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Innere Majestät

Unser Denkvermögen, die höchste Fähigkeit, die der Mensch bis jetzt erlangte, ist für uns etwas seltsam und beängstigend, so gerne wir das Gegenteil glauben möchten. Wir alle finden es allzu oft leichter, weiterhin in unserer individuellen Denkweise zu verharren, wenn etwas Neues an uns herantritt. Während wir ängstlich darauf warten, was kommen mag, hängen wir an dem Alten und fürchten uns, die muffigen Höhlen des Gewohnheitsmäßigen und Vertrauten zu verlassen.

Die Gedanken sind die mächtigsten Einflüsse in unserem Leben. Sie können heilen oder zerstören, können weiß oder schwarz sein, aber es liegt bei uns, sie aufzugreifen und in die Tat umzusetzen. Wenn wir aber unfähig sind den Weg festzulegen, den wir gehen wollen, wenn die Probleme zu verwickelt sind, was dann? Vor vielen Jahren hat jemand, der als Menschenfreund bekannt war, diese Worte geschrieben:

Niemals würde ich der geringsten Furcht oder Verzweiflung nachgeben, sondern, wenn ich den Weg oder das Ziel vor lauter Nebel nicht sehen könnte, so würde ich mich einfach hinsetzen und warten. Ich würde es einfach nicht glauben, daß überhaupt kein Weg da ist, den ich gehen könnte. Der Nebel muß sich zerstreuen.

Täglich geht auf unserer physischen Ebene die Sonne auf und zerstreut die Schatten der Nacht. Wenn wir bereit wären, so könnte es genauso in jenem immateriellen, aber sehr wichtigen Bereich sein, in dem unsere Gedanken von Meinung zu Meinung wandern, sich im ermüdenden Kreislauf festfahren, gelegentlich überschäumen, oder wie neugeborene Meteore blitzschnell durch Zeit und Raum schießen.

Es sind die spirituell starken und weisen Menschen, die uns aufrütteln und uns von neuem den Weg zum Licht zeigen. Sie mahnen uns immer wieder, das Gesicht unserer aufgehenden Sonne, der Inneren Majestät, dem Bindeglied zwischen uns und unserem Vater im Himmel zuzuwenden. Diese Innere Majestät können wir nur durch sorgfältige Beobachtung gewahr werden. Das Leben dauert fort, auch wenn es scheinbar zerstört wird: Blumen blühen wieder auf den vom Menschen verwüsteten Feldern; Wälder, die abgeholzt und dann sich selbst überlassen werden, treiben aus den im Boden verbliebenen Wurzeln und Samen nach und bilden neue Urwälder. Und auch von Männern und Frauen, die durch Unfall, Not oder im natürlichen Verlauf der Entwicklung zugrundegehen, sagt man, daß sie in neuer Gestalt und mit neuen Hoffnungen in eine andere Umgebung auf diese alte Erde zurückkehren, um es aufs Neue zu versuchen. Diese Majestät des Geistes zeigt sich in der Warmherzigkeit lebender Wesen - in der Brust eines kleinen Vogels, der den Klang seines Gesanges ändert, um ihn zarter zu machen, wenn er sich um seine Jungen ängstigt; in der Bewunderung eines Sonnenuntergangs, dessen glühende Farben uns nach einem aufgeregten Tag Harmonie und Frieden verheißen; in dem selbstlosen Opfer junger Menschen bei Gefahr oder im Kampf.

Wir brauchen Vertrauen, um von da aus, wo wir gegenwärtig stehen, weiter zu gehen. Vertrauen in die spirituelle Grundlage des menschlichen Daseins, die immer wieder aufs neue weiteres wunderbares Wachstum ermöglicht. Die Handlungen und Gedanken derer, die an das wirklich Gute im Menschen und letzten Endes an das Verschwinden seiner kurzsichtigen Impulse und üblen Neigungen glaubten, zeigen durch ihr Beispiel, daß dieses unbedingt erforderlich ist. Solche hingebungsvollen Männer und Frauen waren Madame Curie, Albert Einstein, Abraham Lincoln, Brahms, Emerson, Burroughs. In anderen Jahrhunderten und in anderen Ländern gab es noch viel mehr - große Seelen, die etwas vollbrachten, indem sie ein mutiges und edles Leben führten.

Viele Menschen und auch Nationen fürchten im Grunde, sie könnten ihre Identität verlieren. Doch wir fragen, welche Identität und wodurch? Im Grunde sind wir ein Teil des Gefüges des uns umgebenden Universum; aber wir treffen die Wahl, in welchem Teil wir tätig sein wollen. Wenn wir es einmal wagen, unseren innersten Gedanken die für ihre Existenz lebensnotwendige Freiheit zu gewähren, werden sie uns in die Richtung führen, die wir gehen wollen. Die Probleme, denen wir heute gegenüber stehen, sind nicht so ganz neu; sie erscheinen nur so, weil sie umfassender sind. Unsere Vorfahren mußten mit ähnlichen und mit viel schlimmeren Situationen fertig werden. Die Gezeiten von mehr als zweitausend Jahren haben die Klippen an der Küste Griechenlands ausgewaschen. Dort, wo Empedokles und seine Zeitgenossen über die Tatsache nachsannen, daß "die gegenwärtige Welt eine Bühne ist, auf der die Liebe vom Streit verdrängt wird." Damals waren die Rückwirkungen weniger stark, weil die Nationen und Rassen nicht so eng miteinander verbunden waren, wie heute. Die Menschheit ist nicht plötzlich verrückt geworden; sie hatte schon immer Schwierigkeiten, sie hat sie überwunden und wird auch weiterhin ihre periodischen Auf- und Niedergänge haben. Muß uns die gegenwärtige Dunkelheit davon abhalten aufwärts zur Sonne zu schauen? Wäre es nicht töricht, mit einer Laterne durch den Wald zu wandern und dabei die Augen zu schliessen, nur weil ihr Schein nicht groß genug ist, um den ganzen Wald zu erleuchten?

Wir sind tatsächlich national und individuell mit dem Schicksal eines jeden anderen verbunden, und wenn gewisse, sich gegenwärtig ereignende Dinge jetzt nicht sehr verheißungsvoll aussehen, so ist das Jetzt nicht für immer. Wir sind alle Pilger, die den gleichen Pfad wandern und versuchen die gleichen Höhen zu erreichen, von denen jedes Menschenwesen ursprünglich kam. Wir können unseren Kopf hoch tragen, denn in uns schlummern die gleichen Gefühle und Hoffnungen, das gleiche Verlangen und die gleichen Fähigkeiten, auf die sich die Höchsten wie die Geringsten unter uns stützen, um zu vollbringen, was sie sich vornehmen.

Während wir ständig in verschiedenen Schichten des von uns selbst aufgebauten Bewußtseins leben und mehr als einmal im Keller unseres niedersten, würdelosen Denkens festgehalten werden, dürfen wir nie vergessen, daß uns ein wenig Anstrengung einen Ausblick von unseren Hausdächern bis zu den weit entfernten Milchstraßen gewährt. Und relativ bedingt gilt das für alle. Wenn deshalb jemand unrecht handelt, so laßt uns nicht zu sehr darauf erpicht sein, den Unrechttuer zu steinigen, sondern in erster Linie nach der Ursache des falschen Impulses suchen. Wenn wir jedoch jemandem auch nur Böses wünschen, so sind wir, und auch der Mensch, der unseren Gedanken auffängt und ausführt, für die daraus folgende Handlung verantwortlich. Das gleiche Prinzip gilt für die Furcht in ihren vielen, nicht leicht erkennbaren Verkleidungen. Wenn wir fürchten, daß uns unser Nachbar verachtet, unsere Scheune anzünden wird oder auf andere Weise böswillig ist, werden sich unsere Vorstellungen meistens verwirklichen, sie "kehren heim in ihren Stall!" Es gibt ein orientalisches Sprichwort, "Wer sich über einen bösen Menschen aufregt, täte besser auf sein eigenes Herz zu achten."

Andererseits sehen wir das Gute in uns selbst auch in anderen. Wenn wir in unserem Alltagsleben, in jeder Lage, unser Herz mit den edelsten Gedanken und Gefühlen erfüllen, deren wir fähig sind, werden unsere Bemühungen in dieser Richtung die düsterste Atmosphäre ebenso erleuchten - in unserer Nachbarschaft, unserer Stadt und selbst rund um den ganzen Globus. Aber trotz unserer besten Absichten ärgern wir uns manchmal über uns selbst - nichts, was wir unternehmen, ist richtig. Alle unsere Handlungen scheinen mit den Zielen, die wir uns gesetzt haben, in Widerspruch zu stehen, und was die Sache noch schlimmer macht, die Leute merken das auch. Sie flüstern: "Er hat nicht das Zeug dazu." Wenn wir in der Vorstellung leben ein Wurm zu sein, werden wir leicht das Gefühl haben, zertreten zu werden. Doch jedermann hat "das Zeug dazu", wenn es auch niemand als der betreffende selbst zeigen kann. Wir fühlen uns nur allein oder bedrückt oder nutzlos, wenn uns das Vertrauen an das innere Licht im Herzen unseres Seins verläßt, und wir das Vertrauen an seine Existenz verlieren. Diese innere Stärke wieder zu entdecken und wirksam werden zu lassen erfordert Ausdauer und ist eine Lektion, die wir auf Erden lernen. "Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!" So ein einfaches, die Seele befriedigendes Gebet - schwierig nur, wenn wir an der Macht des wahren Selbstes zweifeln oder zuerst um die Ecke sehen wollen, um zu ergründen, was Gottes Wille sein mag, ehe wir uns ihm empfehlen!

Es gibt einen Trost, der ein ausgezeichneter Sorgenbrecher genannt werden könnte. Trotz all der Unruhe, die um und in uns ist, wissen wir, daß eine Denkungsart die andere erzeugt, daß eine harmonische Saite ein Echo in einer anderen findet, daß ein wahres Gefühl der Zusammengehörigkeit sich dem Heer ähnlicher Impulse anschließt, die vorher von Menschen gefühlt wurden. Im Verlauf vieler Zeitalter wird die Menschheit als Ganzes jene innere Größe zum Ausdruck bringen, die, während sie sich in der Stille eines verstehenden Herzens ausbreitet, in ihrem Leuchten dem hellsten Stern gleichkommt.

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