Die ersten Früchte des Aufbruchs
- Sunrise 4/1968
Der ökumenische Geist oder die Möglichkeit, eine Meinung allgemeiner und universaler auszudrücken, verbreitet sich immer mehr in der Welt. Ein Beweis dafür ist das kürzlich beendete ökumenische Konzil in Rom. Durch die Bewertung, die ihm beigemessen wurde, und durch die von ihm durchgeführten Überprüfungen erweckte das Konzil manche große Hoffnung, unter anderem auch auf die Vereinigung der Christen. Jene, die der Meinung sind, daß Entfremdung für eine Zeit, die zu Ende geht, symbolisch und kennzeichnend ist, sehen in der Forderung dieser offenen Atmosphäre die Ankunft einer neuen Zeit, einer Zeit, die durch Wohlwollen, Verstehen und Zusammenarbeit gekennzeichnet ist.
Die Erfolge des Konzils müssen vom Standpunkt der nachfolgenden Entwicklungen aus betrachtet und bewertet werden. Heute lassen diese Entwicklungen noch keine organische Verschmelzung christlicher Körperschaften in unmittelbarer Zukunft erkennen, noch deuten sie eine Revision der Standardlehren an, die eine Vereinigung möglich machen würde. Diese Lage der Dinge veranlaßt den überlegenden Menschen, über die Bedeutung des ökumenischen Geistes und über die Art, in der er offenbar wurde, nachzudenken. Hat dieser Geist wirklich die Gärung erzeugt, die die Unruhe und das Unbefriedigtsein in den traditionellen religiösen Normen hervorrief? Oder hat diese Gärung selbst, ganz gleich, was sie ist oder wo sie ihren Ursprung hat, ein stärkeres Verlangen nach umfassenderen Begriffen geschaffen?
Augenscheinlich kann niemand diese Frage endgültig entscheiden. Das ist auch gar nicht notwendig. Aber jeder von uns kann an einer Form des ökumenischen Ausdrucks teilnehmen, die ihm entspricht, und so die Phase des ökumenischen Privilegiums bekräftigen, die in ihrer Art ausschließlich die seine ist. Das ist meiner Ansicht nach eine der ersten Früchte vom Baum des durch Vatikan II angeregten, wenn nicht inspirierten weitherzigen Geistes: Entwicklung auf der individuellen Ebene. Das betont die Wichtigkeit individuellen Handelns und setzt dieses voraus. Diese Tätigkeit auf der niederen Stufe wird in der Tat als hauptsächliches, grundlegendes Erfordernis für jeden organisatorischen Erfolg, ob geistlich oder weltlich, betrachtet.
Wer sollte den Versuch machen, die Verständigung zu erweitern? Nur jene, die den hervorstechenden Tatsachen des Tauziehens zwischen den klerikalen Elementen und den Laien innerhalb der Kirche Beachtung schenken? Oder jene Außenstehenden, die auf die Unmöglichkeit verweisen, die ganze Menschheit unter ein Banner zu versammeln? In Wirklichkeit hat jeder einige Befähigungen, sich in ökumenischer Weise auszudrücken. Besonders Menschen, die sich angesichts der ungünstigen Umstände bemühen, den Meinungsaustausch als Verbindungsglied zwischen einzelnen aufrecht zu erhalten, die sonst durch weitreichende Verschiedenheiten voneinander getrennt sind.
Ich habe zum Beispiel einen Fundamentalisten als Freund, der gelegentlich mit einer Aufstellung von Geboten aus seiner speziellen Seelenrettungsstation zu mir kommt. Ich kann die Überzeugung dieses Fundamentalisten ohne weiteres als Zusatz zu meiner eigenen, davon grundlegend verschiedenen, in Einklang bringen und tue es auch, denn es zeigt eine Geste der Hochachtung, ein Zeichen der Brüderlichkeit zwischen jemandem, der ein Amt im Dienste des Altars bekleidet und einem, der es nicht tut. Das ist zweifellos eine der ersten Früchte des Aufbruchs.
Es ist hilfreich, das bewährte Sprichwort im Gedächtnis zu behalten, daß, "wenn der Schüler so weit ist, auch der Lehrer bereit ist." Denn der Schüler des Lebens und all dessen, was damit verbunden ist, wird es nicht leicht haben, die Verbindung aufrecht zu erhalten, wenn es sich dabei um außerordentlich dogmatische Personen und Umstände handelt. Doch ganz abgesehen davon wird er diese ausgetauschten Erfahrungen interessant und wertvoll finden. Andererseits ist die Begegnung der Ansichten von Menschen verhältnismäßig einfach, wenn es sich um Gemüter handelt, die für eine offene Diskussion über spirituelle Gegenstände aufnahmefähig sind.
Kürzlich erklärte mir ein Arbeitskollege, daß er aus seiner traditionellen religiösen Gemeinschaft ausgetreten sei, um ein Lehrsystem anzunehmen, das seinen Bedürfnissen besser entspricht. Er fand, daß ihn die orthodoxe Theologie nicht mehr befriedigte. Unsere Unterhaltung kam durch Einwände, die zum Widerspruch reizten, zustande. Wir sprachen über die Ursprünge des Christentums, einschließlich der alten Mysterienschulen und solcher Gruppen wie die Gnostiker. Dabei stellten wir fest, daß die Gnostiker ohne gerechte Untersuchung mitsamt ihren Lehren geächtet und nach einer Art theologischem Sibirien verbannt wurden. Wir meinten, daß es durchaus möglich sei, daß die herrschende Erregung in den überlieferten Religionen zum Teil die Folge zu vieler Ächtung und zu wenig gerechter Prüfung ist. Es ist durchaus möglich, daß es sich noch erweist, daß die Gnostiker und andere, die zu ihrer Zeit und ihrem Wissen entsprechend nach der Wahrheit suchten, keine Feinde der Kirche, sondern ihre besten Freunde waren. Es ist also denkbar, daß die gegenwärtige Ablehnung der Orthodoxie die Wirkung besseren Verstehens der einzelnen untereinander ist.
Zweifellos kann und wird es für die Menschheit vom symbolischen Baum, der die ersten Früchte des Aufbruchs trägt, reichere Ernten geben. Die Aussicht auf solche Ernten dient dazu, uns in diesen Übergangsjahren zu wappnen und zu stärken. Dieses Wappnen und Stärken muß nur noch dadurch ergänzt werden, indem man eindeutig betont, daß jedem einzelnen das Recht und die Freiheit zusteht, die Wahrheit für sich selbst herauszufinden. Das ist der wahre ökumenische Geist, der die Menschen von ihren Befürchtungen, ihren Vorurteilen und ihrem Glauben, getrennt zu sein, befreien kann.
William Ellery Channing hat all denen, die größere Energie besitzen, den Arbeitern im Weinberg des Aufbruchs, einen entsprechenden Leitspruch gegeben, dem sie zu jeder Zeit folgen können:
"Jenes Gemüt nenne ich frei, das streng auf seine eigene Freiheit achtet, das sich davor bewahrt, in anderen aufzugehen, das die Herrschaft über sich selbst edler empfindet als die Herrschaft über ein weltliches Imperium."