Das Recht auf Entscheidung
- Sunrise 8/1968
Immer mehr scheint sich heutzutage ein Bestreben nach "Gruppen"- oder "Massen"-Denken zu bilden. Ich denke dabei an einen bestimmten Fall. Eine Freundin besuchte während einer umstrittenen politischen Kampagne die Versammlung einer Frauenorganisation. Zum Schluß der Versammlung erhob sich die Vorsitzende und sagte: "Laßt uns einstimmig geloben, diesen Vorschlag zu unterstützen." Meine Freundin, die ein offener, ehrlicher Mensch ist, erhob Einspruch und sagte, daß sie noch zu keinem Entschluß gekommen sei und mehr Zeit brauche, um die Angelegenheit zu bedenken. Da sie die einzige Gegenstimme war, wurde sie mit einem Erstaunen angesehen, das an Erschrecken grenzte. Hierbei kommt es nicht auf Recht oder Unrecht der in Frage stehenden Meinungsverschiedenheit an, sondern auf die verborgene Gefahr, die darin besteht, zu versuchen jedem einzelnen das gleiche Denken aufzuzwingen.
In extremer Form haben wir den Begriff der "Gehirnwäsche", die zum zweiten Weltkrieg führte und in bestimmten Ländern noch heute existiert. Allgemein gesehen ist jedoch erfreulicherweise das Motiv in den meisten Fällen gut. Eine Meinungsverschiedenheit tritt auf, und ein Beschluß muß gefaßt werden, was angenommen werden soll. Emotionen sind dabei unvermeidlich. Die einen wirken auf die anderen ein, möglicherweise wieder mit guten Absichten, um ein bestimmtes Ergebnis zustande zu bringen. Es besteht aber immer die Möglichkeit, daß die Anführer voreingenommen und eigennützig sind, getragen von dem Impuls, einen Kreuzzug zu führen, oder sie sind lediglich unklug. Diejenigen, die sich solchen Führern anschließen, sind den gleichen Irrtümern unterworfen, wobei noch die Einschüchterung hinzukommt - so daß "der Blinde den Blinden führt." So besteht die Möglichkeit, daß ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen, die von dem größten Verlangen, erfüllt ist, der Menschheit Gutes tun zu können, unversehens in eine Situation geraten kann, die gerade das Gegenteil bewirkt. Aber was können wir dagegen tun?
Es ist äußerst wichtig, sich an die Tatsache zu erinnern, daß jeder von uns "ein göttliches Erbteil" hat - ein spirituelles Zentrum im Innern, an das wir uns wenden können, um Führung zu erhalten. Es ist mit vielen Namen bezeichnet worden, wie zum Beispiel unser Schutzengel, "das Licht, das jedem Menschen leuchtet, der zur Welt kommt", unser "Himmelreich", von dem Meister Jesus so oft sprach. Wenn auch bei manchen dieses Bewußtseinszentrum vollständiger entwickelt oder entfaltet zu sein scheint als bei anderen, so können wir dennoch alle spirituelles Bewußtsein entwickeln, indem wir uns ständig um Erleuchtung an diese Quelle im Innern wenden, besonders in Zeiten der Unruhe. Dies bedeutet nicht, daß wir nicht von anderen lernen sollten. Wir tun dies in jedem Falle. Aber es wird uns zumindest ein Fingerzeig gegeben, was anzunehmen und was abzulehnen ist. Von den Lehrern der Weisheit wird uns gesagt, daß wir niemals irgendeinen Gedanken oder eine Meinung annehmen sollen, wenn wir sie in unserem eigenen Herzen nicht als wahr empfinden.
Shakespeare schrieb so treffend: "Vor allem dies: Sei deinem eigenen Selbste treu, und wie die Nacht dem Tag folgen muß, kannst keinem Menschen gegenüber falsch du sein." Wie wahr dies ist, besonders wenn wir "Selbst" mit einem großen Anfangsbuchstaben schreiben und damit das wirkliche oder spirituelle Selbst bezeichnen, im Gegensatz zum persönlichen, begrenzten und zuweilen selbstsüchtigen Selbst!
Glücklicherweise haben wir die Wahl, unsere Entscheidungen unabhängig zu treffen oder nicht. Selbst wenn uns dann und wann die äußeren Umstände zwingen mögen, gegen unsere bessere Einsicht zu handeln, so können wir trotzdem in uns selbst unsere private Überzeugung bewahren. Was aber, wenn wir trotz unserer guten Absichten Fehler machen? Gibt es jemanden, der noch keine Fehler gemacht hat? Wir lernen durch unsere Fehler. Sind es unsere eigenen Fehler, dann wird unser Charakter, wenn unsere Einstellung richtig ist, so gestärkt, daß wir für die Zukunft klüger sind. Sind sie aber das Ergebnis eines blinden Gehorsams einem anderen gegenüber, dann besteht die Möglichkeit, daß unser Charakter geschwächt wird, daß unser Glauben an uns selber und an andere untergraben wird, und sogar ein Sündenbock bereitsteht, den wir aus Mangel an eigener Entscheidungskraft tadeln können.
Ein guter Test ist zu fragen: "Wird dadurch ein Vorteil für mich persönlich, oder für eine bestimmte Gruppe, anstatt für die gesamte Menschheit entstehen? Oder kann es zeitweilige Unbequemlichkeit oder Bedrängnis für mich und einige andere mit sich bringen, während es am Ende die Interessen der Welt in ihrer Gesamtheit fordert?" Dies ist eine lebenswichtige Frage, und es mag Mut erfordern, sie ehrlich zu beantworten und danach zu handeln. Wenn wir mutig und aufrichtig dem selbstlosen Pfad folgen können, beeinflußt durch das Licht im Innern, welches unser eigenes höheres Selbst ist, dann, und nur dann können wir unserem Entschluß vertrauen.