Ein Licht vor unseren Füßen
- Sunrise 3/1968
Die Goldene Regel ist universal. Alle Religionen beruhen darauf. Sie ist für den Menschen, unabhängig von Rasse und Zeitalter, eine Grundwahrheit. Aber in unserer Zeit, in der die Religion ihren vitalen Gehalt verloren zu haben scheint, in der der Intellekt mit seinen eigenen Interessen allzusehr beschäftigt ist und in der der Persönlichkeit ein falscher Wert beigemessen wird, wurde diese alte Regel der Lebensführung ein fremdartiges, unerreichbares Ideal - alles andere als ein praktischer Führer im Leben. So groß ist das Durcheinander in bezug auf ihre Bedeutung, daß einige wenige ernsthaft glauben, ihre Befolgung würde zur Auflösung der Gesellschaft führen. Tatsächlich wurde die Lehre "jeder-für-sich" vor gar nicht langer Zeit als ein wirtschaftliches Allheilmittel verkündet, aber ihre verheerenden Folgen wurden augenscheinlich. Wenn es zynische Individuen gibt, die den Egoismus zu einem Evangelium erheben möchten, so werden sie enttäuscht werden. Der Mensch, der nur das Ich anbetet, schneidet sich selbst von dem vorwärtsdrängenden Strom ab. Er betritt einen Pfad, der, wenn er beharrlich befolgt wird, dazu führt, daß er zusammen mit dem Objekt seiner Anbetung - er selbst - isoliert dasteht. Ein Verhängnis, zu furchtbar, um es sich vorzustellen!
Warum ist die Goldene Regel so weit verbreitet? Warum wurde sie von den Weisen aller Zeitalter als der Grundstein des spirituellen Lebens hervorgehoben? Was das Christentum anbetrifft, so wurden viele innere Lehren vergessen und die Folge ist, daß die Goldene Regel in einem sentimentalen Licht erscheint, als idealer Rat, als ein Gebot Gottes, das den Gesetzen dieser Erde hinzugefügt wurde, vornehmlich für jene gedacht, die auf die Annehmlichkeiten der Welt verzichtet haben. Von den übrigen wird sie völlig mißachtet! Doch weder außerhalb des Christentums noch innerhalb seiner Reihen wird von jenen nicht versäumt auf ihren Wert hinzuweisen, die ernstlich bemüht sind, die Harmonie zwischen den Religionsgemeinschaften und den Nationen zu fördern und die die Goldene Regel auf diese Weise als ein praktisches Heilmittel für unsere sozialen Nöte betrachten.
Die Notwendigkeit für ein zusammenarbeitendes Bemühen wurde niemals mehr erkannt, aber die Schwäche, die diesen Anstrengungen innewohnt, beruht auf der Tatsache, daß so vieles unserer Wissenschaft, unserer Philosophie, unserer Wirtschaft und selbst unserer humanitären Theorie nach verschiedenen Richtungen strebt. Der Grund dafür liegt in der Überbewertung der Persönlichkeit und des Materialismus. Unsere Philosophie stimmt mit unserer Ethik nicht überein. Wir finden keine vernünftige und logische Begründung für die Vorschriften der Bergpredigt. Um diese zu verschaffen, müssen wir die menschliche Natur anders betrachten.
In seiner vertrauten historischen Form enthält das Christentum Bestandteile, die aus zahlreichen Zentren mystischer Philosophie stammen, die vor nahezu zweitausend Jahren in Alexandrien, Antiochien und anderen Orten existierten. Um seinen wesentlichen Charakter zu enthüllen, sollten wir die Lehrsätze der Gnostiker, der Nazarener, Essener und anderer studieren, deren Lehren nach und nach aus dem Christentum gestrichen wurden. Die Dinge wurden so entstellt, daß es schien, als seien diese alten Philosophien ketzerisch, die aus verschiedenen fremden Elementen, zum Beispiel aus dem Griechischen und dem Syrischen in die christlichen Evangelien eingefügt waren. Aber ein wenig Forschen offenbart, daß es die wichtigste Lehre der frühesten Christen war, daß der Mensch eine Emanation der höchsten Gottheit ist, und deshalb ihm durch eine Hierarchie himmlischer Mächte alle göttlichen Eigenschaften übertragen worden waren. Einige Überbleibsel dieses Begriffes sind noch in unserem Neuen Testament in den Worten wie Engel, Erzengel, Fürstentümer, Herrschaften und Throne enthalten - alles Übersetzungen griechisch-gnostischer Ausdrücke.
Der Mensch wurde so als eine in verschiedene Hüllen gekleidete Gottheit betrachtet, von denen die äußerste sein physischer Körper ist. Folglich sind wir bipolar, Gott und Tier zugleich. Wir haben teil an der Eigenschaft beider, während unser selbstbewußtes Gemüt zwischen beiden schwebt. Wir werden beständig aufgefordert, das Tier zu zähmen, indem wir uns mit dem Göttlichen in uns verbinden. Das bedeutet, daß zwei Arten von Energien durch uns wirken - die des instinktiven Selbsterhaltungstriebes, der in den Tieren natürlich und richtig ist, der im Menschen aber üblen Charakter annehmen kann, wenn er durch den Intellekt angeregt wird. Die andere Gruppe in uns wirkender Energien entströmt dem göttlichen Teil in uns. Wenn Jesus oder Buddha oder irgendein anderer Lehrer das Gesetz der Liebe predigt, dann weist er einfach auf die einzige Regel für die Lebensführung des Menschen hin, der er folgen muß, wenn er in Übereinstimmung mit seiner eigenen wahren Natur leben möchte.
Die Weisheitsreligion der ganzen archaischen Welt glaubte, - und die wissenschaftliche Entdeckung bekräftigt es täglich - daß der Mensch ein Teil des Kosmos ist, der ausschließlich aus lebendigen Wesen vieler und verschiedener Arten besteht und, daß sich diese Wesenheiten miteinander verschmelzen, so daß das Bewußtsein des Menschen und das des Universums einander durchdringen. Das ist etwas ganz anderes als die Vorstellung, daß jeder Mensch eine für sich erschaffene Seele ist, auf einer toten Erde umherwandernd, die als eine Art Spielplatz für ihn geschaffen wurde. Eine solche radikale Veränderung in unseren Begriffen wirft ein vollkommen neues Licht auf die Bedeutung der Goldenen Regel. Sie läßt uns begreifen, wie unmöglich es für irgend jemand ist, für sich allein zu handeln, zu fühlen oder zu denken; er muß notwendigerweise andere Menschen beeinflussen und diese müssen auf ihn einwirken.
Wenn diese veredelnden Wahrheiten heute so unwirksam zu sein scheinen, so vollkommen mißachtet, so sollte dies kein Grund zu übermäßiger Verzagtheit sein. Was auch immer für Fehler gemacht worden sein mögen und in der Praxis noch gemacht werden, die erhabenen Prinzipien sind verblieben, - und werden immer verbleiben - als ein Licht vor unseren Füßen die ganzen ungezählten Zeitalter hindurch.