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Der Tod ist ein Anfang, kein Ende

Aus Svenska Dagbladet, Stockholm, Schweden, 14. Februar 1967

 

Dr. Duvernoy ist Chefarzt am Löwenström-Hospital von Väsby in Upland, Schweden. Als Spezialist für Anästhesie hat er sich schon lange für das Bewußtsein interessiert und u. a. dessen Verbindung mit dem Vorgang des Todes. Für das Jahrbuch 1965-1966 der Christlichen Studentenverbindung schrieb er einen Artikel über "Die Grenze zwischen Leben und Tod", und vor einigen Jahren nahm er aktiven Anteil am Meinungsstreit über Euthanasie.

Dr. Duvernoy sammelt Material über "Die Erfahrungen auf den Grenzgebieten der Wissenschaft", wie sie in diesem Artikel erwähnt sind und ist an weiteren Beiträgen auf diesem Gebiet interessiert.

Dr. Cicely Saunders hielt vor etwa einer Woche in Upsala einen Vortrag über die Betreuung der Sterbenden. Sie widmete ihre ganze Aufmerksamkeit den Sterbenden und besonders jenen, die sich im fortgeschrittenen Stadium des Krebses befinden. Die Patienten wissen über ihren Zustand Bescheid. Mehrere liegen in großen Krankensälen zusammen, und wenn ein Zimmergenosse stirbt, sind alle dabei. Frau Dr. Saunders sagt, daß sie ihre Aussichten klar und realistisch betrachten, und sich kaum einer unter ihnen vor dem Sterben fürchtet.

Warum fürchten wir den Tod? Ingemar Hedenius schreibt, daß "man wohl begründet annehmen kann, daß niemand seinen Tod überlebt", daß es aber "keine sogenannte logische Unvernunft gibt, die erwartet, daß es wirkungsvolle Pillen für Unsterblichkeit oder andere Mittel mit demselben Resultat gibt." Wir nehmen bereits Vitamintabletten, Pillen zur Geburtenkontrolle, warum keine Unsterblichkeitspillen? Pillen zur Geburtenkontrolle garantieren, daß wir uns nicht vermehren, Unsterblichkeitspillen würden uns in Aussicht stellen, daß wir nicht zu sterben brauchen. Eine ungewöhnliche Perspektive für das irdische Dasein! Wieviele Menschen gibt es jedoch, deren Körper durch Krankheit so gepeinigt wird und so verbraucht ist, daß der Tod für sie eine Erlösung wäre.

Hinter solchen Überlegungen muß wohl die Furcht vor der persönlichen Vernichtung stehen. Der Mensch ist etwas mehr als nur ein Körper, der lebt. Auch die Tiere haben lebendige Körper, und wenn unsere menschliche Individualität nicht so sehr von der eines Tieres, sagen wir eines Hundes oder eines Pferdes verschieden wäre, könnten wir fragen, warum sollten wir die Menschen nicht genauso einschläfern, wie wir unsere Pferde oder Hunde einschläfern, wenn sie im Leben zu nichts mehr nütze sind?

Man meint, dieses Argument sei sinnlos übertrieben. Aber warum? Sowohl vom logischen, als auch vom sogenannten sozialökonomischen Gesichtspunkt aus gesehen wäre es das Vernünftigste, was man tun könnte. Es kann unmöglich sein, daß wir uns nur wegen des todkranken, von Schmerzen gequälten Körpers so bemühen, einen Menschen am Leben zu erhalten. Bestimmt scheuen wir uns zu töten, weil der Mensch mit der ihm eigenen stärkeren oder schwächeren Vitalität seines Willens und seines Geistes das Lebenwollen aufrecht erhält.

Aber diese Individualität, Wille und Geist sind keine materiellen Realitäten. Wir können sie weder in den Zellen unseres Körpers noch unseres Gehirnes finden, so sehr wir auch mit dem Mikroskop oder mit chemischen Analysen suchen mögen. Und dennoch sind diese Realitäten mit dem Körper verbunden. Das Gehirn ist der Mittler zwischen beiden. Gehirn und Nervensystem machen es dem individuellen Geist möglich, seinen Willen zu offenbaren, sich mit dem Körper auszudrücken, solange wir Bewußtsein haben.

Diese Realitäten sind nicht materiell, so daß wir sie nicht mit Instrumenten oder materiellen Maßstäben messen können. Wir können sie mit der Energie vergleichen. Wir sprechen von Menschen, die mehr oder weniger "mit Energie geladen" sind. In der Physik finden wir Energie in vielen verschiedenen Formen: elektrische, kinetische, statische Energie, Hitze etc. Warum sollte die Individualität des Menschen nicht als eine besondere Energiequelle betrachtet werden?

Von der Physik wissen wir auch noch, daß Energie nie verloren gehen kann. Sie kann nur in eine andere Form umgewandelt werden. So muß unsere Individualität, unser Geist, ebenfalls immer dagewesen sein. Sie manifestiert sich nur in einem Körper, wird für ihre Umgebung sichtbar und verschwindet dann wieder, indem sie in eine andere Form von Energie umgewandelt wird. Daher muß also unsere Individualität auch in Zukunft existieren. Kann das bewiesen werden? Nein, genauso wie wir nicht beweisen können, daß zwei parallel verlaufende mathematische Linien niemals miteinander in Berührung kommen, auch nicht in der Unendlichkeit. Trotz alledem lernen wir dieses mathematische Gesetz und viele andere in der Schule, und niemand zweifelt an deren Gültigkeit. Die Mathematik ist vielleicht letzten Endes der einzig mögliche Beweis für die Wahrheit.

Was ist also das Bewußtsein? Ingemar Hedenius sagt uns: "Bewußtes Leben ist ein Rätsel." Wahrscheinlich ist es für den heutigen Menschen das schwierigste Problem, zum Bewußtsein eine Beziehung zu finden. "Solange ich lebe" besteht Bewußtsein, das Ego, ich selbst. Doch für meine Umgebung, für andere Menschen, existiert mein Bewußtsein nur solange ich wach bin. Jedoch für mich selbst, für das Individuum, existiert das Bewußtsein weit über das bloße Wachsein hinaus. Ein bewußter Zustand wird vom Individuum selbst ganz anders betrachtet, als von seiner Umgebung. Für diese befindet sich der Mensch in einem der beiden Zustände: wach oder nicht wach. Was sich bei einem nicht wachen Menschen in seinem Körper und Gehirn ereignet, kann von anderen nur durch sehr komplizierte Apparate aufgezeichnet werden, und was dabei registriert wird, sind lediglich Energie-Potentiale!

Für die Person selbst gibt es jedoch im wachen Zustand verschiedene Abstufungen des Bewußtseins. Jemand, der zum Beispiel im Examen steht, befindet sich in einem ganz anderen Zustand des Bewußtseins, als wenn er im Eisenbahnzug fährt und durch das monotone Geräusch der Räder auf den Schienen eingeschläfert wird. Ginge er in diesem Zustand in die Prüfung, so würden die Noten sicherlich entsprechend ausfallen - wenn er die Prüfung überhaupt bestünde. Einen anderen Grad von Bewußtsein kann man beim Schlummer beobachten, wenn wir ein "Nickerchen" machen - ein höchst interessanter Gemütszustand. Unsere Gedanken beginnen zu wandern. Vielleicht bleiben sie bei unlängst geschehenen Ereignissen stehen, verspinnen sich weiter, während das Bewußtsein beständig abnimmt und kommen vielleicht bis zu dem Punkt, an dem das Gedächtnis aufhört.

Wenn wir dann erwachen, wissen wir, daß wir nicht geschlafen haben, daß aber unsere Gedanken ins Treiben gerieten, und wir können uns nicht erinnern, was wir dachten oder träumten. Hier kommen wir an eine Grenzlinie. Während wir uns in diesem Zustand befanden, war das Bewußtsein vorhanden, aber das Gedächtnis hatte dabei keine Verbindung.

Die nächste Stufe ist unser Traumbewußtsein. Während unseres Schlafes in der Nacht haben wir zuweilen Träume, die so lebendig sind, daß wir uns am Morgen an sie erinnern. Unser Bewußtsein war so rege, so lebendig, daß sogar das Gedächtnis vollständig in Anspruch genommen war. Der Psychiater William C. Dement in Chicago hat neue Wege gefunden, um tief in unsere Traumwelt einzudringen. Er sagt, jeder träumt, selbst jene, die glauben nie zu träumen. In ihrem Falle sind die Träume nur nicht so intensiv, daß das Gedächtnis eingeschaltet wird. Er berichtet über eine andere interessante Erscheinung: daß Menschen, die nicht träumen können, psychisch ernstlich krank werden. Hier haben wir den Beweis, daß im Menschen (subjektiv betrachtet) eine Form des Bewußtseins selbst im Schlaf, während der Traumperioden, lebendig ist, auch wenn er am nächsten Tag keine Erinnerung daran hat. Das Bewußtsein besteht also unabhängig davon, ob man wach ist oder schläft. Es existiert auch während des Schlafes, aber in den meisten Fällen haben wir keine Erinnerung daran, was dabei in unserem Bewußtsein stattfand.

In diesem Zusammenhang mag es von Interesse sein, daß Menschen, die die Härten des Krieges und der Konzentrationslager erduldeten, sich glücklich fühlten, wenn sie schliefen, und diese Gefühle halfen ihnen ihr Dasein während des Tages zu ertragen. Eine andere Art Bewußtsein ist die Halluzination, eine durch mentale Krankheit oder durch Drogen erzeugte Form von Bewußtsein. Solche Zustände sind anders als die Träume. Sie sind eher gänzlich verzerrte Erfahrungen im Traum- oder Wachzustand, an die sich der Patient später als etwas Schreckliches erinnert.

Was vorher über das Bewußtsein gesagt wurde, bezieht sich auf den Körper, auf Dinge und Erinnerungen, die mit dem Körper als empfindendes Zentrum verbunden sind. Es gibt aber auch Vorkommnisse, die von einem außerhalb des Körpers und sogar weit von ihm entfernten Zentrum wahrgenommen werden, so daß sich der Patient lebendig sieht, zum Beispiel, wenn er schwer verletzt ist. (Das kommt immer bei einem Zustand vor, der mit dem Sterben verbunden ist: Bei schweren Unfällen, bei schwer verwundeten Soldaten oder Todkranken.) Eine solche Erfahrung schildert der deutsche Schriftsteller Paul Keller aus seiner eigenen Kindheit. Sein Gesicht war dabei vollständig zerfetzt: "Das wächserne Abbild von mir lag vollkommen unbeweglich da. Das Gesicht mit meinen eigenen Zügen stieß mich wegen seines blassen, leichenähnlichen Aussehens ab." Das Bewußtsein kann in einer solchen Lage so stark beeindruckt werden, daß die allerkleinsten Einzelheiten beschrieben werden können.

Es gibt viele ähnliche Schilderungen von Menschen, die dem Tode nahe waren, aber wieder völlig hergestellt wurden. Alle diese Schilderungen zeigen die gleiche Klarheit und Kraft des Eindruckes, der für ein außerordentlich stark und mächtig beschäftigtes Bewußtsein im Augenblick des Todes spricht, wenn die Bewußtheit den Körper verlassen hat und sich in eine andere, nicht materielle Umgebung begibt. Das Bewußtsein des sterbenden Menschen scheint sich genau zu der Zeit, in der der andere das Todesröcheln der letzten ehrfurchtgebietenden Augenblicke beobachtet, bereits mit etwas anderem zu befassen, mit dem Übergang in einen Zustand von Licht, Frieden und Stille. Das Tor zu einem neuen, dem irdischen Bewußtsein unbekannten Zustand hat sich geöffnet.

Ein anderer erzählt von diesem Zustand, daß es gewesen sei, als sei er aus einem langen, tiefen, gesunden Schlaf erwacht. Besonders eigenartig ist die Tatsache, daß bei all diesen Schilderungen beständig betont wird, daß jeder Gedanke an Zeit vollständig ausgelöscht ist. Alle betonen, daß es unmöglich ist zu bestimmen, ob der Zustand Minuten oder Jahre gedauert hat. Das Gefühl für Zeit scheint sich im Augenblick des Todes aufzulösen. Vielleicht wird ein Schimmer der Ewigkeit erfaßt!

So scheint auch der Tod, wie das Leben, seine physiologischen Gesetze zu haben. Je mehr man sich mit dem Prozeß und den Erlebnissen beim Sterben beschäftigt, desto überzeugter wird man, daß der Tod nicht ein Ende oder gar ein Auslöschen des Individuums bedeutet, sondern den Anfang eines neuen, für unseren Verstand unbekannten Zustands.

Georges Barbarin, ein französischer Schriftsteller, der in den dreißiger Jahren das jetzt schwer zu bekommende, interessante Buch Death as a Friend (Der Tod als ein Freund) verfaßte, schreibt in der Einführung, daß er keine doktrinären Absichten habe noch irgendwelche Privatinteressen befolge. Er habe nicht den Wunsch, irgendeine Religion zu verletzen oder eine Philosophie zu untergraben. Die Frage, ob es nach dem Tode ein Leben gibt, berührt er nicht. Sein Studium gilt ausschließlich dem Tod in seiner Eigenschaft als Ende des physischen Lebens. Barbarin schließt sein Buch folgendermaßen:

Wenn der Mensch an die Schleusen des Todes kommt, weiß er, daß der vor ihm liegende Wasserspiegel höher ist als der Wasserspiegel unter ihm, und daß er den Übergang von dem einen zum anderen nicht ohne Anstrengung bewerkstelligen kann. Zwischen den beiden liegt die Schleuse, an der man einen Augenblick innehalten muß. Hier werden die Wasserspiegel unmerklich ausgeglichen. Zuerst schwebt man zwischen dem fallenden und dem steigenden Wasser. Dann werden die Schleusentore geöffnet und das Schiff fährt still und ruhig weiter.

Diese Sätze sagen sehr viel!

Es ist keine neue Idee, daß das Bewußtsein nach dem Tode fortzudauern scheint. Sie gehört auch nicht nur dem Christentum. Dieser Glaube existiert solange es menschliche Kultur gab. Die Tatsache, daß der heutige Mensch die Verbindung mit dem Leben vor der Geburt und nach dem Tode verloren hat, kann nicht der Naturwissenschaft zur Last gelegt werden, sondern muß vielmehr als ein Zeichen dafür aufgefaßt werden, daß er auf seiner Kulturstufe abgesunken ist.