Auf der Suche nach der tieferen Bedeutung
- Sunrise 3/1968
Ein Artikel von Billy Graham erregte vor einiger Zeit meine Verwunderung. Er sagte in einem Atemzug Gott sei sowohl unendlich als auch persönlich. Als er dann gefragt wurde, ob er Gott kenne, erwiderte er in aufrichtiger Bescheidenheit, daß er das Gefühl habe, ihn zu kennen. Das gleicht dem Boxer, der seinen Gegner kampfunfähig gemacht hat, und dann zu den Reportern sagt: "Gott war auf meiner Seite!" Ist der Göttliche Schöpfer, der alle Himmel geschaffen hat, der alle Weisheit, Mitleid und Güte ist, ohne dessen Wille kein Sperling vom Dache fällt, das gleiche Wesen, das der einen Armee zum Siege verhilft und der anderen eine Niederlage bereitet, das einen Sterblichen verdammt Hungers zu sterben, während es anderen erlaubt zu leben? Wo liegt in einem so willkürlichen System die Gesetzmäßigkeit? Ich begreife den Modus nicht: wie der unendliche Geist ohne Zwischenglieder auf die endliche Materie wirken kann.
Wenn ich es mir recht überlege, so kann ich nur zu dem Schluß kommen, daß Gott als der Grosse Vater ein Bild ist, das wir im Verlauf der Jahrhunderte in unserem Gemüt geschaffen haben und das außerhalb unseres Gemütes kein wirkliches Leben hat. Ein solcher Gott kann deshalb, soweit das Universum in Betracht kommt, nicht gestorben sein, denn er kann niemals gelebt haben. Das bedeutet nicht, daß das Universum nicht von der Gottheit beseelt wird, sondern vielmehr, daß die Vorstellung von Gott als einer Person ungeeignet ist, das von der Wissenschaft entfaltete, so gut wie unendliche Bild des Kosmos auszufüllen. Frühere Wissenschaftler wie Newton, Galilei und andere sahen Gott in Allem. Für Newton waren die Planeten leuchtende Gottheiten - vielleicht weil er von Plato beeinflußt war.
Die Kirche schlug einen anderen Weg ein: sie schloss durch Aquino mit Aristoteles Frieden. Nach und nach bahnte sich eine unheilvolle Spaltung an, ein Dualismus in unserem Denken, der später von Descartes formuliert wurde und der Wissenschaft erlaubte von der Basis auszugehen, daß Gott keinen wesentlichen Einfluß auf die sichtbare Welt habe. Die Wissenschaftler glaubten sich berechtigt, die Welt so zu erklären, als ob Er (eigentlich) überhaupt nicht existiere. Wenn Gott tatsachlich tot ist, wie viele anscheinend glauben, dann ist Er wahrscheinlich deshalb gestorben.
Dieser Dualismus bescherte dem Christentum einen Gott, der für jede nachfolgende Generation abstrakter wurde: die religiöse Theologie, die eine Beschreibung des hierarchischen Aufbaus und der Arbeitsprozesse des Universums war, wurde zu einem bloßen Wortspiel für gelehrte Gemüter, ohne jegliche Verbindung mit der Welt, die wir sehen und kennen. Während die Wissenschaft fortfuhr, greifbare Vorteile zu schaffen und logische Erklärungen zu entfalten, blieben die Prediger dabei, weiterhin nachdrücklich zu versichern, daß "irgendwo da droben" Gott sei, der geschickt die Fäden Seiner Schöpfung in der Hand hält und durch unsere Gebete angefleht werden kann.
Besonders in den Vereinigten Staaten versuchten viele der modernen christlichen Bewegungen, göttliche Dinge objektiver zu machen, indem sie die Gestalt von Jesus in den Vordergrund brachten: Erlösung durch Christus. Glaube und sei erlöst! Glaube an Jesus und du wirst von Sünde rein gewaschen werden! Auch das Heilen wurde in den Vordergrund gestellt: Der Glaube an Gott wird dich gesund machen! In diesem Zusammenhang werden Jesus und Gott in den Gemütern und Herzen von Millionen, die sich so vollständig hingeben, sehr wirklich und lebendig. Und eine solche "Erweckung" kann tatsächlich eine tiefe Wirkung auf das Leben eines Menschen haben.
Es bleibt aber die Frage offen, wieviel davon wirklich die Folge der Aspiration und der Güte eines Menschen ist, die durch eine erhabene Gestalt oder ein erhabenes Ideal ins Leben gerufen und in den Brennpunkt gerückt wurden. Können wir bestimmt sagen, ob es Jesus oder Gott war, der die Verwandlung bewirkte? Warum nicht ebensogut Allah oder Buddha? Oder die vergeistigende Kraft der sich wieder erhebenden Natur eines Menschen.
Aber wenn Billy Graham sagte, daß selbst ein guter und heiliger Mensch in die Hölle fährt, wenn er nicht Jesus als seinen persönlichen Erlöser annimmt, argwöhnt man, daß ein solcher Erlöser bestimmt nicht das Mitleid und die Weisheit selbst, sondern eine Schöpfung der Theologen ist. Das gleiche gilt im Falle jedes Fanatikers irgendeines Glaubens. Trotzdem sind Jesus und Gott, ganz gleich wie man sie sich vorstellt, mächtige Realitäten im Leben ergebener Christen, und die Welt wäre ohne sie sicherlich ärmer. Wenn daher jemand sagt: "Gott ist tot", weiß man kaum, was man denken soll. Für viele ist er offensichtlich sehr lebendig!
Eines ist gewiß, wenn wir mit Gott die undefinierbare Quelle meinen, die die flammenden Nebel belebt, in denen alle Wesen leben, sich bewegen und ihr Dasein haben, dann kann ein solcher "Gott" nicht tot sein. Was sich eigentlich ereignete, ist, daß unsere beschränkten Ideen aufgehört haben von Nutzen zu sein und nun sterben und, wie wir hoffen, einem umfassenderen Verständnis vom Göttlichen Raum geben. Und das scheint sich heute in der ganzen Verwirrung und in dem sich Abwenden von "kirchlichen" Dingen zu ereignen. Abgenützte alte Ideen sterben und kraftvollere Begriffe werden geboren.
Die herkömmliche Anschauung über Gott hat ihre philosophische Gültigkeit verloren, und ich bezweifle, daß sie jemals mit der von der Wissenschaft so viele Jahrzehnte erforschten angenommenen "Schöpfung" in Einklang gebracht werden kann, obgleich der Gott des ursprünglichen Christentums bestanden haben mag, denn er wurde nicht als allein "da droben" dargestellt. Als höchster Hierarch war er von Heeren geringerer Gottheiten, von Thronen, Mächten, Seraphim und Cherubim etc. umgeben und wirkte durch sie - eine richtige Jakobsleiter von Gottheiten auf verschiedenen Stufen des Selbstausdrucks, ein von Göttern aller Arten überfließendes Universum. Aber diese wurden alle von der Zeit, den Konventionen und von den Konzilen verdrängt, und übrig blieb ein sehr nebelhaftes Prinzip: Göttliche Elektrizität sozusagen, um universale Bewegung, Ordnung und Harmonie zu schaffen und aufrecht zu erhalten, aber ohne Drähte, Generatoren, Motoren, Transformatoren oder Mechaniker. Zwischen dem Urheber des Alls, das Ist, und seiner Schöpfung besteht (philosophisch gesprochen) eine gähnende Kluft. Die Wissenschaft hat die Unermeßlichkeiten des Raumes enthüllt und verlangt nach einem Gott, der groß genug ist, sie zu beseelen und zu beleben, mit genügend Helfern die unendlichen Vorgänge, die stattfinden, zu überwachen. Das Atom wurde gespalten und in ihm wurden unermeßliche Kräfte und unbegrenzbarer Raum gefunden. Ist das auch Gott? Die größten Wunder, Schönheit und Majestät des Kosmos, die wir frei von verstümmelnden Bezeichnungen verstehen müssen, umgeben uns.
Jede Rose, jeder Stern und jedes Atom ist erfüllt von einem göttlichen Leben. Gibt es zwischen dem strahlenden Wesen, das unsere Sonne ist, und der menschlichen Familie auf diesem kleinen Planeten nicht Heerscharen höherer Wesenheiten, Intelligenzen, deren Leben und Tätigkeit die Gesetze und Funktionen unseres sichtbaren Kosmos sind?