Der Brückenbauer
- Sunrise 8/1968
Neulich vertraute mir ein Sozialfürsorger an, daß es seine Hauptaufgabe sei, die starke Isolierung der meisten alten Leute, die er zu betreuen hat, zu verstehen und sich damit zu befassen.
Sein Pflichtenkreis umfaßt vor allen Dingen Männer und Frauen, die man aus der ihnen vertrauten Umgebung der Elendsviertel herausgerissen und meist in Altersheime der Neustadt eingewiesen hatte. Obwohl das Aufsichtspersonal stets für sie da ist, und sie von vielen ihresgleichen umgeben sind, schienen sie doch unter den Qualen der Einsamkeit zu leiden. Die Tatsache, daß für ihre augenblicklichen leiblichen Bedürfnisse ungewöhnlich gut gesorgt wird, kann daran nichts ändern. Sie gleichen belagerten Städten, mürrischen menschlichen Festungen mit emporgezogenen Zugbrücken. Es müßte doch aber, so meinte mein Freund, eine natürliche Brücke menschlicher Verbindung geben, besonders wenn gemeinsame Umstände ihre Geschicke verknüpft hatten.
Woran scheiterte der Plan des Wohlfahrtsstaates? Oder liegt die Lösung beim Einzelnen? Kam diese Atmosphäre eines "Ghettos der alten Menschen" aus Versäumnissen der jüngeren Generation, durch die Vernachlässigung der Betagten - oder war es nur ihre eigene Schuld? Vielleicht waren sie früher zu unfreundlich gewesen und sind noch immer zu unfreundlich? Oder könnte es vielleicht sein, daß wir heute alle zu beschäftigt oder zu verbittert für Freundschaften sind? Hoffnungslos und mit den Schultern zuckend ging mein vor einem Rätsel stehender und verärgerter Freund weg, um seine nächste Aufgabe bei den "Halbtoten", wie er diese widerspenstigen Objekte seiner Fürsorge nannte, zu erfüllen.
Nachdem er gegangen war, kam mir das Wort "widerspenstig" immer wieder in den Sinn. Viele Menschen, die er besuchte, verhielten sich widerspenstig, ihm und seiner freundlichen Haltung gegenüber, weil er für sie ein "Helfer des Wohlfahrtsstaates" war, mit der Betonung auf" staatliche Unterstützung" - und nie auf dem Menschen. Dennoch fragte ich mich, ist es nicht gewöhnlich der Widerwille unsererseits, der, ganz gleich wie alt wir und in welchen Verhältnissen wir sind, das Glück der Freundschaft von uns fernhält. Freundschaft, die jemand einmal "die schönste Einrichtung des Lebens" genannt hat?
Die alte Redensart "ein Kanarienvogel unter Spatzen" beschreibt sehr genau die Empfindung, anders zu sein, nicht zur Gruppe zu gehören, in der man sich befindet. Nur zu leicht fühlt man sich fremd oder unsicher draußen, inmitten einer ungewohnten Umgebung, so wie die Fremden im Alten Testament es waren, die ausriefen: "Wie können wir das Lied des Herrn singen im fremden Land?" Die meisten von uns haben solche Zeiten der Isolierung durchgemacht. Eine innere Einsamkeit des Geistes, die uns, was immer auch die Ursache war, von unserer Gruppe trennte. In einer großen Gesellschaft können wir schrecklich allein sein, und je fröhlicher die Versammelten sind, desto deutlicher verspüren wir die Kluft, über die wir eine Brücke brauchten, um in den Bereich des anderen menschlichen Denkens zu gelangen.
Wenn auch unser menschlicher "Insel"-Zustand nie ganz aus unserem Bewußtsein verschwindet, so sind wir dennoch froh, wenn es uns möglich ist, uns anderen mitzuteilen, so daß sie mit uns durch die Bande der menschlichen Gemeinschaft verkehren können. Aber wenn wir nicht gewillt sind Freundschaft entgegenzunehmen - jene "schönste Einrichtung des Lebens" - nicht einmal von einer einzigen Person, können wir dann unseren verbitterten Zustand als Schuld der geschäftigen Zeit zuschreiben, oder darauf, daß eine staatlich gelenkte "Höflichkeit" fehlt? Sollten wir nicht lieber auf die Einstellung unseres Herzens und unserer Gesinnung achten, auf unsere Reaktionen dem gegenüber, was wir Alter nennen?
Was ist dieses "Alter", das für die Menschen in fortgeschrittenen Jahren zu den Mauern eines Ghettos werden und sie abschließen kann von den jungen Menschen? Ist es wirklich so, oder ist es nur eine Einbildung? Muß das Alter die Trennung menschlicher Wesen bedeuten? Natürlich muß das verneint werden, denn das Alter kommt zu jedem, der lange lebt, und es ist ein wesentlicher Teil menschlicher Erfahrung. Das Leben selbst hört nicht auf oder bleibt stehen, einfach nur deshalb, weil unsere Arbeitstage vorüber sind, sondern es geht weiter, um neue Lehren anzubieten. Wir können gezwungen sein zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Ruhestand zu gehen, aber wir brauchen uns nicht aus dem Leben zurückziehen, es sei denn, wir wollen nicht vital und lebendig bleiben. Es gibt tatsächlich den Jahren nach alte Leute, die jugendliche Begeisterung und jugendliches Aussehen haben, und bei manchen jungen Leuten sieht man eine alte und müde Haltung. Natürlich nimmt man mit recht an, daß es am vorteilhaftesten wäre, wenn man beide Eigenschaften, die für Jung und Alt charakteristisch sind, verschmelzen könnte. Wenn das "Alter" das jugendliche Staunen der Kinderaugen wieder einfangen und seiner Erfahrung hinzufügen könnte, würden dann nicht die Mauern der Trennung verschwinden?
Es gibt ein Wort, das wir anwenden, wenn wir von Freunden sprechen, die "uns verließen, um niemals wiederzukehren", aber an die man sich erinnert: "nostalgia", was meinem Lexikon nach "Heimweh" bedeutet. Wir benutzen es selten in dieser genauen Bedeutung, aber es ist schon richtig, wenn wir bedenken, wie oft wir uns an ein fröhliches oder hübsches Bild aus der Vergangenheit erinnern, mit einem Gefühl, das dem Heimweh sehr verwandt ist. Und dennoch, gibt es etwas Nutzloseres als ein verzehrendes nostalgia oder ein Beschäftigen mit Dingen, Ereignissen und Menschen, die vorüber und vergangen sind? Nicht jetzt, aber damals waren wir glücklich und sorglos und geliebt: In Gedanken versuchen wir in die Vergangenheit zu fliehen wie in ein geliebtes Heim.
Diese Ablehnung der Gegenwart ist für die Lebenden, jung und alt in gleicher Weise, eine Art verfrühter Sarg, der alle Wirklichkeit aussperrt, Freunde ausschließt und die günstigen Augenblicke des Heute zerstört. Wir brauchen nicht Zeit und Tränen an unsere "verlorene Jugend" zu verschwenden, an unsere männliche Stärke oder weibliche Anmut, als sei der Frühling für immer von uns gegangen. Und dennoch liegt etwas Echtes in unserem instinktiven Wunsche nach Rückkehr des Frühlings und dem neuen Anfang, den er bedeutet, denn unsere Jugend ist eine von vielen, und eines Tages werden wir wiederkehren mit erneuter Kraft und Schönheit und unser Leben wird von allen unseren Erfahrungen der Vergangenheit bereichert werden.
Junge Leute sehen gern auf die älteren als praktisch "Tote" herab, weil sie sich nicht mehr inmitten der Leidenschaften und des Getümmels befinden. Für sie bedeutet Zurückgezogenheit dasselbe wie abgestorben sein. Anstatt im Alter uns so zu sehen, wie wir das nächste Mal sein werden und es als wertvoll für die Gegenwart zu betrachten, hat die Gesellschaft eine künstliche Kluft zwischen den Generationen geschaffen. Die Alten können echte Brückenbauer werden, wenn sie entschlossen sind, wirklich in der Gegenwart zu leben, um aus der ihnen durch ihre Jahre erwachsenen Weisheit den Jungen zu helfen, ihre eigene Stärke zu finden. Umgekehrt können die Jungen auch Brückenbauer sein, wenn sie aufhören die ältere Generation als eine besondere Klasse anzusehen. Aber der größte Brückenbau wird dadurch gelingen, wenn die verbreitete Vorstellung, das "Altersproblem" sei ein Problem der abgenutzten Körper, die Pflege und Aufsicht brauchen, widerlegt wird. Wir alle sind Pilger auf derselben Reise, alle menschliche Seelen, die Liebe und Verständnis brauchen. Wir müssen untereinander, in gegenseitiger Verbundenheit, Brücken bauen, zum gegenseitigen Trost und zur gegenseitigen Unterstützung, vor allem aber für die Einigkeit, für den Bund der Menschlichkeit, der im Augenblick auch zum "Zwang" geworden ist, so sehr.
Menschliches Streben im geistigen Sinne endet nicht, wenn unsere Arbeitstage vorbei sind; und beide sind im Irrtum, sowohl die Alten, die neuen Wegen und Ideen die offene Tür verweigern, als auch die Jungen, die die Alten als unzeitgemäße Esser und Trinker betrachten. Wir sind nicht das, was wir in unserer äußeren Erscheinung darstellen, mit der Länge unseres Haares, mit dem Schnitt unserer Kleider oder mit der Musik, die wir bevorzugen, obwohl alle diese Dinge in ihrer Art von Bedeutung sind. Die Realität unseres Lebens steht in keiner Beziehung zu dieser Materie, sondern zu uns selbst als Teile der Rasse. Alles wirkt zusammen als Atome im Körper der Menschheit. Für unseren eigenen Fortschritt und für die Besserung der Welt müssen wir zwei Brücken schlagen: erstens die Brücke der Freundschaft und des Verstehens, die zur Verwirklichung unserer Einheit führt, zweitens eine Brücke, um uns dem Wirklichen zu nähern, dem geistigen und ewigen Gehalt des Daseins. So wie es uns gelingt, die Wahrheit über uns selbst zu erkennen, werden wir es immer natürlicher und einfacher finden, das Beste im anderen wahrzunehmen. Dann werden wir auf dem rechten Wege sein, wirkliche Brückenbauer zu werden, überall!