Aus eingegangenen Briefen – Leeuwarden
- Sunrise 4/1969
Leeuwarden, Niederlande, 16. Oktober 1966
Schon lange hatte ich die Absicht, Ihnen zu schreiben. Wir führen ein ruhiges Leben, doch unsere Gedanken sind fortgesetzt in Tätigkeit und SUNRISE schenkt uns manche Stunde der Erbauung, der Dankbarkeit und des tiefen Verstehens.
Man kann so viele interessante Bestrebungen in den Nachrichten und im Fernsehen beobachten. Wir hören oft den Debatten zwischen Gruppen junger Leute und einem Pfarrer oder Priester zu. Es scheint ihnen schwer zu fallen, diesen jungen Leuten zufriedenstellende Antworten zu geben. Die meisten haben eine sehr positive Einstellung und glauben aufrichtig, daß jeder einzelne lernen muß, selbst über diese Angelegenheiten zu bestimmen. Das alles hören wir gern.
Neulich bat ein Lehrer an einer Volksschule irgendwo in unserem Lande seine Schüler, zwei Aufsätze zu schreiben. Einen über "Vater" und den anderen über "Mutter". Später bei einem Schultreffen erhielten die Eltern diese Aufsätze zur Einsicht. Ich kann mir gut vorstellen, daß ihr Gesichtsausdruck deutlich zeigte, welchen Spiegel ihre Sprößlinge ihnen vorhielten. Ohne Zweifel freuten sich einige, die Ansichten ihrer Kinder zu lesen, sahen sie doch dabei die frohe Atmosphäre einer Familie wiedergegeben, in der die Eltern noch Zeit und Geduld haben, ihre Kinder zu lieben und ihnen bei ihren Spielen und Hobbys zu helfen, wo miteinander etwas getan wird und wo auf gemeinsamen Landausflügen ein tiefes Interesse für die Natur und das Leben übermittelt wird.
Es gab aber auch Eltern, die ärgerlich waren und den Lehrer dafür verantwortlich machten, daß sie sich auf diese Art beleidigt fühlten. Es ist leicht verständlich, welche Darstellung von ihrem kleinen Völkchen gegeben worden war. Vor dem Lehrer fühlten sie sich beschämt, aber sie hatten nie daran gedacht, sich vor ihren Kindern beschämt zu fühlen!
Das erinnert mich an ein Gespräch, das ich vor kurzem mit meiner 82jährigen Mutter hatte. Sie erzählte mir, daß sie jetzt erst gewahr wurde, wieviel wirkliche Freude es gegeben hatte, als die Arbeitstage lang und die wirtschaftlichen Verhältnisse schwierig waren, als Plage und Sorgen das Denken ausfüllten. Wenn es auch wenig Freizeit gab, so sprachen all die wunderschönen Erlebnisse bei der Vorbereitung kleiner Überraschungen für die Familie, die gemeinsam erlebte Zeit der Fröhlichkeit von gegenseitiger Zuneigung und innerem Glück. Diese Zeit schärfte den Geist ebenso wie die handwerklichen Fertigkeiten. Und ich, jetzt selbst eine Großmutter, erinnere mich, wie mein Vater mich die Anfangsgründe des Geigenspiels, des Malens und des Schlittschuhlaufens lehrte. Er selbst spielte die Flöte, und oft widerhallten die damals noch unberührten Wälder von ihren wunderschönen und doch sanften Klängen, so daß die Vögel zuhörten und mit Gesang antworteten. Dies ist die Zeit in unserem Leben, die wir nie vergessen.
Zu Beginn des Frühlings, wenn die Vögel unermüdlich vom frühen Morgen bis in die Dunkelheit des Abends hinein fliegen, um ihre Jungen mit Nahrung zu versorgen, sind ihre unordentlichen, matten Federn beredte Zeugen ihres Instinktes, von sich etwas ihren Jungen zu geben. Diese Selbstvergessenheit bringt den Menschen auf den Weg der wahren Hingabe, die wir auch die Liebe nennen. Trotz unserer vielen Fehlschläge gibt es überall um uns herum rührende Beispiele aufrichtiger Hingabe von Eltern, deren segensreicher Einfluß in jeder nachkommenden Generation, wie in der Alchimie, unergründlich in ihrer Reichweite zu spüren ist. Wer und was Eltern sind, ist von weitaus stärkerem Einfluß als wir allgemein annehmen. Die angenehmen, aber auch die unangenehmen Erlebnisse verlieren nie ihre Wirkung. Wenn alle Eltern sich der Gelegenheiten bewußt wären, daß sie ihren Kindern eine Erbschaft von unschätzbarem Wert mitgeben, indem sie nur auf einfache und fröhliche Weise leben und arbeiten, so könnte dies das ganze Weltbild zum Guten beeinflussen.