Der unaufhörliche Lauf der Veränderung
- Sunrise 2/1969
Wir werden vom Wind der Veränderung rücksichtslos gestoßen. Der Wind ist nicht neu, aber das Ziel, dem wir entgegengestoßen werden, ist für uns noch immer veränderlich und unklar, so daß manche versucht sind, vom Verfall und Untergang der Zivilisation zu sprechen. Sie betrachten Ruhelosigkeit und Überspanntheit, die die vorwärtsrollende Woge der Gegenwart begleiten, als Bedrohungen gegen alles, was Sicherheit und Stabilität bedeutet - und sie sind besorgt. Doch zu allen Zeiten hat die Menschheit zahllose turbulente Abschnitte durchgemacht. Sie entstehen immer dann, wenn die feststehenden Regeln ihre Autorität behaupten wollen, um die sich erhebende Kraft, die diese Autorität stürzen will, zurückzudämmen. Die Geschichte zeigt, daß nach der heftigen Phase einer solchen Konfrontation immer etwas Besseres aufgetaucht ist, etwas, das von ungeheurem Wert für die Rasse ist. Unsere gegenwärtige Verwirrung beruht zum Teil auf der Annahme, wir seien zivilisierter als wir es in Wahrheit sind, und die altbekannten Wege hätten noch lange Gültigkeit für uns.
Ereignisse, über die in Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen berichtet wurde, zeigen, daß der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts weder zufrieden ist noch bereit, etwas zu tun. Noch immer begeht er sinnlose Gewalttaten. Darüber ist er noch nicht hinausgewachsen. Ebenso ist es offensichtlich bei einem gewissen Prozentsatz der Jugend - Universitätsstudenten, die sehr oft wie Eingekerkerte annehmen, die Gewalt sei das aufregendste und sofort wirksame Mittel, um Resultate zu erzielen. Bei manchen ist das Motiv echter Idealismus, andere revoltieren um des Aufruhrs willen, während wieder andere nur versuchen einige der Annehmlichkeiten zu ergattern, die die Armut ihnen versagt hat. Welcher Anreiz es auch sein mag, sobald es zur Gewalt kommt und diese als Norm anerkannt wird, ist alles verloren. Das reinste Ideal ist dann entwertet und wird zum Vorwand für rücksichtslose Zerstörung. Eine Zerstörung, die die edelste Sache tötet und den Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen verlängert.
Wo können wir in diesen verworrenen Zeiten Richtlinien finden, die uns helfen, die Ereignisse besser zu verstehen, und welche Hilfe können wir auf der konstruktiven Seite des Fortschrittes geben? Darauf gibt es keine generelle Antwort, denn was den einen zufriedenstellt und ihm einleuchtet, das mag dem anderen Anlaß zum Zweifel geben. Doch ein reicher Schatz, von dem wir zehren können, steht uns zur Verfügung. Die Religion bietet einen Reichtum an Weisheit für jene, die gewillt sind, danach zu suchen und unter dem Dogma zu schürfen. Die Philosophie sorgt für intellektuellen Antrieb und oft sogar noch für weit mehr, während die Wissenschaft ein kosmisches Bild offenbart, das so verzweigt ist und dennoch ein Ganzes bildet, so daß die Einheit allen Lebens und die Fortdauer nicht abgeleugnet werden können. Es gibt Tausende von Büchern, die dieses Gebiet von den verschiedensten Seiten aus beleuchten, und niemals zuvor war es so vielen Menschen möglich, sie zu lesen, um den Wert erkennen zu können. Hinzu kommt noch, daß die aus dem Osten stammenden Schriften des Altertums, die im vorigen Jahrhundert für den Westen übersetzt wurden, damals aber nur für Gelehrte erhältlich waren, jetzt in billigen Ausgaben in verschiedenen Sprachen erhältlich sind. Sie erzählen von der innigen Beziehung zwischen Mensch und Kosmos und beschreiben das sich abwickelnde Drama der menschlichen Seele als großes Abenteuer. Es gibt wirklich keinen Mangel an religiöser, wissenschaftlicher und philosophischer Literatur. Es fehlt nur der Anreiz, sie zu lesen. Wenn wir die Zeichen unserer Zeit richtig verstehen wollen, so genügt es nicht, uns nur mit den zutagetretenden modernen Theorien und Entdeckungen zu beschäftigen. Wir müssen auch die unschätzbaren Vermächtnisse erforschen, die uns die großen Denker des Altertums hinterlassen haben. Diese Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart wird uns eine breitere Perspektive geben und dadurch wiederum werden allmählich ängstliche Befürchtungen zerstreut.
Unglücklicherweise können viele Menschen diese weiten spirituellen Zusammenhänge, die in diesen drei Wegen zur Erkenntnis enthalten sind, nicht erkennen, weil es dafür keine Richtlinien gibt, oder sie haben auch gar kein Verlangen danach und ziehen einen Glauben vor, der sie emotionell zufriedenstellt. Jenen, die einen festen Glauben haben, ganz gleich welcher Überzeugung sie auch sein mögen, ist es möglich vertrauen zu können. Doch jene, die keinen festen Glauben haben, schlagen wild um sich, gegen eine ungerechte Welt. Sie haben keine Philosophie, keine Einsicht, keine Hoffnung. Ich muß dabei an den alten griechischen Mythos denken. An Pandora und die Büchse, die Zeus ihr gab. Darüber gibt es zwei Versionen. Eine berichtet davon, daß, als die Neugier sie übermannte, und sie die Büchse öffnete, alle menschlichen Gebrechen entwichen und seitdem die Menschheit plagten - aber die Hoffnung blieb. Die optimistischere und symbolischere Fassung berichtet, daß aus der geöffneten Büchse alle Wohltaten, welche die Götter den Menschen zugedacht hatten, entwichen, nur die Hoffnung blieb zurück.
Heutzutage haben eine Menge Menschen "aufgegeben." Sie verzweifelten immer mehr, und verzweifelte Menschen können schreckliche Taten vollbringen. Um hoffen zu können, muß man eine Lebensphilosophie haben, und mit ihr kommt die Einsicht. Jene von uns, die Hoffnung haben, müssen Wege finden, um dieses Geschenk der Götter unseren Mitmenschen erneut zu bringen.
Die Unruhen, deren Zeugen wir sind, sind weltumspannend und haben mehr als eine Ursache. Sie scheinen das komplexe Zwischenspiel vieler Ursachen zu sein, die alle zur Unvollkommenheit der menschlichen Natur in Beziehung stehen. Deshalb ist die Antwort nicht einfach. Wenn auch Vermögensunterschiede und Gewinn der primäre Faktor bei den aufrührerischen Handlungen zu sein scheinen, so ist dies nicht der entscheidende Punkt. Wenn wir zum Beispiel mit einem Zauberstabe wunderbare Städte bauen könnten, ausgestattet mit schönen Wohnstätten, und nun Familien einziehen ließen, die mit allen materiellen Mitteln und Möglichkeiten ausgestattet wären, könnte das unser Problem lösen? Ich glaube nicht, denn wir Sterblichen suchen in Wahrheit nach Glück, Liebe und selbstloser Hingabe an etwas, das größer ist als wir. Aber all das kann weder geschenkt noch garantiert werden. Es sind die Herzen und Sinne der Menschen, die der Änderung bedürfen, und diesem Ziel treiben die Winde der Veränderung entgegen. Wir rufen mit Tennyson aus: "Laßt die große Spindel der Welt ewig den sich im Kreise drehenden Faden der Veränderung drehen."
Wenn wir auf die aktuellen Ereignisse reagieren, so fallen wir manchmal leicht in die sorglose Angewohnheit, alles gleich zu verallgemeinern. Vor allen Dingen tun wir es gern bei jungen Menschen. Wir übertreiben bei Lob oder Tadel. Entweder wir sagen, daß nur die kommenden Generationen unsere Schwierigkeiten lösen können, oder wir meinen, es käme nichts Gutes dabei heraus, wenn alles ihnen überlassen bliebe. Grundsätzlich sind in der Jugend immer Charakterzüge vorhanden, die durch die Reife allmählich gezähmt werden: Impulsivität, Radikalismus, Wagemut und Begeisterung. Sie sind unaufhörlich aktiv, weil sie nicht abwarten können. Die modernen Jugendlichen sind in einem viel früheren Alter aufgeklärt und weniger diszipliniert als die Jugend von früher. Der Unterschied besteht in der festen Überzeugung der heutigen Jugend, daß ihre Ideale Wirklichkeit werden können und daß sie sofort verwirklicht werden können. Die alte Tendenz, andere nach Hautfarbe und religiösem Glauben einzustufen, verblaßt immer mehr. Die Familienpolitik wird verworfen, und die traditionelle Religion wird respektlos in Frage gestellt. Wenn man den Anführern der Jugend zuhört, so ist es offensichtlich, daß viele unter ihnen versuchen sich völlig dem Ideal zu verpflichten, anderen zu dienen. Es fehlt ihnen jedoch, wie den jungen Menschen jeder Generation, an Erfahrung. Sie müssen noch lernen, daß das alte Sprichwort: "Gewalt erzeugt Gewalt" wahr ist. Wenn sie das begriffen haben, dann werden sie imstande sein, ihren Mitmenschen wirklich zu nützen.
Ungeachtet aller Gewalt wurde Mohandas Gandhi ein Symbol für viele, die hofften, die Welt würde ihren Kurs ändern, und nun sind sie enttäuscht und verärgert, daß seine Methoden nicht überall Anwendung finden. Dabei ist natürlich zu beachten, daß Gandhi weitaus mehr war, als ein sozialer Reformator. Sein Volk sah in ihm einen geistigen Führer. Er kannte die menschliche Natur gut und machte nie den Fehler, die Schwächen seiner Anhänger noch zu unterstützen. Seine "Autorität" lag in dem, was er selbst war, und seine "Macht" beruhte auf selbsterlangter Weisheit und Geduld. Nie wich Gandhi von seiner von Anfang an betonten Forderung der Gewaltlosigkeit ab, und das war der Grund, weshalb sein Einfluß mühelos um den ganzen Erdball ging. Natürlich ist eine Politik wie die seine nur wirksam, wenn jeder einzelne imstande ist, passiven Widerstand zu leisten, und wenn jeder einzelne Gewalttätigkeit auf sich nehmen kann ohne zurückzuschlagen. Dem westlichen Menschen mit seinem Tatendrange ist dies so fremd, daß es fast unmöglich gewesen ist, wirkliche Gewaltlosigkeit jemals zu erreichen.
Wir sollten uns auch daran erinnern, daß hinter den Hindus und den Buddhisten jahrhundertealte Lehren stehen, die ihnen helfen, menschliche Leidenschaft zu zügeln, zumindest in gewissem Ausmaß. Die eine ist die Lehre von Karma, dem Gesetz von Ursache und Wirkung, von Gerechtigkeit. Die andere ist die Lehre von der Wiedergeburt oder der zyklischen Wiederkehr des Menschen zum irdischen Leben. Gemeinsam erklären diese Lehren das Warum der Fortdauer des Lebens und malen ein umfassendes Bild von den Gründen, warum wir hier sind und warum wir individuell für alles verantwortlich sind, was wir tun. Ihren Lehren liegt zugrunde, daß alles geoffenbarte Leben aus einer Quelle strömt. Das wichtigste ist, das Prinzip der universalen Bruderschaft in sich aufzunehmen und Ehrerbietung allem Lebenden gegenüber zu empfinden. Das Universum ist ein Ganzes, die Menschheit ist ein Teil davon, und wir sind ein Teil der Menschheit. Wir können deshalb die karmischen Bindeglieder, die uns mit unserer Gesellschaft verbinden, nicht durchbrechen. Wir können unsere Mitmenschen nicht im Stich lassen; wir können unserer Verantwortung nicht aus dem Wege gehen.
Im Gegensatz dazu bezeichnet die westliche Religion Leben und Tod als etwas Endgültiges. Wir haben an die Zukunft keine Bindung, weil wir nicht annehmen, mit ihr in irgendeiner direkten Weise in Beziehung zu kommen. Gleichzeitig glauben die Menschen, ungestraft "sündigen" zu können, weil der konventionelle Glauben zerfallen ist und Himmel und Hölle nicht mehr ernst genommen werden. Dadurch tut der Mensch Dinge, vor denen er zurückschrecken würde, wenn er davon überzeugt wäre, daß er persönlich nach langer Zeit mit den Auswirkungen wieder zusammenkommt. Für Geduld ist wenig Platz in der westlichen Philosophie vom einmaligen Leben. Im Gegenteil, eine einzige Lebensspanne, in der alles vollbracht werden muß, was wir wollen, regt die Ungeduld an. Es engt unseren Blick ein, und mit der Zeit kerkern wir uns selbst ein.
Inmitten dieses gegenwärtigen unruhevollen Lebens scheinen wir doch ein Verlangen zu haben, einen prüfenden, offenen Blick auf uns zu richten, um zu sehen, wo wir stehen. Dieses Seelenerforschen ist an ganz unerwarteten Stellen aufgetaucht. Der Filmkritiker Charles Champlin schreibt in einem Artikel, der "Als Beitrag zur Definition des guten Geschmacks in Filmen" betitelt und in der Los Angeles Times am 7. Juli 1968 erschienen ist:
... außer einigen recht mäßigen und oberflächlichen Kritiken über einen Film, gibt es noch einen ganzen überschäumenden Kessel voller Vieldeutigkeiten und Unsicherheiten. Viele dieser Unsicherheiten kommen aus der Tatsache, daß die amerikanische Gesellschaft selbst schnelle und unvorausberechenbare Veränderungen durchmacht. Und zwar in ihrem Verhalten, was sie glaubt und was ihr gefällt. Weder der Kritiker selbst noch die Filme, die er sieht, sind immun gegen jene Veränderungen. ...
Der Kritiker kann ... sich selbst als einen der Änderung unterworfenen Menschen betrachten, inmitten einer in Änderung begriffenen Gesellschaft. Bin ich zu tolerant geworden oder verhärte ich mich zur Intoleranz? Reagiere ich zu heftig auf Gewalt, oder war ich vorher zu nachsichtig? Bin ich über die sexuellen Kapriolen erschrocken oder bin ich nur von Berufs wegen erschrocken, weil ich es für die anderen sein muß? Bin ich müde und abgestumpft, weil ich allzuviel gesehen haben und vielleicht besonders für die Filme, die mich nicht unangenehm berühren und nicht anstrengen, etwas zu dankbar? Wieviel von dem, was ich über eine in der Veränderung befindliche Gesellschaft für wahr halte, ist tatsächlich wahr? Und wieviel hat nur mit meinem persönlichen Fortschritt dem Alten gegenüber etwas zu tun?
Alles läuft darauf hinaus, daß es notwendig ist, eine geistige Grundlage zu haben, um die menschliche Natur erneuern zu können, die, allgemein gesehen, eher selbstsüchtig als selbstlos bleibt, eher sensationshungrig als nach Weisheit dürstend und damit die Gedankensphäre der Welt mit Haß, Vorurteil und Gewalt verunreinigt. Wie weit könnte dabei ein jeder von uns für die Entstellung der Werte verantwortlich gemacht werden? Es ist genauso falsch, jedem einzelnen die Schuld für die Übergriffe der wenigen zu geben, wie es falsch wäre, wenn wir alle für uns das Verdienst für die Leistung beanspruchen würden, die ein Dante oder ein Shakespeare hervorgebracht hat. Natürlich sind alle unsere Geschicke durch uralte Bande geistiger Verwandtschaft miteinander verbunden. Als Einzelwesen sind wir jedoch insofern an den Taten anderer schuldig, weil wir nicht unseren höchsten Prinzipien entsprechend leben und deshalb zu den negativen Elementen beisteuern, die die künftigen Erfolge aufhalten. Der Einfluß eines unbescholtenen Lebens ist enorm. In dem Maße, in dem jeder Mensch innerhalb seines privaten Tätigkeitsbereiches das Licht des rechten Denkens und rechten Handelns auf diesen mit Schatten bedeckten Globus wirft, in dem Maße wird der Schatten weichen. Das ist die Grundlage für die individuelle Beziehung und Verantwortung. Es braucht Zeit und Mühe - denn noch sind es nur wenige, die gewillt sind, ernsthaft den Versuch zu machen oder sehr viel zu opfern - doch die Veränderung der Menschheit beginnt unvermeidlich bei uns selbst.