Weihnachten ... in den Bergen
- Sunrise 10/1968
Mein eigenes Weihnachten wird dieses Jahr wie immer verlaufen. Unser Haus wird voll sein mit Verwandten und Freunden. Lachen und Fröhlichkeit wird den Heiligen Abend erfüllen, und die Klänge der Weihnachtslieder werden durch die frische Nachtluft tönen. Den ganzen Abend werde ich zu tun haben, um meine Kinder davon abzuhalten, ihre Geschenke vor dem nächsten Morgen zu öffnen. Der Baum wird im Fenster stehen und im Lamettaglanz und mit all' seinen bunten Lichtern und seinem Schmuck in Schönheit strahlen. Wahrlich ein Bild für die Erinnerung. Die Kinder werden ab und zu hinsehen, aber es wird für sie nichts Neues mehr sein, und auch wir Erwachsenen werden keine Ehrfurcht und kein Wunder mehr verspüren.
Der erste Weihnachtstag wird früh beginnen und spät enden. Die Kinder sehe ich über ihren Geschenken lärmen, und wundervolle Gerüche dringen aus der Küche, wo ein riesiger Truthahn langsam gebraten wird und Kürbis-Torten bereitet werden. Die Logiergäste erheben sich langsam und gehen zögernd durch's Haus, während ich mich beeile, sie mit Frühstück zu versorgen. Der Morgen verstreicht schnell, und Verwandte helfen mir ein Essen für die große Gesellschaft zu bereiten, zu der die kleine Familie angewachsen ist.
Nach dem Essen (das nach all der Mühe so schnell vorübergeht) werden wir uns für einen gemütlichen Nachmittag hinsetzen. Irgend jemand wird gelegentlich Weihnachtslieder auf dem Klavier spielen - bekannte Stücke, laut und dröhnend. Schreie von den Kindern, wenn sie auf Rollschuhen über den Fußboden holpern, Sausen der elektrischen Spieleisenbahn wird zu hören sein. Eine Menge Geräusche. Und recht bald wird es genauso sein wie zu irgendeinem sonntäglichen Essen mit Gästen und Verwandten, nur etwas üppiger und ein paar Extras, wie der Weihnachtsbaum, die Stechpalme und die Kerzen auf den Leuchtern. Wenn alle gegangen sind, werde ich todmüde sein, und im Haus wird alles durcheinander liegen. Aber man wird das Gefühl haben, etwas Gutes getan zu haben, und ein Rest von Freude wird an einigen weiteren Sonntagen wieder aufkommen. Es ist schön, und auf diese Weise verlebe ich eben meine Weihnachten jetzt. Ich freue mich noch darauf - nicht ganz so sehr wie mit 15 und nicht annähernd so sehr wie als kleines Mädchen.
Aber ich weiß auch von einem Heiligen Abend, der ganz anders verbracht wurde, an einem Ort, der weit entfernt von meinem und Ihrem Hause liegt. Ich kannte auch den Mann, der den Abend dort verbrachte. Es war ein alter Mann, aber er sah nicht alt aus. Er war ein Dichter und ein Philosoph, und ich wünschte, ich könnte wie er sein. Einmal erzählte ich ihm das, und er sagte, daß er sich in meinem Alter gewünscht hatte, gelassen, ruhig und weise zu sein. Er hatte gut geformte, zarte Hände, obgleich sie harte Arbeit verrichtet hatten; sie waren von dicken Adern durchzogen, aber ihre Schönheit konnte nicht verborgen bleiben. Er lebte das ganze Jahr hindurch ganz allein auf dem Gipfel eines Berges in Arizona. Er hatte seine Hütte dort gebaut, seinen eigenen Brunnen gegraben und ihn mit Zement und Steinen ausgemauert. Das Material brachte er auf den Rücken von Mauleseln auf die Höhe. Er säte Blumen und pflanzte Gemüse und hatte zwei Ziegen, drei Katzen und einen Hund. Für gewöhnlich ging er zweimal im Jahr hinunter in die kleine Stadt, die ungefähr 12 Meilen entfernt war, um Vorräte zu besorgen. Die übrige Zeit sah er keine Menschenseele. In seiner Hütte hatte er eine herrliche Bibliothek; selbstgebaute und geschnitzte Schränke waren angefüllt mit Büchern, die geradezu einluden in ihnen zu blättern. Vor allem Philosophie, Dichtung, Kunst und Musik, sowie einige seltsam geheimnisvoll klingende Titel konnte man lesen. Dieser Mann hatte ein Doktorat inne gehabt und lange Jahre an einer Universität gelehrt, bis er es leid wurde, vor gelangweilten, unempfänglichen Studenten über Plato zu lesen. Jetzt war sein Gesicht von der Sonne und dem Wind der Bergeshöhen gebräunt und mit sanften Händen streichelte er seine Tiere. Doch nun möchte ich Ihnen von seinem Heiligen Abend erzählen, so wie er es mir berichtete:
"Es war mein 8. Weihnachtsfest hier in den Bergen. Zuvor hatte ich immer den Sinn für die Zeit verloren und Weihnachten kam und ging, bevor ich es bemerkte. Aber in diesem Jahr mußte ich nochmals hinunter, um einzukaufen, - es war ungefähr Ende Oktober, nach dem ersten leichten Schneefall, der auf meinem Berg hier über der Wüste nie lange anhält. In der Stadt sprach ich mit einigen Leuten, die ich kannte, und der Mann im Laden fragte mich, ob es mir zu Weihnachten dort oben nicht zu einsam wäre. Ich lächelte und sagte, daß ich das alles für gewöhnlich vergessen würde, und als er bestürzt aussah, lachte ich innerlich.
Aber was er sagte, setzte sich in meinem Kopf fest, und in den folgenden Wochen dachte ich ab und zu daran. Ich wunderte mich, warum ich mich nicht einsam fühlte und warum ich nicht an Weihnachten dachte. In diesem Jahr dachte ich daran. Alle paar Tage sah ich auf den Kalender und machte sogar einige Vorbereitungen für eine einsame Feier.
Am Tage des Heiligen Abend war der Himmel bedeckt. Während ich meinen Pflichten nachging und die Tiere fütterte, die Hütte und die kleine Scheune gegen den Wind sicherte, bekam der Himmel diese eigenartige, durch und durch graue Farbe, die eine besondere Bedeutung für mich hat. Am frühen Nachmittag begann es zu schneien, und die zarten Flocken fielen ruhig und langsam auf den Boden. Die Katzen wälzten sich eine Zeitlang darin herum, während mein Hund sehnsüchtig zuschaute und unbeholfen versuchte, mitzumachen. Aber bald fielen die Flocken schneller. Die Katzen kratzten mit den Pfoten an der Tür und miauten jämmerlich, während mein Hund schon warm und zufrieden auf seinem Kaminvorleger lag. Ich ließ sie herein und sah ihnen zu, wie sie sich vor dem Feuer säuberten, wie sie ihre hübschen Köpfe bewegten, ihre kleinen Vorderpfoten erhoben, eine Hinterpfote über die Schulter legten und dann gelassen zu ihrer Ausgangsstellung voller Haltung und Würde zurückkehrten. Ich sehe ihnen immer wieder gerne zu.
Ich brauchte viel Zeit, um die Hütte zu säubern und die Öllampen zu füllen. In der Dämmerung fing der Wind an zu heulen, und der Schnee schlug gegen die Fenster mit diesem eigenartigen weichen und gedämpften Ton als würden behandschuhte Hände an die Scheiben pochen. Als es um fünf Uhr dunkel war, saß ich mit meinen Tieren verlassen in unserer kleinen aber gemütlichen Unterkunft, mitten in einem Heilig-Abend-Blizzard. Ich dachte nicht mehr an Menschen oder an das Wetter, sondern machte es mir in meinem tiefen Sessel vor dem Feuer bequem, um Freude an meinem Buch zu haben. Ich saß dort lange Zeit, sah träumend ins Feuer und las. Hin und wieder trank ich einen Schluck Kaffee, aß Kekse oder wurde von den in ihrem Traumschlaf sich bewegenden und winselnden Tieren unterbrochen.
Es muß so gegen 11.30 Uhr nachts gewesen sein, als ich aufhörte zu lesen und nebenbei bemerkte, daß der Sturm nachgelassen hatte. Es kamen nur noch Windböen, aber der Schnee fiel langsamer. Ich legte mein Buch beiseite, stocherte im Feuer und wollte zur Couch an der Seite des Kamins, als ich plötzlich einhielt: der Wind hatte aufgehört und eine tiefe Stille erfüllte meinen Raum.
'Oh', dachte ich, 'der Sturm ist vorbei', öffnete die Tür und stand in einer zwei Fuß hohen Schneewehe. Es schneite nicht mehr, und die unberührte weiße Fläche bot sich meinem Auge in ihrer vollkommenen Schönheit dar, denn die Wolken waren verschwunden und die Mondsichel strahlte ein sanftes Glitzern auf den Schnee. Ich sah hinauf in die Weite des Himmels und sah dort die Sterne unseres Universums leuchten, die der Wind klar und sauber gefegt hatte. Eine eigenartige, tiefe Stille lag über meinem Berggipfel, und ein Reh stand bewegungslos in der Klarheit der Nacht. Es war eine solche Stille und Stimmung, daß ich gespannt und doch ruhig auf Etwas wartete.
Und es kam: es war Musik, die seltsamste, zauberhafteste, zu tiefst aufrührende Musik, die je die Erde berührt hat, denn sie enthielt keine Melodien und war weder Akkord noch Mißklang. Sie war nur vollständige und absolute Harmonie, die in einen Klang verwandelt war, der nicht beschrieben werden kann. Mir war, als spürte ich ein Brausen um mich herum, ein Ahnen von Seelen, die fortgezogen wurden und hoch in die Luft emporjagten, in die Himmel. Ich sann darüber nach. Ich empfand - ich kann Ihnen nicht beschreiben, was ich fühlte, aber wenn jemals Gottesfurcht eines Menschen Herz erfüllte, so war sie jetzt in meinem. Ich glaube nicht, daß es eine Vision war. Ich glaube, es war mehr ...
Es schien Stunden zu dauern, dabei waren es nur wenige Minuten, wie ich später feststellte, als dieser zeitlose Augenblick vorüber war und sich der Zauber der mit Klängen und fast unerträglicher Schönheit erfüllten Stille von mir gelöst hatte. Ich ging in meine Hütte zurück. Es war wie ein Abstieg in eine andere Welt, an einen alten, langvergessenen Ort des Suchens und Irrens. Und als ich um mich herum die vertrauten Dinge sah, waren sie mir fremd.
Ich wartete 18 Jahre, 18 weitere Weihnachtsabende in schmerzhafter und hoffnungsvoller Spannung, aber es geschah nichts mehr. Ich glaube, ich sah zu viel.
Nein, ein heiliger Mann bin ich nicht, ich hatte nur Glück. Ich war genau zur richtigen Zeit am rechten Platz und erfuhr etwas, das wir alle erfahren könnten, wenn wir nur wüßten, wie. Dies war mein Heiliger Abend. Ich werde ihn niemals vergessen. Ich behalte die Erinnerung in mir und versuche jedes Jahr, die Bedeutung zu verstehen. Es gelingt mir mehr und mehr."
Das ist seine Geschichte. Sie können sie glauben oder nicht, wie es Ihnen beliebt. Ich glaube sie. Ich habe diesen Mann gesehen und ihn gut kennengelernt. Als er mir sein Erlebnis schilderte, leuchtete sein Gesicht von innen heraus.
Mein Weihnachten und seins, wie verschieden sind sie voneinander! Ich hatte oft gedacht, daß ich, wenn ich einen Weihnachtsabend allein verbringen würde, dann auch etwas Wundervolles erfahren könnte. Aber dann erkannte ich, wie recht er hatte: er hatte Glück, es war die richtige Zeit und der rechte Ort. Und ich glaube, er war auch der richtige Mensch.
Er ist nun tot, und der Wind pfeift weiter über seine Bergeshöhe. Die Katzen, der Hund und das Reh, die mit ihm dort lebten, sind auch nicht mehr. Vielleicht gelingt es mir, mitten in all dem Lärmen und Feiern, Stille zu finden, um ein wenig sein Gefühl nachzuempfinden.
Aber ob ich es erlebe oder nicht, dort oben in der Stille der Gestirne und der weißen Pracht tönt die alte, alte Musik durch die Sphären und Welten, sogar bis zu uns herunter.