die höhere Psychologie kannten. Sie hatten für jede Seite der inneren Natur des Menschen einen bestimmten Namen, und sie gebrauchten diese beständig in ihren heiligen Schriften. Für moderne Gelehrte ist es nicht leicht, die feinen Unterschiede in der Bedeutung zu erfassen, die mit diesen speziellen Ausdrücken verbunden sind. Sie werden jedoch verständlicher, wenn man die Namen mit ähnlichen Begriffen vergleicht, die sowohl in kabbalistischen Büchern zu finden sind, als auch in jenen, die aus Indien kommen oder die von Zarathustra stammen.
Das Hauptprinzip in der ägyptischen Klassifizierung ist das Herz, der Sitz des Verlangens und Empfindens. Es hat zwei Namen, Ab und Hati. Ab ist das Herz des Gottes des Lichtes und der Weisheit, während Hati die Welt der Sinne regiert. Das eine ist göttlich, das andere irdisch. Über dem Herzen stand das Gemüt und die höhere Seele, und noch höher das Prinzip, das den Menschen mit dem Universalen, dem göttlichen Geist verband. Unterhalb des Herzens befand sich die Lebenskraft, das organisierende Astrale und das Physische. Es gibt Bilder vom Vogel Bennu (dem Phönix) auf einem Balken, der gelassen die verschiedenen symbolischen Personifizierungen unter ihm betrachtete. Der Bennu bedeutet das unsterbliche Höhere Selbst, das sich selbst beständig erneuert, so wie auch der mythische Phönix wiederbelebt aus der Asche des Feuers hervorgeht, das ihn periodisch verzehrt.
Zum leichteren Verständnis können wir diese sieben Prinzipien in zwei größeren Teilen zusammenfassen und von unserem reinkarnierenden oder fortdauernden Element sprechen, das aus zwei Gründen eine irdische Verkörperung sucht: um den von ihm selbst errungenen Einfluß zu festigen, und um gleichzeitig die Samen des Ewigen in der persönlichen Natur zu nähren, damit auch sie im Verlaufe der Zeit Unsterblichkeit erlangen können.
Wenn wir ernstlich daran gehen, die zukünftigen Wohnungen für unser wahres Selbst zu bauen, liegt eine der mächtigsten Kräfte in unseren Händen: die durch den Willen zu schöpferischer Tätigkeit angespornte Kraft der Imagination. Wenn sie konstruktiv angewandt wird, werden wir keine Schwierigkeiten haben, unsere schönsten Ideale zu verwirklichen. Statt ungestüm in äußeren Methoden Hilfe zu suchen, werden wir uns nach innen wenden. Wir werden dann begreifen, daß der Wunsch nach Vervollkommnung, nach einem Umschwung der Zustände in der Welt zum Besseren hin, in uns selbst seinen Anfang hat. Unsere Imagination, die durch das Licht im Herzen inspiriert ist, wird ein Bild von etwas Erhabenem und Schönem schaffen, wie wir kaum glauben, es jemals erlangen zu können, und dann, vielleicht unerwartet, kommt es so geräuschlos wie "ein Dieb in der Nacht", wenn man dem Ruf zu handeln gefolgt war. Anfangs scheint es unmöglich, die Anstrengung durchzuhalten. Es ist ja viel leichter, in den alten gewohnten Geleisen fortzufahren. Wenn aber die ersten Schritte zur Selbstbemeisterung einmal getan sind, bringt uns jeder weitere Schritt dem Ziel näher.
Wir aber sind es, die wachsen müssen. Glaube ohne Taten ist fruchtlos. Hätten wir dem einen Gebot Jesu Folge geleistet: Liebet einander, anstatt unser Erbe durch Schaffung von Glaubensbekenntnissen und mit Religionskriegen zu verschwenden, wie anders würde unsere Welt heute aussehen. Trotzdem besteht kein Grund zur Mutlosigkeit. Wir haben gegenwärtig eine ungewöhnliche Gelegenheit, die jungen Pflanzen des Universalismus zu pflegen, die in allen Teilen der Erde zum Licht streben. Das Naturgesetz hilft uns dabei, denn wir leben in einer Übergangsperiode der Zeitrechnung unseres Sonnensystems. Die Astronomie berichtet, daß die Reise der Sonne durch den Zodiakus im großen Präzessionszyklus von 25 920 Jahren vor sich geht. Gegenwärtig verläßt die Sonne das Zeichen der Fische, wo sie die christliche Ära hindurch war. Jetzt tritt sie in das Zeichen des Wassermannes, in das Zeichen des Mannes mit dem Wasserkrug, ein. Nach altem Glauben ist der Übergang des Sonnengestirnes von einer zodiakalen Erfahrung in eine andere immer von markanten Veränderungen in den Gemütern der Menschen begleitet. Die Unruhe auf dem ganzen Globus, der Zusammenstoß der Ideologien, der unruhige und streitbare Aufruhr unter der Jugend - gerade all das ist es, was zu erwarten ist. Es sind die unvermeidlichen Geburtswehen, die der spirituellen und moralischen Reform vorausgehen. Wenn wir der Herausforderung standhalten, ohne von unserer grundlegenden Integrität abzuweichen, dann kann die Menschheit im kommenden Jahrhundert einem unendlich besseren Schicksal entgegensehen. Eine Entdeckung nach der anderen wird sich vor ihr auftun, und die Bruderschaft aller Völker wird zu einem führenden Faktor im Weltbewußtsein werden.