Jenseits des heutigen Horizontes
- Sunrise 3/1969
So sprach Zeus in seiner ewigen Weisheit:
Und von dieser Stunde
Sei die Kraft des unerschöpflichen Feuers
Allen Bewohnern der Erde versagt. Aber der
Gütige Prometheus überlistete ihn: den weitleuchtenden
Glanz des unerschöpflichen Feuers stahl er
In einem hohlen Rohr.
- Hesiod, Theogonie
Warum drängt die Zivilisation immer neuen Zielen der Entwicklung entgegen? Der Wissenschaftler wird die enormen Fortschritte auf dem Gebiete der Forschungen und Entdeckungen als Summe unserer menschlichen Fähigkeiten hinnehmen. Der Philosoph wird annehmen, die Dynamik des Menschen stamme aus seiner Macht, denken und urteilen zu können, aus seiner Fähigkeit, die Lawine von Daten zu berechnen, die uns bei der Betrachtung unseres Globus und des Sonnensystems überschüttet, von dem wir ein lebendiges Glied sind. Der religiöse Mensch wird Gott oder die Götter als die wahre Quelle für den Drang der Menschheit nach Fortschritt ansehen. Doch in jeder Altersstufe gibt es viele Menschen, die mit dieser Betrachtungsweise nicht zufrieden sind. Unter ihnen sind einerseits jene, die durch die Ergründung der Werte im Wirken der Seele ein Ziel zu sehen vermögen, während es andererseits noch allzuviele gibt, die umherirren und nicht weiter wissen. Sie sind außerstande, in den übernommenen Normen einen Sinn zu finden, - in Religion oder Wissenschaft, auch nicht in den Verhaltensweisen - sie suchen auf verschiedenste Art nach allen möglichen Antworten. Dabei ist einiges davon für das mentale Gleichgewicht sogar äußerst gefährlich. Wohin können sie sich wenden, um Richtlinien zu erhalten, die ihnen Gewißheit geben können, daß ihre inneren Hoffnungen und Träume vertretbar sind?
Es wird unmöglich sein, ein wahres Bild von unserer Rolle als menschliche Wesen zu gewinnen, ohne die ununterbrochene Fortdauer des Lebens mit in Betracht zu ziehen, angefangen von der Zeit, als das Leben mit der Ankunft des Menschen auf diesem Globus Gestalt angenommen hat. Wenn wir auch nur bis zu einem gewissen Grade verstehen wollen, was uns an den gegenwärtigen Kreuzweg geführt hat, so müssen wir den unaufhörlichen Strom der menschlichen Lebenskraft erkennen, nicht nur von Jahrhundert zu Jahrhundert, sondern ungezählte Millionen Jahre hindurch - jenen Lebensstrom, der unsere gesamte Vergangenheit in sich einschließt, und uns nach und nach unfehlbar zum Endziel unseres Aufenthaltes auf diesem Planeten leiten wird.
In der weiten Perspektive der solaren und irdischen Zyklen, die Milliarden Jahre dauern, hat unsere Erde eine Reihe menschlicher Lebenswogen kommen und gehen sehen. Lebenswogen, die in mächtigen Zivilisationen erblühten und dann aus dem Blickfeld verschwanden, wobei die alten jedes Mal für die neuen Platz machten. In all den Höhen und Tiefen der menschlichen Erfahrung hat es bestimmt in irgendeiner Form einen Schutz gegeben, einen Antrieb, der uns half, unseren Weg zu finden. Für uns, die wir täglich in dem schwierigen Daseinskampf unserer Welt verstrickt sind, mag es schwer sein, uns zu vergegenwärtigen, daß in der Tiefe des menschlichen Ringens ein spiritueller Antrieb ist. Enthüllt nicht gerade die Geschichte das periodische Erscheinen einzelner großer Persönlichkeiten, die über die äußeren Erscheinungen der Unruhen hinaus die innere Realität ein wenig klarer sehen und auch hinter den offensichtlichen Wirkungen der Veränderung die feineren Ursachen sehen, die in der verborgenen oder okkulten Seite der Natur verwurzelt sind? Die Berichte von unzähligen Generationen dieser Weisen sind ein Beweis, daß die Menschheit immer unter der wachsamen Fürsorge einer mitleidsvollen Hierarchie von Menschen stand und immer stehen wird. Von Menschen, die höher entwickelt sind als wir und eine goldene Kette von Wächtern bilden. Jeder von ihnen verrichtet auf seine Weise diese Aufgabe der Aufklärung - nicht durch Leitung oder Führung, sondern durch die Größe des Beispiels erweckt er, innerhalb seines Wirkungsbereiches, in allen Menschen ein größeres Selbstvertrauen.
Wenn wir das Wunderbare dieser Tatsache heute erfassen wollen, so müssen wir weit in die große Zeit der Dämmerung unserer Rassenanfänge zurückgehen. So weit, wie unser Geist es sich nur vorstellen kann. Bis dahin, wo göttliche Wesen, die sich um die Not der frühen Menschheit Gedanken machten, mit ihr die "unauslöschliche Flamme" ihrer Intelligenz teilten. Jede alte mündliche oder schriftliche Überlieferung bewahrt das Andenken dieser bedeutungsvollen Tat. Man findet es: In der Schlange der Genesis, - die nicht ein Symbol für Täuschung ist, sondern für große Klugheit - in dem "wohltätigen Prometheus", der den Menschen mit einer ganz verwegenen Heldentat das 'Feuer' des Zeus brachte, und man findet es auch wieder bei den Mânasaputras oder "Söhnen des Gemüts", längst vergangener Zeiten, die, wie die Überlieferung berichtet, die Sonnenreiche verließen, um ihre geistige Wesenheit mit der unseren zu verschmelzen, deshalb wird das Schicksal des Menschen für alle Zukunft mit ihnen verbunden bleiben.
Wohin führt uns das alles? Zeigt es uns nicht, daß in der Tat eine ununterbrochene Übermittlung der Weisheit existiert, die mit den uranfänglichen Lichtbringern zur Zeit des Gartens Eden begann, und durch die Krishnas und die Christusse, die Zoroasters, Odins und die Buddhas jeden Zeitalters weitergegeben wurde? Was hatte Jesus gemeint, als er sagte: "Ehe Abraham ward, bin ich"? (Joh. 8:59) Nichts weiter, als daß er der Repräsentant einer Hierarchie war, die viel älter ist als die Hügel von Juda, und die schon da war, als die Erde ins Leben gerufen wurde und als die Elohim ihre Maße festlegten. Betrachten wir die Bhagavad-Gîtâ der Inder, in der Krishna, der den höchsten Geist personifiziert, von "der unerschöpflichen Lehre" erzählt, die er einst, in vergangenen Äonen, Vivasvat, der Sonne, verkündete, die sie an Manu, unseren Vorfahr, übermittelte, der sie wiederum einer Reihe von Weisen und Rishis bekannt gab. So wurde sie "von einem zum anderen überliefert, bis schließlich, im Laufe der Zeit, das bedeutende Wissen verloren ging." Sie war jedoch nicht wirklich verloren, denn vor nicht mehr als fünftausend Jahren erschien Krishna, um nun als Avatâra die gleiche "ewige Lehre" Arjuna mitzuteilen.
Dann kam Gautama, der mehrere Jahrhunderte vor Jesus ein Buddha oder ein 'Erleuchteter' wurde. Auch er erinnerte seine Schüler daran, daß er "in vergangenen Zeitaltern der Lehrer zahlloser Bodhisattvas" gewesen war, und daß er wiederholt "in der Welt des Lebens geboren" worden war, um das wahre Gesetz oder Dharma zu enthüllen - so wie es Krishna getan hatte. "Welchen Grund sollte ich haben, mich immer wieder selbst zu offenbaren?" Weil die Menschen immer wieder "ungläubig, unklug, unwissend und unbesonnen werden, an sinnlichen Vergnügungen Gefallen finden, und aus Gedankenlosigkeit ins Unglück rennen." "Als Beschützer aller Geschöpfe" erklärt ER deshalb aus Barmherzigkeit von neuem den Weg der Pflicht. "Ihr müßt euch nur das Licht mehr wünschen als die Finsternis. Zuerst müßt ihr das Verlangen haben, mich zu sehen, dann will ich euch das wahre Dharma offenbaren."
Nun, was hat das alles mit der allgemeinen Weltsituation zu tun? Viele Menschen glauben, daß sie völlig hoffnungslos sei. Ich bin nicht dieser Meinung. Es ist mir unmöglich, die Behauptung zu akzeptieren, die Menschheit habe keine große Zukunft mehr. Wenn ich gerade heute die am heftigsten wuchernden Erscheinungen ansehe, so ist es für mich immer wieder eine große Hilfe, sie vom Standpunkt der Natur aus zu betrachten, die in allen ihren Offenbarungen drei charakteristische Funktionen zeigt: Das Schöpferische, das Bewahrende und das Zerstörende. Es ist einfach zu beobachten, daß alle drei Elemente heute im Spiele sind. Jenes, das niederreißt, was schon längst weg sein sollte, jenes, das nach dem Gleichgewicht strebt, nach der Erhaltung jener Qualitäten der Zivilisation, die der Mühe wert sind, und die schöpferisch-evolutionären Kräfte, die für jede menschliche Initiative so bedeutungsvoll sind. Warum sollten wir verzweifeln? Die ewigen Werte können nicht verloren gehen. Im Schmelztiegel bearbeitetes Gold bleibt Gold.
Nein, die im Kessel menschlicher Leiden vor sich gehenden Läuterungsprozesse sind unbedingt notwendig, um die Schlacken von Jahrhunderten hinwegzuräumen. Was uns fehlt, das ist der ursprüngliche Geist, der jene Vehikel entstehen ließ, die allgemein bekannt sind als Christentum, Buddhismus, Brahmanismus, Islam und all die anderen Religionen, die gebildet wurden. Fehlschläge gab es nur in der Durchführung der Botschaft, nicht bei den Boten, die für das Wohl der Menschheit bereitwillig ihr Leben opferten. Das soll kein Tadel sein. Das ist nur der Lauf der Dinge, wie er immer gewesen ist - die Wahrheit gekreuzigt am Kreuz der wechselhaften Impulse der Menschheit.
Wenn wir an die Botschaft glauben, für die jeder Weise, der sie uns gebracht hat, das Sprachrohr war, aus welchem Lande er auch gekommen sein mag, dann wissen wir, daß die sich weiter über uns ergießende göttliche Lebensessenz der Hierarchie gänzlich unpersönlich ist, und daß ihre lichtbringenden Strahlen in gleicher Weise an alle übermittelt werden. Was wir am nötigsten haben, ist, unser Bewußtsein darauf einzustellen, daß in der Brust eines jeden menschlichen Wesens ein Funken reiner Selbstlosigkeit vorhanden ist. Zu lange sind wir in unserem Leben den falschen Weg gegangen. Wir haben uns nur vom niederen Standpunkt aus betrachtet. Wir sind "Seelen in Ketten", wie der christliche Apostel es ausdrückte. Wir haben jedoch unsere Ketten noch verstärkt, anstatt zu erkennen, daß wir diese Ketten zerbrechen können, wann immer wir wollen. Die Weisen aller Zeiten haben gesagt: "Lebe die Wahrheit, die Du kennst, denn nur dann hast Du das Recht auf eine größere Wahrheit." Wenn wir alle uns diese wunderbare Verbindung zwischen den Lehren, die wir mit unserem Verstand gelernt haben und ihrer tatsächlichen Anwendung in unserer täglichen Erfahrung herstellen könnten, ohne daran zu denken, welcher Nutzen in persönlicher Hinsicht daraus erwachsen könnte, sondern einzig um des hohen evolutionären Verlaufs willen, der besteht und immer stattgefunden hat, seit die Lebenswoge des Menschenreiches auf diesen Globus kam - wenn wir das aufrichtig tun könnten, dann würden wir unsere Perspektive gewaltig erweitern und dabei frischen Mut und die Erneuerung der Hoffnung finden. Leben, Bewußtsein, Geist - das sind die wichtigen Elemente. Den Körper, das Vehikel, kann man töten, doch niemals kann man das Leben vernichten, denn das Bewußtsein ist unerschöpflich und wird allein durch das Naturell der Dinge fortfahren, sich selbst zu verkörpern. Solange menschliche Wesen geboren werden und sterben und von neuem geboren werden, so lange werden immer wieder Zivilisationen sich erheben und fallen und sich wieder erheben.
Eine Versuchung gibt es jedoch, die immer vorherrschen wird und schwer zu überwinden ist: die Versuchung, sich zu sorgen und Befürchtungen zu hegen. Nicht, daß wir glauben, der Weg sei nicht da - denn unsere bloße Anwesenheit hier ist genügend Beweis für die Fortdauer des Lebens, das uns durch und über die gegenwärtigen entscheidenden Ereignisse hinaus bringen will - doch die Befürchtungen, wir könnten unserer Aufgabe nicht gewachsen sein, sind ein Zeichen dafür, daß wir nicht sicher sind, ob wir uns so vollständig dem Dienst unserer hohen Ideale hingeben, wie wir es gern möchten. Um Halt zu gewinnen, dürfen wir nicht die Saat des Zweifels aufkommen lassen, des Zweifels an uns selbst. Wir müssen dem Gesetz vertrauen, uns dessen bewußt sein, daß, wenn wir unsere Augen dem Lichte zuwenden, wir die erforderliche Einsicht haben werden, die wir für die Erfüllung unserer täglichen Verantwortlichkeiten brauchen.
Wieder einmal sind wir in der Osterzeit. Unsere Belange gehen weit tiefer als bis zum Kalvarienberg, weit über das Kreuz hinaus, an das ein Pilger 'genagelt' war. Könnten wir auch nur ein Fünkchen von dem begreifen, was hinter dem Sinnbild der Kreuzigung und der Auferstehung liegt, so würden wir all das exoterische Zubehör unserer geistigen Begriffe in ein klares Verstehen über die tatsächliche Arbeit der Hüter der Menschheit umwandeln. Mit jenem Kreuz, das viele getragen haben, ist ein Sieg verbunden, und viele haben daran geblutet. Immer aber wurde das Blut mit den Tränen des Triumphes in der Seele dessen abgewaschen, der gekreuzigt wurde. Der Meister Jesus war eines der Opfer. Viele ähnliche und möglicherweise größere Opfer gingen dem seinen voraus.
Die wahre Geschichte der Wächter kann niemals geschrieben werden, und dennoch hinterläßt jeder von ihnen in seinem eigenen Zyklus und an seinem Platz sein unauslöschliches Charakteristikum "im Buche des Lebens" an dem "seit der Erschaffung der Welt" geschrieben wurde. Wer aber sind diese Wächter und Beschützer der Menschen? Niemand anders als die Scharen der unbekannten, unerkannten und keinen Dank empfangenden Individuen in diesem Ozean der Menschheit, diesem weiten Meer der Seelen, die, ohne Ansehen ihrer Stellung, die unsichtbare Verbindung zu den sich sehnenden Herzen der Menschen festhalten. Der Strahl ihres Wirkens berührt alle, die dafür empfänglich sind, und somit geben sie, in dieser einfachen und stillen Weise der Schöpfung, dem Trachten der Männer und Frauen an allen Enden der Welt Stärke und Lebenskraft.
Wohin uns unsere Pflicht auch immer gestellt hat, ins Heim, in unseren Beruf, in die Regierung oder auf das Schlachtfeld, gemeinsam wollen wir, im übertragenen Sinne, das Brot brechen, in der demütigen Erkenntnis, daß unser eigenes inneres Licht ein Bruder und Gefährte des "Lichtes ist, das jedem Menschen leuchtet, der auf diese Welt kommt." Wenn wir das tun können, dann werden wir allmählich ein kleines Beispiel der Freude kennenlernen, die ebenfalls eine Begleiterscheinung auf dem "Leidenswege" der Mitleidvollen ist. Der Weg, der vor uns liegt, ist schwer, und der Aufstieg dauert lange, aber viele schöne Blumen säumen den Pfad, und die Flamme einer "unauslöschlichen Weisheit" glüht in jedem menschlichen Herzen.