Briefe aus Deutschland
- Sunrise 3/1969
Was tut not in der Welt? Man kann diese Frage vom materiellen oder physischen Standpunkt aus betrachten, wie: Sorge für die Alten und Kranken, Führung der Kindergärten und einige ähnliche Aufgaben in unserer eigenen Umgebung oder weiter entfernt die Situation in Biafra und das Problem der Hungersnot in der Welt oder der Geburtenüberschuß und die Pille. Man kann diese Frage aber auch vom spirituellen oder geistigen Standpunkt aus betrachten.
Ich denke dabei an die Jugend, die so sehr nach Erkenntnis hungert. Sie gibt sich nicht zufrieden mit dem, was wir ihr mit unserer jahrhundertealten Religion zu bieten haben. Sie sucht nach neuen Reformen, nach neuen Perspektiven. Die Wissenschaft ist heute sehr weit fortgeschritten und hat noch ein unendliches Gebiet vor sich, während die Religion auf ihrem dogmatischen Standpunkt verharrt. Damit will ich nicht sagen, daß die Lehren Christi heute keine Gültigkeit mehr haben, aber der beengte Horizont und die starte Form, in der sie dargeboten werden, können die nach Wahrheit suchende Jugend nicht befriedigen. Es ist so schwer für die jungen Menschen, sich zu einer eigenen Meinung durchzuringen. Sie bringen bestimmte Charaktereigenschaften und Erfahrungen aus früheren Leben mit und sind jetzt den Einflüssen ihrer Umgebung und den gutgemeinten Lehren und Ratschlägen ihrer erziehungsberechtigten Eltern und Lehrer ausgesetzt. Sie sehen die Religion als veraltet an; sie suchen nach einer Wahrheit, die ihnen ein umfassenderes Weltbild verschafft.
Ich kann die Jugend verstehen, weil es mir selbst einmal so ergangen ist, daß mir weder die Kirche noch die Eltern oder Lehrer Antwort geben konnten auf meine brennenden Fragen. Aber ich habe das Wort Christi an mir erfahren:
Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.
Wenn mich heute jemand fragt, was ich gefunden habe, so könnte ich viel darüber erzählen. Aber wozu sollte das gut sein? Es ist nicht das, was die Welt benötigt. Sie braucht ein neues religiöses Weltbild, das der kommenden Menschheit eine spirituelle Grundlage für ihr Leben auf dieser Erde gibt. Insofern hat die Jugend recht, wenn sie nach einer neuen Reform ruft. Und wenn ein älterer Lehrer sagt: "Ich habe schon so viele Reformen in meinem Leben mitgemacht, dann kann ich diese mal auslassen", dann würde ich ihm antworten, daß er dann vielleicht den wichtigsten Anschluß an die Zukunft verpassen wird. Die Welt ist in einem Umbruch, wie sie ihn vielleicht seit Jahrhunderten nicht erlebt hat. Aber es wird noch viel niedergerissen werden und es müssen noch viele alte Geleise unserer Gedanken und Gewohnheiten abgebaut werden, ehe eine neue Reform Fuß fassen kann.
Was beunruhigt die jungen Leute am meisten? Mich würden ihre Zweifel über Gott und das Christentum und die sich daraus ergebenden Fragen interessieren. Stellen sie überhaupt Fragen nach dem Sinn des Lebens oder stellen sie einfach alles in Abrede? Was wäre dann nach ihrer Meinung die Kraft oder der Lenker, der alles in seinen Bahnen hält; der der Sonne und den Sternen ihren Platz im Universum zuweist, der die Menschen ihre Erfahrungen auf dieser Erde sammeln läßt und zu welchem Zweck?
Ich finde, daß ein Austausch dieser Ideen eine gute Basis bildet zum gemeinsamen Denken. Wenn wir auch mehr oder weniger fest und tief in unserem christlichen Glauben verwurzelt sind, so sollte das kein Hindernis sein, einmal die Schranken niederzureißen, die wir uns selbst gebaut haben, um einen Blick hinter die Schleier der Erkenntnis werfen zu können.
Wir alle wissen, daß wir das Los der Menschen, das auch unser eigenes Los ist, nicht von heut auf morgen ändern können. Die Evolution nach dem göttlichen Plan vollzieht sich schrittweise. Und der Mensch steht in seiner Entwicklung, relativ gesehen, in der Mitte zwischen dem Atom und der Galaxis. Die menschliche Rasse ist auf diesem Planeten schon Millionen Jahre alt und hat sich stufenweise von einer unbewußten Wesenheit zum selbstbewußten Individuum entwickelt. Das Fernziel der menschlichen Entwicklung ist, den Gottesfunken in sich zu erkennen und immer mehr zum Ausdruck zu bringen. Das ist ein erhabener Ausblick, aber dieses Wissen um das hohe Ziel allein macht noch keine Engel aus uns.
Unsere erste Aufgabe ist es, daß wir unsere täglichen Pflichten in der besten Weise erfüllen; Herz und Gemüt für unsere Mitmenschen offen halten, ohne uns in ihre Angelegenheiten einzumischen; helfen, wo Hilfe nötig ist, ohne uns dabei aufzudrängen oder die Erfahrungen des anderen zu gefährden. Wir müssen lernen, uns in unsere Mitmenschen hineinzudenken, zu fühlen, wie sie fühlen, denn sie sind ein Teil von uns, wie wir ein Teil von ihnen sind. Kein Mensch steht für sich allein. Wir müssen in der Jugend das Bestreben erkennen, sich selbst zum Ausdruck zu bringen, denn auch sie sind Gottes Kinder und bringen vielleicht eine größere Erkenntnisfähigkeit mit, als wir sie haben.
Wie tief verwurzelt wir auch in unserem eigenen Glauben sind, sollten wir doch offenherzig genug sein, ein Suchen nach einer umfassenderen Wahrheit zu unterstützen, besonders durch aufrichtigen Austausch der Ideen, die sich auf die Notwendigkeiten der Gegenwart beziehen. Ich glaube zuversichtlich, daß das einen entscheidenden Einfluß auf unsere Zukunft haben wird.